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Verfahrensgang

LG Braunschweig, Beschl. vom 20.11.2018 – 5 O 2886/16
OLG Braunschweig, Beschl. vom 10.06.2020 – 3 W 6/18, IPRspr 2020-268
BGH, Beschl. vom 04.05.2021 – II ZB 30/20
BGH, Berichtigungsbeschl. vom 24.06.2021 – II ZB 30/20

Rechtsgebiete

Zuständigkeit → Gerichtsstandsvereinbarung, rügelose Einlassung
Juristische Personen und Gesellschaften → Gesellschaftsstatut, insbesondere Rechts- und Parteifähigkeit

Leitsatz

Der ausschließliche Gerichtsstand des § 32b ZPO wird bei einer rügelosen Einlassung nach Art. 26 I 1 EuGVVO verdrängt.

Gemäß Art. 26 EuGVVO ist - im Gegensatz zu § 39 ZPO - keine Einlassung in der mündlichen Verhandlung erforderlich; es genügt jede Verteidigungshandlung, die auf eine Klageabweisung zielt. Ist das schriftliche Vorverfahren gemäß § 276 I ZPO angeordnet worden, stellt die schriftliche Klageerwiderung bereits eine Einlassung im Sinne des Art. 26 EuGVVO dar; erfolgt diese rügelos, so führt bereits dies zur stillschweigenden Prorogation nach Art. 26 I 1 EuGVVO.

Bei der Beurteilung der Rechtsfähigkeit einer ausländischen juristischen Person ist grundsätzlich entsprechend der Sitztheorie das Recht des Staates maßgebend, in dem die juristische Person ihren Verwaltungssitz hat. Eine von diesem Grundsatz abweichende Beurteilung kann geboten sein, wenn in staatsrechtlichen Verträgen besondere Regelungen enthalten sind. Insbesondere bei einer juristischen Person, die ihren satzungsgemäßen Sitz in einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union hat, ist die Frage der Rechtsfähigkeit nach dem Recht des Staates zu beurteilen, in dem sie gegründet wurde.

Die Prozessfähigkeit ausländischer Parteien richtet sich grundsätzlich nach dem Prozessrecht ihres Heimatstaates. Für die Frage nach der organschaftlichen Vertretung einer ausländischen juristischen Person ist auf das Sitz- oder Gründungsrecht abzustellen. [LS der Redaktion]

Rechtsnormen

AEUV Art. 267
BGB § 823; BGB § 826
EGBGB Art. 7
EuGVVO 1215/2012 Art. 1; EuGVVO 1215/2012 Art. 4; EuGVVO 1215/2012 Art. 5; EuGVVO 1215/2012 Art. 7; EuGVVO 1215/2012 Art. 17; EuGVVO 1215/2012 Art. 24; EuGVVO 1215/2012 Art. 26; EuGVVO 1215/2012 Art. 66
EUGVVO 44/2001 Art. 24
EuGVÜ Art. 18
KapMuG § 8; KapMuG § 11
LugÜ Art. 18
WpHG § 37b; WpHG § 37c
ZPO § 32a; ZPO § 32b; ZPO § 39; ZPO § 40; ZPO § 50; ZPO § 51; ZPO § 55; ZPO § 56; ZPO § 252; ZPO § 276; ZPO § 438; ZPO § 567

Sachverhalt

Die Kläger machen als Kapitalanleger Schadensersatzansprüche gegen die Beklagte wegen angeblich pflichtwidrig unterlassener Ad-hoc-Mitteilungen in Zusammenhang mit dem sogenannten VW-Dieselskandal geltend. Gegenstand sind behauptete Schäden in VW-Stammaktien, VW-Vorzugsaktien, PSE-Vorzugsaktien, Audi-Aktien sowie Anleihen/Bonds. Von den insgesamt noch 261 Klägern aus 31 unterschiedlichen Staaten haben 48 ihren Sitz in Deutschland und 213 außerhalb Deutschlands.

