Haben die an einem ausländischen Unfallgeschehen (hier: in Luxemburg) beteiligten Personen ihren ständigen Aufenthaltsort in Deutschland, richtet sich die Haftung für den Verkehrsunfall nach deutschem Recht (Art. 4 II Rom-II-VO); die Ausweichklausel des Art. 4 III Rom-II-VO kommt nicht zur Anwendung. Welche Verursachungs- und Verschuldensbeiträge in die gemäß § 17 II StVG vorzunehmende Haftungsabwägung einzustellen sind, beurteilt sich demgegenüber gemäß Art. 17 Rom-II-VO nach dem am Unfallort geltenden Straßenverkehrsrecht.
Inwieweit zu Lasten eines Unfallbeteiligten ein Anscheinsbeweis in Betracht kommt, ist im Ausgangspunkt dem jeweils geltenden Sachrecht (lex causae) zu entnehmen. Im Anwendungsbereich des Art. 17 Rom-II-VO kann jedoch alleine auf die mit den am Tatort geltenden (Verkehrs-)Regeln im Zusammenhang stehenden Anscheinsbeweise zurückgegriffen werden.
Wird das ausländische Sachrecht trotz erkannter Entscheidungserheblichkeit nicht ermittelt, so stellt dies einen schweren Verfahrensfehler und damit einen Zurückverweisungsgrund nach § 538 II 1 Nr. 1 ZPO dar.
Der Kläger macht Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall geltend, der sich 2015 in Luxemburg ereignet hat. Unfallbeteiligt waren der Kläger als Fahrer und Halter des Pkw Audi A4, und der Zeuge M. als Fahrer und Halter des bei der Beklagten versicherten Lkw Renault. Der Kläger wohnt ausweislich der Klageschrift in L.; die Adresse des Zeugen M. liegt in K.-St. Aus dem Nummernschild des Fahrzeugs des Zeugen M. folgt dessen Zulassung in P. Der Zeuge M. befuhr die A 13 auf der rechten Fahrspur in Richtung Saarbrücken im Zuge stockenden Verkehrs; der Kläger wollte von rechts von der Auffahrspur kommend auf die A 13 auffahren. Hier kam es beim Einfädeln vor den Lkw des Beklagten zu einer Kollision. Nach dem Unfall ließ der Kläger sein Fahrzeug mit einer Notreparatur in einen verkehrssicheren und fahrbereiten Zustand bringen. 2016 wurde es sodann verkauft. 2015 hat der Kläger seine Ansprüche gegenüber der Beklagten geltend gemacht. Die Beklagte auf den Anspruch des Klägers teilweise Zahlungen geleistet.
Der Kläger hat beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger zu bezahlen. Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Mit Urteil vom 29.03.2018 hat das LG die Beklagte zur Zahlung verurteilt. Mit der gegen dieses Urteil eingelegten Berufung verfolgt der Kläger seinen Klageanspruch weiter. Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
[1]II.
[2]Die Berufung des Klägers ist nach den §§ 511, 513, 517, 519 und 520 ZPO statthaft sowie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und mithin zulässig. Das Rechtsmittel hat vorläufig dahingehenden Erfolg, dass der Rechtsstreit, soweit beim Senat angefallen, - auf den entsprechenden Hilfsantrag beider Seiten hin - zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückzuverweisen ist (§ 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO). Das Verfahren im ersten Rechtszug leidet insoweit an einem wesentlichen Verfahrensmangel, weil das Landgericht kein Gutachten zum luxemburgischen Verkehrsrecht eingeholt hat, das für die Entscheidung von zentraler Bedeutung ist, und die angefochtene Entscheidung infolgedessen keine tragfähige Grundlage hat.
[3]1. Zunächst zutreffend und von der Berufung unangegriffen hat das Landgericht die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte, die in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen ist (vgl. BGH, Urteil vom 28.11.2002
[4]2. In der Sache richtet sich die Beurteilung des streitgegenständlichen Unfalls - zumindest in wesentlichen Teilen - nach luxemburgischen Recht (hierzu unter a)). Das Landgericht hat jedoch unter Verstoß gegen § 293 ZPO verfahrensfehlerhaft keine - hinreichenden - Feststellungen zu dem anwendbaren ausländischen Recht getroffen (hierzu unter b)).
[5]a) Entgegen der Ansicht des Landgerichts ist allerdings nicht in jeder Hinsicht luxemburgisches Recht anzuwenden. Tatsächlich richtet sich - nur - die für die Haftungsabwägung relevante Frage etwaiger Verkehrsverstöße der Unfallbeteiligten nach luxemburgischen Verkehrsrecht, die Haftungsgrundlagen sowie der ErSatz konkreter Schadenspositionen dagegen nach deutschem Zivilrecht.
