Wird bei einem Verkehrsunfall im Ausland (hier: Portugal) das anzuwendende ausländische Sachrecht nicht ordnungsgemäß ermittelt und festgestellt, so stellt dies einen schweren Verfahrensfehler und damit einen Zurückverweisungsgrund nach § 538 II 1 Nr. 1 ZPO dar. [LS der Redaktion]
Der Kl. macht gegen die Bekl., eine Aktiengesellschaft portugiesischen Rechts, Ansprüche auf Schadensersatz aus einem Unfall im Straßenverkehr geltend. Zugrunde liegt ein Zusammenstoß im Mai 2013 im Gemeindegebiet von F./Portugal.
Das LG München I hat nach Beweisaufnahme die Klage vollständig abgewiesen. Gegen dieses Urteil hat der Kl. beim OLG München im Mai 2016 Berufung eingelegt.
[1]B. Die statthafte, sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung hat in der Sache jedenfalls vorläufig Erfolg.
[2]I. Das LG hat entschieden, dass Ansprüche des Kl. auf Schadensersatz nicht bestehen, weil einerseits die Bekl. nach portugiesischem Recht nur für eine nachgewiesene verschuldete verkehrsrechtliche Sorgfaltspflichtversicherung ihrer Fahrzeugführerin haften müsse, andererseits der Kl. insoweit beweisfällig geblieben sei, weil gegen ihn der erste Anschein des von einem Straßenrand Anfahrenden wirke.
[3]Diese Ergebnisse entbehren angesichts unvollständiger tatsächlicher Feststellungen und Beweiserhebung sowie unrichtiger Beweiswürdigung und Rechtsanwendung einer überzeugenden Grundlage.
[4]1. ... a) Das Erstgericht hat wesentlichen Sachvortrag des Kl. übersehen, denn dieser hatte darauf hingewiesen, dass nach dem portugiesischen Código civil neben der Verschuldenshaftung des Art. 483 Cc die Gefährdungshaftung des Art. 503 Cc eingreife ...
[5]b) Ebenso ist die Beweiserhebung des Erstgerichts zu beanstanden, weil die Ermittlung und Feststellung des portugiesischen Haftungsrechts (§ 293 Satz 2 ZPO) zu Unrecht unterlieben ist. Diese wäre von Amts wegen vorzunehmen gewesen (BGH, NZI 2013, 763 (IPRspr. 2013 Nr. 286); NJOZ 2001, 1 (IPRspr. 2001 Nr. 1); NJW 1988, 647 (IPRspr. 1987 Nr. 2); NJW 1961, 410 (IPRspr. 1960–1961 Nr. 5)) und hätte auch die Auslegung und Anwendung des Gesetzesrechts in der Rechtspraxis zu umfassen gehabt (BGH, NJW 1991, 1418 (IPRspr. 1991 Nr. 1 (II ZR 49/90)); WM 1992, 1510 (IPRspr. 1992 Nr. 1); WM 1997, 1245 (IPRspr. 1997 Nr. 2)). Zwar unterliegt pflichtgemäßem Ermessen des LG, in welcher Weise es sich die notwendigen Erkenntnisse verschafft, vorliegend hat der Tatrichter jedoch keinerlei Ermessen ausgeübt und keinerlei Erkenntnisquellen genutzt (BGHZ 118, 151 (IPRspr. 1992 Nr. 265); NJW 1988 aaO; NJW 1991 aaO; NZI 2013 aaO).
[6]Folglich fehlen dem Ersturteil eine vollständige Prüfung und Erörterung der Haftungsgrundlagen, Entlastungsmöglichkeiten und Beweislastverteilung. Bei Anwendung ausländischen Rechts sind diesem auch die Beweislastregeln zu entnehmen, ohne Rücksicht darauf, ob die Normen der Beweislastverteilung selbst dem sachlichen Recht zuzurechnen sind (BGH, WPM 1969, 858 (IPRspr. 1986–1969 Nr. 1)).
[7]c) Weiterhin hat das LG zwingende Grundsätze der Beweiserhebung vernachlässigt (BGH, NJW 1993, 2312 (IPRspr. 1993 Nr. 200b); NJW 2002, 3335 (IPRspr. 2002 Nr. 2a)), weil das – wenigstens für einzelne am Unfallort geltende verkehrsrechtliche Sorgfaltspflichten für erforderlich gehaltene (Beschl. vom 19.11.2015) – Gutachten nicht eingeholt worden ist.
[8]Zwar ist der Tatrichter grundsätzlich nach pflichtgemäßem Ermessen frei (§ 293 Sätze 1, 2 ZPO), wie er sich fehlende Kenntnisse ausländischen Rechts verschafft (BGH, WM 1997 aaO; NJOZ 2001 aaO), die entsprechenden Maßnahmen müssen jedoch geeignet und zielführend sein.