Mit Beschluss vom 20.11.2018 hat das LG Braunschweig das Verfahren gemäß § 8 I KapMuG für 213 Kläger im Hinblick auf das durch den Vorlagebeschluss des LG Braunschweig vom 5.8.2018 - 5 OH 62/16 - eingeleitete Musterverfahren vor dem Senat (3 Kap 1/16) ausgesetzt; für 66 dieser 213 Kläger hat es das Verfahren zudem im Hinblick auf das durch den Vorlagebeschluss des LG Stuttgart vom 6.12.2017 - 22 AR 2/17 Kap - eingeleitete Musterverfahren vor dem OLG Stuttgart (20 Kap 3/17 und 4/17) ausgesetzt. Bezüglich der übrigen Kläger hat das LG Braunschweig eine Entscheidung über die Aussetzung vorerst zurückgestellt. Mit ihrer sofortigen Beschwerde vom 5.12.2018 wendet sich die Beklagte gegen die Aussetzung des Verfahrens für 203 der 213 Kläger im Hinblick auf das Musterverfahren vor dem OLG Braunschweig sowie gegen die Aussetzung des Verfahrens für 33 der 66 Kläger im Hinblick auf das Musterverfahren vor dem OLG Stuttgart. Das LG hat der Beschwerde mit Beschluss vom 9.8.2019 teilweise abgeholfen. Die Beklagte verfolgt nach der Teilabhilfe die Aufhebung der Aussetzung auch hinsichtlich der verbleibenden 52 Kläger.

Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]II.

[2]Die gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 KapMuG, § 567 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 252 ZPO zulässige Beschwerde ist teilweise begründet.

[3]Hinsichtlich der deutschen Kläger ist der Rechtsstreit zunächst nur insoweit auszusetzen, als seine Entscheidung von den Feststellungszielen des Musterverfahrens abhängt, die die Frage der örtlichen Zuständigkeit des Landgerichts Braunschweig betreffen. Ob im Hinblick auf den hierzu ergangenen Teil-Musterentscheid des Senats vom 12. August 2019 - 3 Kap 1/19 - eine weiter gehende Aussetzung auch auf die Feststellungsziele zum materiellen Recht erfolgen soll, hat das Landgericht nach erneuter Prüfung zu entscheiden (1 und 3 b).

[4]Hinsichtlich der ausländischen Kläger erfolgt keine Aussetzung auf die Feststellungsziele zur örtlichen Zuständigkeit, weil diese durch rügelose Einlassung nach Art. 26 Abs. 1 EuGVVO seitens der Beklagten begründet worden ist (2). Vor einer Aussetzung auf die materiell-rechtlichen Feststellungsziele sind weitere Prüfungen zur Abhängigkeit im Sinne von § 8 Abs. 1 KapMuG durchzuführen (3 a bb und c).

[5]1. ... 2. Die oben aufgezeigte Vorgehensweise ist aber nur auf die Kläger anzuwenden, die ihren Sitz in Deutschland haben. Bezüglich der ausländischen Kläger greift die Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Neufassung) (im Folgenden: EuGVVO; zum Teil auch als Brüssel-Ia-VO bezeichnet) (a). Für die ausländischen Kläger ergibt sich die internationale und örtliche Zuständigkeit des Landgerichts Braunschweig jedenfalls aus Art. 26 Abs. 1 EuGVVO (b und c); § 32b ZPO wird dadurch verdrängt, so dass die Entscheidung des Rechtsstreits insoweit nicht von den Feststellungszielen zur Zuständigkeit gemäß § 32b ZPO abhängt (d). Ob sich die internationale und gegebenenfalls örtliche Zuständigkeit hier auch aus weiteren Vorschriften der Verordnung ergibt, kann dahinstehen (e).

[6]a) Die EuGVVO ist bezüglich der ausländischen Kläger anwendbar.

[7]Das Zuständigkeitssystem der EuGVVO kommt grundsätzlich dann zur Anwendung, wenn die Beklagte - wie hier - ihren Sitz in einem der Mitgliedstaaten hat, Art. 4 Abs. 1, 5 Abs. 1 EuGVVO (Geimer, Int. Zivilprozessrecht, 8. Auflage 2020, Rn. 1874v m. w. N.; Gebauer, in: Wieczorek/Schütze, ZPO, Band 13/2, 4. Auflage 2019, Art. 4 Brüssel-Ia-VO, Rn. 1, 5). Dies reicht als Anknüpfungspunkt aus, auch wenn der Kläger seinen Sitz in einem Drittstaat hat (vgl. EuGH, Urteil der 6. Kammer vom 13. Juli 2000 - C-412/98 - [Group Josi], NJW 2000, S. 3121, 3132 [Rn. 60]). Daneben muss ein „grenzüberschreitender Bezug“ oder „Auslandsbezug“ des Sachverhalts vorliegen (EuGH, Urteil der 1. Kammer vom 17. November 2011 - C-327/10 - [Hypotecní banka], NJW 2012, S. 1199 [1200 Rn. 29]; OLG Frankfurt, Beschluss vom 5. August 2010 - 21 AR 50/10 (IPRspr 2010-233) -, NZG 2011, S. 32 m. w. N.; Gebauer, in: Wieczorek/Schütze, ZPO, Band 13/2, 4. Auflage 2019, Art. 4 Brüssel-Ia-VO, Rn. 24 m. w. N.), der sich hier bezüglich der ausländischen Kläger durch deren Sitz außerhalb Deutschlands ergibt.