[6]aa) Nach Art. 4 Abs. 2 Rom II-VO ist unter Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthaltsort der Unfallbeteiligten (lex domicilii communis), der hier übereinstimmend in der Bundesrepublik Deutschland liegt, für die Frage der Haftung deutsches Schadensrecht unter Anwendung der Grundsätze der ZPO (lex fori) anzuwenden. Die durch das Landgericht angenommene Anknüpfung an den Tatort gem. Art. 4 Abs.1 Rom II-VO (allg. OLG Saarbrücken, Urteil vom 28.03.2019 -
[7]Aus den vorliegenden Adressen sowie der Zulassung des Lkw des Zeugen M. lässt sich zwangslos entnehmen, dass sich der gewöhnliche Aufenthaltsort der unfallbeteiligten Personen übereinstimmend in der Bundesrepublik Deutschland befindet, weshalb sich das anwendbare Recht nach Art. 4 Abs. 2 Rom II-VO richtet.
[8]bb) Eine Korrektur durch die sog. Ausweichklausel des Art. 4 Abs. 3 Rom II-VO ist nicht geboten.
[9]Art. 4 Abs. 3 Rom II-VO erlaubt es, die Regelanknüpfungen, die nicht für alle denkbaren Fallkonstellationen sinnvolle Ergebnisse garantieren, zu durchbrechen, wenn sich aus der Gesamtheit der Umstände ergibt, dass die unerlaubte Handlung eine „offensichtlich engere Verbindung“ zu einem anderen Staat aufweist. Die Ausweichklausel erlaubt dem Gericht in begründeten Ausnahmefällen, die Ergebnisse der starren Anknüpfungsregeln zu Gunsten kollisionsrechtlicher Einzelfallgerechtigkeit zu korrigieren (JurisPK-BGB/Lund, Art. 4 Rom II-VO, Rn. 24; Palandt/Thorn, BGB, Art. 4 Rom II, Rn. 10). Es soll das am stärksten mit dem Sachverhalt verbundene Recht zur Anwendung gebracht werden (JurisPK-BGB/Lund, a.a.O.).
[10]Danach kommt bei Verkehrsunfällen im Straßenverkehr die Ausweichklausel des Art. 4 Abs. 3 Rom II-VO nur in Ausnahmefällen zur Anwendung. In Betracht kommt dies nach der Generalklausel des Abs. 3 Satz 1 insbesondere dann, wenn vertragliche Sonderbeziehungen bestehen, etwa Beförderungs- oder Mietverträge (vgl. JurisPK-BGB/Lund, Art. 4 Rom II-VO, Rn. 38 m.w.N.). Darüber hinaus ist es gerechtfertigt, die durch den Unfall entstehenden Ansprüche der Beteiligten nach dem Recht des gemeinsamen Aufenthalts zu bestimmen und nicht etwa versicherungsrechtliche Fragen oder die Ersatzfähigkeit einzelner Schadenspositionen davon abhängig zu machen, ob der Verkehrsunfall - wie hier - zufällig unmittelbar vor oder erst hinter der Grenze passiert ist.
[11]cc) Eine offensichtlich engere Verbindung des Verkehrsunfalls wird auch nicht durch die am Unfallort geltenden Verkehrsregeln begründet. Denn losgelöst von dem gemäß Art. 4 Rom II-VO anzuwendenden Recht (Deliktsstatut) sind bei der Beurteilung eines schädigenden Verhaltens gemäß Art. 17 Rom II-VO stets diejenigen Sicherheits- und Verhaltensregeln zu berücksichtigen, die am Ort und zum Zeitpunkt des haftungsbegründenden Ereignisses in Kraft sind (vgl. etwa OLG München Urteil vom 04.11.2016
[12]dd) Folglich beurteilt sich die Frage in Betracht kommender Verkehrsverstöße des Klägers und des Zeugen M. nach luxemburgischen Straßenverkehrsrecht. Streitig ist in Rechtsprechung und Literatur allerdings die Frage, an welches Recht für die Frage anzuknüpfen ist, ob gegen einen der Fahrzeugführer ein Beweis des ersten Anscheins greift. Im Streitfall ist diese Frage aufgrund des Spurwechsels durch den Kläger von Relevanz.