[9]Eine Internet-Recherche zu Reisehinweisen für und zu Verkehrsregeln in Portugal ist jedoch mangels Verbindlichkeit und Zuverlässigkeit nicht ausreichend, wobei besonders zwei Gesichtspunkte ins Gewicht fallen: Zum ersten hat das LG bereits die Fragestellung – unzulässig – eingeengt, indem lediglich in einer einzigen Frage eine Abweichung von dem für üblich Gehaltenen für wichtig gehalten wurde. Zum zweiten hat das LG die europaweit oder gerichtsbekannt übliche Regelung weder genau beschrieben noch belegt.
[10]Das Erstgericht erkennt angesichts der Textfassung der Entscheidungsgründe selbst, dass diese Forschungsergebnisse unzureichend sind: Dass das Gericht eine abweichende Regelung nicht gefunden hat, bedeutet nicht, dass eine solche nicht bestehen kann, wenn die anzuwendende Regelung nicht ermittelt wird. Ebenso wenig kann die Erwartung, eine Regelung wäre erwähnt worden, eine Sicherheit begründen und als Beweis dafür dienen, dass diese Regelung atypisch wäre.
[11]Die Auffassung des LG, diese Rechtsfragen könnten nicht geklärt werden, ist nicht vertretbar, denn das verweigerte Universitätsgutachten des Instituts für Rechtsvergleichung hätte durch andere Beweismittel ersetzt werden können. Etwa beschafft und erteilt das Auswärtige Amt über die portugiesische Botschaft nähere Auskünfte und vermittelt sachkundige Einrichtungen (was der Senat im Streitfall durch einen eigenen Versuch bestätigt gefunden hat), zudem könnte eine Auskunft eines portugiesischen Gerichts oder ein Gutachten eines portugiesischen Professors für Zivil- und Zivilprozessrecht eingeholt werden (BGH, NJOZ 2001 aaO). Weiterhin kann nach dem Europäischen Übereinkommen betreffend Auskünfte über ausländisches Recht vom 7.9.1968 (BGBl. 1975 II 300; Londoner Übereinkommen) eine Auskunftsanfrage an das portugiesische Justizministerium gerichtet werden (BGH, NJW 1988 aaO).
[12]Bei dieser Sachlage ist unter Würdigung aller Gesamtumstände die vollständig unterlassene Beweiserhebung durch ein Sachverständigengutachten zum ausländischen Recht verfahrensfehlerhaft und schließt aus, dass die Beweiserhebung des Erstgerichts auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage beruht (OLG München, Urt. vom 21.2.2014 – 25 U 2798/13 [juris]). Dies gilt verstärkt, als noch nicht einmal ein Versuch unternommen wird, eigene Sachkunde darzulegen (vgl. BGH, VersR 2011, 1432; OLG München, Urt. vom 5.2.2014 – 3 U 4256/13 [juris Rz. 26–28, 33]).
[13]2. Der Vollständigkeit halber ist darauf hinzuweisen, dass das Erstgericht auch entscheidende sachlich-rechtliche Fragen, nämlich aus welchem Rechtsgrund, mit welchen Haftungsausschlüssen oder -minderungen und in welchem Umfang die portugiesische Haftpflichtversicherung einer portugiesischen Versicherten für einen Verkehrsunfall in Portugal gegenüber dem deutschen Kläger haften muss, nicht überzeugend beantwortet und begründet hat.
[14]Deswegen lässt sich derzeit weder feststellen noch vorhersagen, ob oder dass sich das erstinstanzlich gefundene Ergebnis auch nach erneuten Feststellungen und Anwendung portugiesischen Rechts als zutreffend erweisen werde und so der Rechtsfehler keine für den Kl. nachteilige Auswirkungen gehabt haben könne.
[15]a) Ersichtlich zutreffend und von den Parteien nicht bezweifelt ist die Auffassung des Erstgerichts, dass die Bekl. am Wohnsitz des Kl. verklagt werden könne. Dies ergibt sich jedoch im Streitfall – Unfalldatum 9.5.2013, Klageerhebung am 12.11.2014 – aus Art. 11 II, 8, 9 I lit. b EuGVO [gültig vom 1.3.2002 (Art. 76) bis 9.1.2015 (Art. 81 Satz 2, 80 Satz 1 der VO (EU) Nr. 1215/2012].
[16]b) Ebenso war und ist auf den Streitfall das Sachrecht der portugiesischen Republik anzuwenden. Dies ergibt sich aus Art. 4 I, 15, 18, 31, 32 Rom-II-VO.
[17]c) Jedoch enthält das Ersturteil keine zusammenhängende Darstellung der Haftungstatbestände, Entlastungsmöglichkeiten und straßenverkehrsrechtlichen Sorgfaltspflichten des auf den Streitfall anzuwendenden portugiesischen Straßenverkehrsrechts und des Rechts der unerlaubten Handlungen.