[8]Bei der hiesigen Schadensersatzklage handelt es sich auch um eine „Zivil- und Handelssache“ im Sinne des Art. 1 Abs. 1 Satz 1 EuGVVO (so im Ergebnis auch OLG Stuttgart, Beschluss vom 29. Oktober 2019 - 1 U 204/18 (IPRspr 2019-73) -, juris, Rn. 45 = WM 2019, S. 2359 [2361]). Der Begriff der „Zivil- und Handelssachen“ im Sinne der EuGVVO ist autonom auszulegen - also ohne Rücksicht auf die nationale Rechtsordnung des Forums oder das materiell anwendbare Recht (Geimer, in: Zöller, ZPO, 33. Auflage 2020, Art. 1 EuGVVO, Rn. 15 m. w. N.; Wagner, in: Stein/Jonas, ZPO, Bd. 10, 22. Auflage 2011, vor Art. 1 EuGVVO [a.F.], Rn. 31). Nach Art. 267 AEUV ist der Europäische Gerichtshof zur einheitlichen Auslegung der EuGVVO berufen (Geimer, in: Zöller, ZPO, 33. Auflage 2020, Art. 1 EuGVVO, Rn. 5). Nach diesem Maßstab sind Streitigkeiten zwischen Privatpersonen - seien es natürliche oder juristische - stets Zivilsachen im Sinne der EuGVVO (E. Peiffer/M. Peiffer, in: Geimer/Schütze, Int. Rechtsverkehr, 58. EL Oktober 2019, VO (EG) 1215/2012, Art. 1, Rn. 23 m. w. N. in Fn. 30).

[9]Die (Neufassung der) EuGVVO ist zeitlich gemäß [Art.] 66 Abs. 1 EuGVVO unter anderem auf Verfahren anzuwenden, die am 10. Januar 2015 oder danach eingeleitet worden sind, also auch auf das hiesige Verfahren (vgl. OLG Stuttgart, Beschluss vom 29. Oktober 2019 - 1 U 204/18 (IPRspr 2019-73) -, juris, Rn. 45 = WM 2019, S. 2359 [2361]).

[10]b) Ausschließliche Zuständigkeiten gemäß Art. 24 EuGVVO (betreffend zum Beispiel dingliche Rechte an oder Miete/Pacht von unbeweglichen Sachen, Binnenstreitigkeiten von Gesellschaften) und gemäß Art. 17 EuGVVO (Verbrauchersachen) sind hier nicht gegeben, selbst wenn unter den Klägern Verbraucher im Sinne des deutschen Zivilrechts sein sollten: Verbrauchersachen im Sinne des Art. 17 EuGVVO sind nur solche, bei denen ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag, den ein Verbraucher zu nichtberuflichen oder nichtgewerblichen Zwecken geschlossen hat, Verfahrensgegenstand sind. Für außervertragliche Ansprüche von Verbrauchern bleiben die allgemeinen Regelungen anwendbar (Paulus, in: Geimer/Schütze, Int. Rechtsverkehr, 58. EL Oktober 2019, VO (EG) 1215/2012, Art. 17, Rn. 9 m. w. N.; Bachmann, IPRax 2007, S. 77 [80] m. w. N.). Etwas anderes gilt nur, wenn etwa die deliktische Haftung eine so enge Verbindung mit dem Vertrag aufweist, dass sie nicht von ihm getrennt werden kann (Dörner, EuGVVO, 7. Auflage 2017, Art. 17, Rn. 7; BGH, Urteil vom 5. Oktober 2010 - VI ZR 159/09 (IPRspr 2010-184b) -, NJW 2011, S. 532 [535 Rn. 26] zu Art. 13 LugÜ a.F.).

[11]Die hier relevanten Ansprüche aus §§ 37b, 37c WpHG a.F., § 823 Abs. 2 BGB oder § 826 BGB sind keine vertraglichen Ansprüche in diesem Sinne: Bei den Ansprüche aus §§ 37b, 37c WpHG a.F. handelt es sich entweder um eine Vertrauenshaftung oder um deliktische Ansprüche (vgl. z.B. Fuchs, WpHG, 2. Auflage 2016, § 37c, Rn. 5 m. w. N. zum Meinungsstand), bei anderen um deliktische Ansprüche. Beide stehen nicht in engem Zusammenhang zu irgendeinem Vertrag zwischen dem jeweiligen Kläger und der Beklagten, da die Kläger die Aktien regelmäßig auf dem Sekundärmarkt und nicht direkt vom Emittenten erworben haben (so auch Bachmann, IPRax 2007, S. 77 [80 f.]).