[13](1) So wird vertreten, den Anscheinsbeweis als prozessrechtliches Institut der lex fori zu entnehmen. Da der Anscheinsbeweis auf der (typisierten) allgemeinen Lebenserfahrung des Tatrichters beruhe, handele es sich nämlich um eine Regelung der Beweiswürdigung (LG Saarbrücken Urteil vom 11.05.2015
[14](2) Der Senat sieht dies anders. Mit der Gegenmeinung ist anzunehmen, dass es sich bei dem Anscheinsbeweis um eine materiell-rechtliche Regelung handelt (MünchKomm-BGB, Art. 22 Rom II-VO, Rn. 8; Zöller/Greger, ZPO, Vor § 284 Rn. 29a, Palandt/Thorn, BGB, Art. 22 Rom II, Rn. 1, Staudinger, NJW 2011, 650; Zwickerl, IPRax 2015, 531; offenbar auch JurisPK-BGB/Engel, Art. 22 Rom II-VO, Rn. 6), die dem jeweils geltenden nationalen Sachrecht (lex causae) zu entnehmen ist. Dies folgt aus Art. 22 Abs. 1 Rom II-VO, der bestimmt, dass das nach dieser Verordnung für außervertragliche Schuldverhältnisse maßgebende Recht auch insoweit anzuwenden ist, als es für das Schuldverhältnis Vermutungen aufstellt oder die Beweislast verteilt.
[15]Anders als bei der in Rechtsprechung und Literatur umstrittenen Frage, nach welchem nationalen Recht sich die Frage des Beweismaßes richtet (vgl. nur LG Saarbrücken, Urteil vom 09.03.2012
[16]Im Übrigen überzeugt es nicht, eine anderweitige Beurteilung (alleine) deshalb vorzunehmen, um den zur Entscheidung berufenen Richter vor einer Anwendung des ausländischen Beweisrechts zu bewahren. Denn hierzu ist er schon grundsätzlich verpflichtet. Bei der Anwendung ausländischen Rechts ist das Gericht zwar nach § 293 ZPO nicht auf die von den Parteien beigebrachten Nachweise beschränkt und kann sich für dessen Ermittlung auch anderer Erkenntnisquellen, insbesondere sachverständiger Hilfe bedienen und das hierzu Erforderliche anordnen. Das entbindet das Gericht aber grundsätzlich nicht von der Verpflichtung, die für die Entscheidung des Falles erheblichen Vorschriften des anwendbaren ausländischen Rechts von Amts wegen zu ermitteln und anzuwenden (BGH, Beschluss vom 06.10.2016
[17](3) Jedenfalls im Anwendungsbereich des Art. 17 Rom II-VO, wonach die Sicherheits- und Verhaltensregeln des Tatortes zu berücksichtigen sind, kann allein auf die mit diesen im Zusammenhang stehenden Anscheinsbeweise zurückgegriffen werden (MünchKomm-BGB, Art. 22 Rom II-VO, Rn. 9; JurisPK-BGB/Engel, Art. 22 Rom II-VO, Rn. 6). Denn eine Verhaltensregel, die wie etwa § 7 Abs. 5 Satz 1 StVO bestimmt, dass ein Fahrstreifen nur gewechselt werden darf, wenn die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist, zieht im Fall eines Verkehrsunfalls die Vermutung für ein Fehlverhalten unmittelbar nach sich. Der Beweis des ersten Anscheins gegen den Fahrstreifenwechsler ist der Norm damit immanent und bei der Rechtsanwendung untrennbar mit ihr verbunden.
[18]Dies wird durch zwei Kontrollüberlegungen bestätigt: Zum einen wäre es nicht nachvollziehbar, wenn die Schadensersatzpflicht z.B. eines Fahrspurwechslers davon abhängen würde, ob er per Zufall mit einem inländischen oder einem ausländischen Fahrer zusammenstößt, bzw. möglicherweise noch davon, aus welchem Land der Unfallgegner konkret stammt. Zum anderen würde der nationale Richter vor teilweise unauflösbare Probleme gestellt, wenn er eine bestimmte ausländische Verhaltensregel anzuwenden verpflichtet ist, für die es kein hinreichendes Äquivalent in seinem Recht gibt, oder aber unterschiedliche Normen - mit möglicherweise unterschiedlich hohen Sorgfaltsanforderungen - in Betracht kommen (etwa § 9 Abs. 1 <-> § 9 Abs. 5 StVO). Die Klärung der Frage eines Anscheinsbeweises wäre so zum Scheitern verurteilt.
[19]b) Soweit sich der Streitfall damit in wesentlichen Teilen nach luxemburgischen Recht richtet, ist die nach § 293 S. 2 ZPO von Amts wegen erforderliche Ermittlung und Feststellung unterblieben. Hierin liegt ein wesentlicher Verfahrensmangel im Sinne des § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO, aufgrund dessen nun eine umfassende Beweisaufnahme erforderlich wird.