[18]Deswegen und wegen unterlassener Anwendung des Art. 503 Cc bleibt unklar, warum die Bekl. nicht grundsätzlich unbeschränkt aus Gefährdung und zudem aus vermutetem Verschulden der Fahrzeugführerin hafte. Im letzteren Fall hätte diese, und nicht etwa der Kl., fehlendes Verschulden zu beweisen gehabt.
[19]Ebenso ist – mangels prüfbarer Rechtsgrundlage nach portugiesischem Recht – nicht erkennbar, ob eine Entlastungsmöglichkeit (entspr. dem unabwendbaren Ereignis im Sinne des § 17 III 1, 2 StVG) einerseits bestehe, andererseits (abweichend von deutschem Recht) der Kl. zu beweisen hätte, dass der Unfall für die Bekl. oder deren Fahrzeugführerin nicht unvermeidbar gewesen sei.
[20]Zudem lassen die wiederholten Hinweise des Erstgerichts auf deutsches Recht besorgen, dass auch dessen Haftungssystem- und -verteilung unrichtig gesehen wurden (...). Zu den Grundlagen der Haftung nach dem StVG wird auf die st. Rspr. des Senats (etwa Urt. vom 11.3.2016 – 10 U 4087/15 [juris Rz. 34 ff.]; Urt. vom 26.2.2016 – 10 U 153/15 [juris Rz. 39 ff.]; Urt. vom 10.6.2016 – 10 U 4787/13 [n.v.]; Urt. vom 13.11.2015 – 10 U 2226/15 [juris Rz. 40 ff.]; Urt. vom 23.1.2015 – 10 U 299/14 [juris Rz. 14 ff.]) Bezug genommen ...
[21]Das LG leitet aus dem Umstand, dass der Kl. von einem Parkplatz in die Fahrbahn eingefahren ist, der deutschen StVO entsprechende (§ 10 Satz 1) umfassende Sorgfaltspflichten (OLG München, NZV 1990, 274) ab. Dies kann schon deswegen nicht überzeugen, weil die erstinstanzlich angenommene Vorfahrt des fließenden Verkehrs keine Bestimmung aufweist, welche Sorgfaltspflichten des Vorfahrtsberechtigten (trotzdem) bestehen und welches Gewicht einem Verstoß des vom Straßenrand Anfahrenden unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalls zukäme. Zuletzt fehlen prüfbare Begründungen und Nachweise, dass in ‚sämtlichen europäischen Rechtsordnungen’ das Ausfahren aus einem Parkplatz ‚immer’ in bestimmter Weise geregelt sei und jegliche Abweichung hiervon in Portugal allein deswegen ausgeschlossen sei, weil eine derartige Besonderheit sonst in Reisehinweisen erwähnt worden wäre.
[22]d) Das Ersturteil lässt nicht erkennen, ob nach portugiesischem Recht eine Abwägung und Gewichtung der Verursachungsbeiträge und des (Mit-)Verschuldens einschl. der jeweiligen Betriebsgefahr der beteiligten Fahrzeuge vorzunehmen und eine umfassende Würdigung aller Umstände des Einzelfalls, insbes. der genauen Klärung des Unfallhergangs, geboten gewesen wäre (für § 17 I, II StVO: Senat, Urt. vom 12.6.2015 – 10 U 3981/14 [juris Rz. 49 m.w.N.]; Urt. vom 31.7.2015 – 10 U 4377/14 [juris Rz. 55 m.w.N.]). Sollte dies der Fall sein, wären die Entscheidungsgründe insoweit lücken- und fehlerhaft. Denn entscheidend ist nicht, ob Anhaltspunkte für eine überhöhte Geschwindigkeit des Beklagtenfahrzeugs bestanden, sondern ob dessen Fahrzeugführerin sämtliche Sorgfaltsanforderungen nach portugiesischem Straßenverkehrsrecht beachtet hat. Weiterhin kann die Kollisionsgeschwindigkeit für die Ausgangsgeschwindigkeit nur dann einen Anhaltspunkt oder Nachweis liefern, wenn das Annäherungs- und Bremsverhalten bekannt ist. Erwägungen des Erstgerichts zu unverschuldeten Fehlreaktionen sind ersichtlich deutschem Recht entnommen, ohne dass überprüft worden wäre, wie portugiesisches Recht derartige Rechtsfragen beurteilt.
[23]e) Zuletzt enthält das Ersturteil keine Erwägungen, ob und inwieweit eine vollständige Überbürdung des Schadens auf einen der Beteiligten unter dem Gesichtspunkt des Mitverschuldens und somit eine vollständige Unerheblichkeit der die Gefährdungshaftung begründenden Betriebsgefahr unangemessen sein könnten. Nach st. Rspr. des BGH ist dies nur ausnahmsweise in Betracht zu ziehen (BGH, DAR 2015, 455), so dass eine gleichartige Rechtsprechung portugiesischer Gerichte hätte geprüft werden müssen.
Dieses Werk steht unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.