[12]c) Zum Tragen kommt hier aber jedenfalls die Zuständigkeit infolge rügeloser Einlassung der Beklagten im Sinne des Art. 26 Abs. 1 EuGVVO. Dieser Artikel greift unabhängig davon, ob der jeweilige Kläger seinen Sitz in einem (anderen) Mitgliedstaat oder einem Drittstaat hat (Geimer, Int. Zivilprozessrecht, 8. Auflage 2020, Rn. 1874e m. w. N.; Wagner, in: Stein/Jonas, ZPO, Bd. 10, 22. Auflage 2011, Art. 24 EuGVVO [a.F.], Rn. 14 a.E.; Weller, in: Wieczorek/Schütze, ZPO, Band 13/2, 4. Auflage 2019, Art. 26 Brüssel-Ia-VO, Rn. 3: mitgliedstaatliches Gericht genügt sogar, wenn keine Partei ihren Sitz in einem Mitgliedstaat hat). Der Artikel gilt damit auch für Kläger mit Sitz außerhalb der Europäischen Union.

[13]aa) Der Tatbestand der rügelosen Einlassung im Sinne des Art. 26 EuGVVO ist hier bezüglich der ausländischen Kläger auch erfüllt; insbesondere bedarf es dazu keiner Einlassung in der mündlichen Verhandlung. Die von den Klägern im Schriftsatz vom 9. März 2020 dagegen angeführte Ansicht von Patzina (in: MüKo ZPO, 5. Auflage 2016, § 39, Rn. 15) entspricht keinesfalls der herrschenden Ansicht in Rechtsprechung und Literatur. Danach werden an die rügelose Einlassung im Sinne des Art. 26 EuGVVO deutlich geringere Anforderungen gestellt als an eine solche im Sinne des § 39 ZPO:

[14]Ausgangspunkt ist, dass der Begriff der Einlassung im Sinne des Art. 26 EuGVVO autonom auszulegen ist (Aladyev, in: IWRZ 2017, S. 207 [208]; Dörner, EuGVVO, 7. Auflage 2017, Art. 26, Rn. 5; Gottwald, in: MüKo ZPO, 5. Auflage 2017, Art. 26, Rn. 6; E. Peiffer/M. Peiffer, in: Geimer/Schütze, Int. Rechtsverkehr, 58. EL Oktober 2019, VO (EG) 1215/2012, Art. 26, Rn. 11, 17 m. w. N.; Stadler, in: Musielak/Voit, ZPO, 17. Auflage 2020, Art. 26 EuGVVO n.F., Rn. 3) - also ohne Rücksicht auf die nationale Rechtsordnung des Forums oder das materiell anwendbare Recht (Geimer, in: Zöller, ZPO, 33. Auflage 2020, Art. 1 EuGVVO, Rn. 15 m. w. N.; Wagner, in: Stein/Jonas, ZPO, Bd. 10, 22. Auflage 2011, vor Art. 1 EuGVVO [a.F.], Rn. 31).