[20]aa) Dabei kann zunächst dahinstehen, ob die Ermittlung und Feststellung des luxemburgischen Haftungsrechts durch das Landgericht, das ein nur in Auszügen mitgeteiltes Rechtsgutachten eines anderen Verfahrens (AG Landstuhl,
[21]bb) Allerdings hat das Landgericht zwingende Grundsätze der Beweiserhebung vernachlässigt, weil das für die Ermittlung der verkehrsrechtlichen Sorgfaltspflichten der Beteiligten erforderliche Gutachten nicht eingeholt worden ist. Tatsächlich fehlt eine Auseinandersetzung mit dem luxemburgischen Verkehrsrecht fast vollständig.
[22](1) Das Berufungsgericht ist aufgrund einer zulässigen Berufung grundsätzlich verpflichtet, die Anwendung des fremden materiellen Rechts auf ein Rechtsverhältnis durch das erstinstanzliche Gericht unabhängig von einer Rüge - die hier in Bezug auf die maßgebliche Prüfung der geltenden Verkehrsregeln nicht vorliegt - von Amts wegen zu überprüfen (vgl. BGH, Urteil vom 21.09.1995 -
[23](2) Es ist offensichtlich, dass das Landgericht das ausländische Recht nicht ordnungsgemäß angewandt hat. Zwar steht es im pflichtgemäßen Ermessen des Richters, auf welche Weise er seiner Pflicht zur Ermittlung des maßgeblichen Rechts nachkommt (BGH, Urteil vom 13.05.1997
[24]Bei dieser Sachlage ist unter Würdigung aller Gesamtumstände die vollständig unterlassene Beweiserhebung durch ein Sachverständigengutachten zum ausländischen Recht verfahrensfehlerhaft und schließt aus, dass die Beweiserhebung des Erstgerichts auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage beruht (vgl. OLG München, Urteil vom 21.10.2016,
[25](3) Dabei ist unschädlich, dass der Kläger keinen Vortrag dazu gehalten hat, aus welchen Normen sich die Haftung des Beklagten für den streitgegenständlichen Verkehrsunfall ergeben soll. Denn für Unionsrecht gilt grundsätzlich, dass die Gerichte der Mitgliedstaaten zu dessen Anwendung in gleicher Weise aufgerufen sind wie zur Anwendung innerstaatlichen Rechts (BGH, Urteil vom 25.06.2019,
[26]cc) Die Beurteilung der Haftungsverteilung durch das Landgericht erweist sich im Übrigen auch unabhängig von den fehlenden Feststellungen zum ausländischen Recht nicht deshalb als richtig, weil das Landgericht von einem unaufgeklärten Unfallhergang ausgegangen ist. Denn die Frage, welche unstreitigen oder in der Beweisaufnahme festgestellten Tatsachen bei der Haftungsabwägung letztlich zu berücksichtigen sind, kann erst dann rechtssicher festgestellt werden, wenn die Anforderungen, die das luxemburgische Straßenverkehrsrecht an die Fahrzeugführer stellt, einschließlich in Betracht kommender Verschuldensvermutungen oder Entlastungsmöglichkeiten, festgestellt worden sind (vgl. OLG München, Urteil vom 21.10.2016,
[27]3. ... 4. Die festgestellten Verfahrensmängel rechtfertigen im Streitfall die Aufhebung und Zurückverweisung der Sache an das Landgericht, da auf Grund der Verfahrensmängel eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme durch das Berufungsgericht sicher zu erwarten ist (BGH, Urteil vom 12.04.2018
[28]a) ... b) ... c) ... 5. Für das weitere Verfahren weist der Senat auf folgendes hin:
[29]a) In Anwendung von Art. 4 Abs. 2 Rom II-VO richtet sich die Haftung für den vorliegenden Verkehrsunfall im Ausgangspunkt nach deutschem Recht. Demnach erfolgt, da ein unabwendbares Ereignis im Sinne des § 17 Abs. 3 StVG nicht vorlag, die vorzunehmende Haftungsabwägung nach § 17 Abs. 2 StVG, einschließlich der Gewichtung der jeweiligen Verstöße (MünchKomm-BGB, Art. 4 Rom II-VO, Rn. 98) sowie der Beurteilung der Betriebsgefahr. Auch für die Bestimmung der ersatzfähigen Schadenspositionen ist deutsches Schadensrecht anwendbar.
[30]bb) ...
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