[15]Nach dieser autonomen Auslegung ist gemäß Art. 26 EuGVVO - im Gegensatz zu § 39 ZPO - gerade keine Einlassung in der mündlichen Verhandlung erforderlich; es genügt jede Verteidigungshandlung, die auf eine Klageabweisung zielt. Ist - wie hier - das schriftliche Vorverfahren gemäß § 276 Abs. 1 ZPO angeordnet worden, stellt die schriftliche Klageerwiderung bereits eine Einlassung im Sinne des Art. 26 EuGVVO dar; erfolgt diese - wie hier - rügelos, so führt bereits dies zur stillschweigenden Prorogation nach Art. 26 Abs. 1 Satz 1 EuGVVO (BGH, Urteil vom 19. Mai 2015 - XI ZR 27/14 (IPRspr 2015-227) -, NJW 2015, S. 2667 zu Art. 24 Satz 1 EuGVVO a.F. m. w. N.; Urteil vom 31. Mai 2011 - VI ZR 154/10 (IPRspr 2011-183b) -, NJW 2011, S. 2809 [2812 Rn. 35] zu Art. 18 LugÜ I m. w. N.; OLG Celle, Urteil vom 26. März 2008 - 3 U 238/07 (IPRspr 2008-127) -, juris, Rn. 22-25 zu Art. 24 Satz 1 EuGVVO a.F. m. w. N.; Gaier, in: BeckOK ZPO, 36. Ed., Stand 1. März 2020, Art. 26 Brüssel-Ia-VO, Rn. 14.1; Geimer, in: Zöller, ZPO, 33. Auflage 2020, Art. 26 EuGVVO, Rn. 5; Schlosser, in: Schlosser/Hess, EU-Zivilprozessrecht, 4. Auflage 2015, Art. 26 Brüssel-Ia-VO, Rn. 2; Schultzky, in: Zöller, ZPO, 33. Auflage 2020, § 39, Rn. 4; Stadler, in: Musielak/Voit, ZPO, 17. Auflage 2020, Art. 26 EuGVVO n.F., Rn. 3; Weller, in: Wieczorek/Schütze, ZPO, Band 13/2, 4. Auflage 2019, Art. 26 Brüssel-Ia-VO, Rn. 4 [Text zu Fn. 26]; noch strenger Aladyev, in: IWRZ 2017, S. 207 [211]: bereits mit Verteidigungsanzeige; a. A. Gottwald, in: MüKo ZPO, 5. Auflage 2017, Art. 26, Rn. 7, 10 [Rüge grundsätzlich mit Klageerwiderung erforderlich, aber noch bis zum Beginn der mündlichen Verhandlung nachholbar] und Staudinger, in: Rauscher, Europ. Zivilprozess- und Kollisionsrecht, 4. Auflage 2015, Art. 26 Brüssel-Ia-VO, Rn. 19 [Rüge erst in der mündlichen Verhandlung erforderlich]).

[16]Soweit sich die Kläger im Schriftsatz vom 9. März 2020 in diesem Zusammenhang auf das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 21. November 1996 (- IX ZR 264/95 (IPRspr. 1996 Nr. 160) -, NJW 1997, S. 397) berufen, greift dies nicht durch: Dort bezieht sich der Bundesgerichtshof ersichtlich allein auf die rügelose Einlassung im Sinne des § 39 ZPO; obgleich es um einen Fall mit Auslandsbezug ging, waren Art. 18 EuGVÜ und Art. 18 LugÜ gerade nicht anwendbar (a. a. O. [398 Ziff. II.2 lit. a]); auf beides weist der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung zum Begriff der rügelosen Einlassung nach Art. 24 Satz 1 EuGVVO a.F. auch ausdrücklich hin und stellt klar, dass die schriftliche Klageerwiderung bereits eine Einlassung im Sinne dieser Vorschrift ist (BGH, Urteil vom 19. Mai 2015 - XI ZR 27/14 (IPRspr 2015-227) -, NJW 2015, S. 2667 [Rn. 18 und 17 respektive]).

[17]Soweit die Kläger im Schriftsatz vom 9. März 2020 rügen, das Landgericht habe auf die Möglichkeit der Zuständigkeitsbegründung nach Art. 26 EuGVVO hinweisen müssen, greift dies ebenfalls nicht durch: Eines Hinweises gemäß Art. 26 Abs. 2 EuGVVO bedurfte es hier nicht, da die Beklagten nicht zu der dort geschützten Personengruppe gehören („Schwächerenschutz“, vgl. E. Peiffer/M. Peiffer, in: Geimer/Schütze, Int. Rechtsverkehr, 58. EL Oktober 2019, VO (EG) 1215/2012, Art. 26, Rn. 47; Weller, in: Wieczorek/Schütze, ZPO, Band 13/2, 4. Auflage 2019, Art. 26 Brüssel-Ia-VO, Rn. 7). Im Übrigen erfordert der Schutzzweck der Belehrungspflicht einen Hinweis nur dann, wenn das angerufene Gericht seine Zuständigkeit allein auf Art. 26 EuGVVO stützen kann. Ergibt sich die Entscheidungskompetenz schon aus anderen Gründen - wie hier möglicherweise aus Art. 4 Abs. 1 EuGVVO i. V. m. § 32b ZPO und aus Art. 7 Nr. 2 EuGVVO -, ist die Belehrung entbehrlich (Gaier, in: BeckOK ZPO, 36. Ed., Stand 1. März 2020, Art. 26 Brüssel-Ia-VO, Rn. 19; E. Peiffer/M. Peiffer, in: Geimer/Schütze, Int. Rechtsverkehr, 58. EL Oktober 2019, VO (EG) 1215/2012, Art. 26, Rn. 53).

[18]bb) Im Wege einer rügelosen Einlassung gemäß Art. 26 EuGVVO wird nicht nur die internationale Zuständigkeit (der deutschen Gerichte allgemein), sondern auch die örtliche Zuständigkeit des (bestimmten) angerufenen Gerichts begründet (BGH, Urteil vom 17. März 2015 - VI ZR 11/14 (IPRspr 2015-225) -, juris, Rn. 20 zu Art. 24 LugÜ m. w. N.; Kropholler/von Hein, Europ. Zivilprozessrecht, 9. Auflage 2011, Art. 24 EuGVO, Rn. 6; E. Peiffer/M. Peiffer, in: Geimer/Schütze, Int. Rechtsverkehr, 58. EL Oktober 2019, VO (EG) 1215/2012, Art. 26, Rn. 11; Geimer, in: Zöller, ZPO, 33. Auflage 2020, Art. 26 EuGVVO, Rn. 1; Staudinger, in: Rauscher, Europ. Zivilprozess- und Kollisionsrecht, 4. Auflage 2015, Art. 26 Brüssel-Ia-VO, Rn. 8; Wagner, in: Stein/Jonas, ZPO, Bd. 10, 22. Auflage 2011, Art. 24 EuGVVO [a.F.], Rn. 1, 5). Das Gericht muss sich dann für zuständig erklären; einen Ermessensspielraum lässt Art. 26 EuGVVO nicht (Weller, in: Wieczorek/Schütze, ZPO, Band 13/2, 4. Auflage 2019, Art. 26 Brüssel-Ia-VO, Rn. 1).

[19]d) Damit wird hier bezüglich der ausländischen Kläger die innerstaatliche ausschließliche örtliche Zuständigkeit gemäß § 32b ZPO durch Art. 26 Abs. 1 EuGVVO verdrängt (vgl. Roth, in: Stein/Jonas, ZPO, 23. Auflage 2014, § 32b ZPO, Rn. 3 m. w. N.; Heinrich, in: Musielak/Voit, ZPO, 17. Auflage 2020, § 32b, Rn. 7; Bachmann, IPRax 2007, S. 77 [80] m. w. N.; Mormann, AG 2011, S. 10 [12]; vgl. auch Reuschle, WM 2004, S. 2334 [2343]; vgl. auch BGH, Beschluss vom 27. Juni 2007 - X ZR 15/05 (IPRspr 2007-142) -, NJW 2007, S. 3501 [3502 Rn. 16]: „§ 39 ZPO wird jedoch im Anwendungsbereich des Luganer Übereinkommens durch Art. 18 LugÜ [a.F.] (der Art. 24 EuGVVO [a.F.] entspricht) verdrängt.“; so auch OLG Oldenburg, Urteil vom 28. September 2018 - 11 U 41/17 (IPRspr 2018-259) -, juris, Rn. 38 zu Art. 26 EuGVVO). Bachmann (a. a. O.) führt zutreffend aus:

[20]Innerhalb des Geltungsbereichs der EuGVO ist die Rechtslage eindeutig: Wegen des unbestrittenen Vorrangs der Verordnung muss § 32b ZPO hinter deren Regelungen zurücktreten.

[21]Die von den Klägern in den Schriftsätzen vom 9. und 11. März 2020 dagegen vorgebrachten Einwände greifen nicht durch: Obwohl sich aus § 32b ZPO gegebenenfalls ein ausschließlicher Gerichtsstand ergibt, ist - trotz § 40 Abs. 2 Satz 2 ZPO - eine rügelose Einlassung gemäß Art. 26 Abs. 1 EuGVVO möglich. Soweit die Vorschriften der Verordnung neben der internationalen auch die örtliche Zuständigkeit regeln, verdrängen sie die nationalen Vorschriften (siehe oben). Dies gilt sowohl für § 40 Abs. 2 Satz 2 ZPO als auch für § 39 ZPO; insbesondere sind etwaige genauer geregelte Voraussetzungen der rügelosen Einlassung nach nationalem Recht nicht in den möglicherweise pauschaleren Art. 26 EuGVVO „hineinzulesen“; Art. 26 EuGVVO ist autonom auszulegen (siehe oben, Abschnitt c.aa).

[22]Selbst dort, wo das deutsche Recht - im Rahmen einer innerstaatlichen ausschließlichen örtlichen Zuständigkeit auch - eine ausschließliche internationale Zuständigkeit Deutschlands annimmt (etwa bei §§ 32a, 32b ZPO), gilt diese nicht im Anwendungsbereich der Verordnung (Geimer, Int. Zivilprozessrecht, 8. Auflage 2020, Rn. 872-874, 942 m. w. N.; Bachmann, IPRax 2007, S. 77 [82 ff.]).

[23]Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt damit bezüglich der ausländischen Kläger nicht im Sinne des § 8 Abs. 1 KapMuG von den Feststellungszielen zur Zuständigkeit gemäß § 32b ZPO ab.

[24]e) ... 3. Nach diesen Maßgaben gilt im Einzelnen das Folgende:

[25]a) Das Vorliegen der Prozessvoraussetzungen ist sowohl hinsichtlich der deutschen als auch der ausländischen Kläger unabhängig von der Entscheidung über die Rechtsbeschwerde gegen den Teil-Musterentscheid zu den Fragen der ausschließlichen örtlichen Zuständigkeit nach § 32b ZPO in vollem Umfang zu prüfen.

[26]Soweit die hierzu von den Beklagten erhobenen Rügen nach der Teilabhilfe durch das Landgericht noch Gegenstand des Beschwerdeverfahrens sind, sind sie teilweise begründet:

[27]aa) Ohne Erfolg bleibt die Beschwerde allerdings, soweit die Beklagte im Rahmen der Vollmachtsrüge beanstandet, die deutschen Kläger hätten die Vertretungsberechtigung der Unterzeichner der eingereichten Vollmachten nicht nachgewiesen …

[28]bb) Für die ausländischen Kläger gilt hinsichtlich der Rügen der Beklagten zu den persönlichen Prozessvoraussetzungen und der Rügen der Prozessvollmachten folgendes:

[29]Zutreffend ist das Landgericht im Teil-Abhilfebeschluss vom 9. August 2019 (S. 26, Bl. 1120 Bd. IV d. A.) davon ausgegangen, dass die Prüfung der Prozessvoraussetzungen nach § 56 ZPO im Rahmen des sog. Freibeweisverfahrens erfolgt, bei dem sich Art und Umfang der Beweiserhebung nach dem pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts bestimmen (BGH, Urteil vom 23. Februar 1990 - V ZR 188/88 -, BGHZ 110, 294-298, Rn. 17, juris, m. w. N.). Diese Prüfung erfolgt (nur) dann, wenn konkrete Anhaltspunkte für das Fehlen einer Prozessvoraussetzung vorliegen (BGH, Beschluss vom 9. November 2010 - VI ZR 249/09 -, NJW-RR 2011, 284, Rn. 4, beck-online; Urteil vom 29. September 2010 - XII ZR 41/09 -, NJW 2011, 778, Rn. 14, beck-online; Urteil vom 4. Mai 2004 - XI ZR 40/03 (IPRspr 2004-143) -, BGHZ 159, 94-104, Rn. 19-20, juris). Bestehen solche Anhaltspunkte, sind alle in Betracht kommenden Beweise von Amts wegen zu erheben (BGH, Urteil vom 9. Januar 1996 - VI ZR 94/95 -, NJW 1996, 1059, Rn. 10, juris; Urteil vom 4. November 1999 - III ZR 306/98 -, BGHZ 143, 122-128, Rn. 10, juris).

[30]Geht es um den Nachweis der Rechts- und Parteifähigkeit einer ausländischen Partei oder um deren ordnungsgemäße Vertretung, kann das Gericht - wie vom Landgericht ebenfalls zutreffend ausgeführt (S. 26 des Teil-Abhilfebeschlusses, Bl. 1120 Bd. IV d. A.) - hierzu vorliegende ausländische öffentliche Urkunden gemäß § 438 Abs. 1 ZPO auch ohne näheren Nachweis als echt ansehen. Einer Legalisation nach § 438 Abs. 2 ZPO oder einer sie ggf. ersetzenden Apostille (vgl. hierzu Feskorn, in: Zöller, ZPO, 33. Auflage 2020, § 438, Rn. 4) bedarf es zum Echtheitsnachweis nicht zwingend …

[31]Bei der Beurteilung der für die Parteifähigkeit maßgeblichen Rechtsfähigkeit (§ 50 ZPO) einer ausländischen juristischen Person ist grundsätzlich entsprechend der Sitztheorie das Recht des Staates maßgebend, in dem die juristische Person ihren Verwaltungssitz hat, wobei es nicht auf den in der Satzung genannten, sondern auf den tatsächlichen Verwaltungssitz ankommt (vgl. etwa BGH, Urteil vom 29. Januar 2003 - VIII ZR 155/02 (IPRspr. 2003 Nr. 10b) -, BGHZ 153, 353-358, Rn. 9, juris, m. w. N.; Urteil vom 27. Oktober 2008 - II ZR 158/06 (IPRspr 2008-11) -, BGHZ 178, 192-203, Rn. 21, juris; Kindler, in: MüKo BGB, 7. Auflage, Bd. 12, Internationales Wirtschaftsrecht, Teil 10, Rn. 5, 358, beck-online; Althammer, in: Zöller, ZPO, 33. Auflage 2020, § 50, Rn. 31; Hübsch, in: BeckOK ZPO, 36. Ed., Stand 1. März 2020, § 55, Rn. 2). Eine von diesem Grundsatz abweichende Beurteilung kann geboten sein, wenn in staatsrechtlichen Verträgen besondere Regelungen enthalten sind (vgl. BGH, Urteil vom 27. Oktober 2008 - II ZR 158/06 (IPRspr 2008-11) -, BGHZ 178, 192-203, Rn. 14). So ist insbesondere bei einer juristischen Person, die ihren satzungsgemäßen Sitz in einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union hat, die Frage der Rechtsfähigkeit nach dem Recht des Staates zu beurteilen, in dem sie gegründet wurde (vgl. BGH, Urteil vom 13. März 2003 - VII ZR 370/98 (IPRspr. 2003 Nr. 13) -, BGHZ 154, 185-190, Rn. 16-28, juris; Althammer, in: Zöller, ZPO, 33. Auflage 2020, § 50, Rn. 31; Thorn, in: Palandt, BGB, 79. Auflage 2020, Art. 12 EGBGB, Rn. 5). Das gleiche gilt für eine juristische Person, die in einem EFTA-Staat gegründet wurde, der dem EWR-Abkommen beigetreten ist (BGH, Urteil vom 19. September 2005 - II ZR 372/03 (IPRspr 2005-7) -, BGHZ 164, 148-153, Rn. 9), ebenso wie bei juristischen Personen, die in den Vereinigten Staaten gegründet wurden, aufgrund des deutsch-amerikanischen Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsvertrages vom 29. Oktober 1954 (BGBl. 1956 Teil II, S. 487; vgl. BGH, Urteil vom 29. Januar 2003 - VIII ZR 155/02 (IPRspr. 2003 Nr. 10b) -, BGHZ 153, 353-358, Rn. 10 f., juris; Thorn, in: Palandt, BGB, 79. Auflage 2020, Art. 12 EGBGB, Rn. 3).

[32]Die Prozessfähigkeit ausländischer Parteien richtet sich grundsätzlich nach dem Prozessrecht ihres Heimatstaates (§ 51 Abs. 1 ZPO i. V. m. Art. 7 EGBGB, § 55 ZPO; Thorn, in: Palandt, BGB, 79. Auflage 2020, Art. 7 EGBGB, Rn. 4; Lindacher, in: MüKo ZPO, 5. Auflage 2016, § 55, Rn. 1), für die Frage nach der organschaftlichen Vertretung einer ausländischen juristischen Person ist auf das Sitz- oder Gründungsrecht abzustellen (BGH, Urteil vom 23. Oktober 1963 - V ZR 146/57 (IPRspr. 1962–1963 Nr. 184) -, BGHZ 40, 197-206, Rn. 21, juris; Urteil vom 17. November 1994 - III ZR 70/93 -, BGHZ 128, 41-53, Rn. 23, juris; Althammer, in: Zöller, ZPO, 33. Auflage 2020, § 51, Rn. 1; Thorn, in: Palandt, BGB, 79. Auflage 2020, Anh. zu Art. 12 EGBGB, Rn. 17; Lindacher, in: MüKo ZPO, 5. Auflage 2016, § 55, Rn. 6).

[33]Die für die Parteifähigkeit darlegten Grundsätze gelten im Prinzip entsprechend für die Prozessführungsbefugnis, soweit sie sich aus dem materiellen Recht ableitet (OLG Celle, Urteil vom 27. Oktober 2010 - 3 U 84/10 (IPRspr 2010-178) -, Rn. 29-30, juris; Gottwald, in: Nagel/Gottwald, Int. Zivilprozessrecht, 7. Auflage 2013, § 5, Rn. 64, juris; Geimer, Int. Zivilprozessrecht, 8. Auflage 2020, Rn. 2235).

[34]...

Fundstellen

nur Leitsatz

NZG, 2020, 1182

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https://iprspr.mpipriv.de/2020-268

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