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Verfahrensgang

BGH, Urt. vom 06.05.2008 – VI ZR 200/05, IPRspr 2008-132

Rechtsgebiete

Zuständigkeit → Besonderer Vertragsgerichtsstand

Leitsatz

Besteht ein Direktanspruch gegen einen ausländischen Versicherer mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat (hier: in den Niederlanden), so ist gemäß Art. 11 II in Verbindung mit Art. 9 I lit. b EuGVO das Gericht am Wohnsitz des Geschädigten für Direktklagen des Geschädigten gegen den Versicherer international zuständig.

Rechtsnormen

4. Kfz-Haftpflicht-RL 2000/26/EG Art. 3
EGBGB Art. 40
EGV-Maastricht  Art. 234
EUGVVO 44/2001 Art. 8 ff.; EUGVVO 44/2001 Art. 9; EUGVVO 44/2001 Art. 10; EUGVVO 44/2001 Art. 11
WAM (Niederl.) Art. 7

Sachverhalt

[Das Zwischenurteil des OLG Köln vom 12.9.2005 – 16 U 36/05 – wurde zusammen mit dem Vorlagebeschluss des BGH vom 26.9.2006 – VI ZR 200/05 – bereits in IPRspr. 2006 Nr. 107a, b abgedruckt. Die Entscheidung des EuGH – Rs C-463/06 – erging am 13.12.2007.]


Der Kl., der in Deutschland seinen Wohnsitz hat, verlangt von der Bekl., einer Haftpflichtversicherung mit Sitz in den Niederlanden, Schadensersatz wegen eines Verkehrsunfalls in den Niederlanden mit einem Versicherten der Bekl. Das AG am Wohnsitz des Kl. hat die Klage wegen fehlender internationaler Zuständigkeit deutscher Gerichte als unzulässig abgewiesen. Das Berufungsgericht hat mit einem Zwischenurteil die Zulässigkeit der Klage bejaht. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision erstrebt die Bekl. weiterhin die Klageabweisung – ohne Erfolg.

Der erkennende Senat hatte das Verfahren ausgesetzt und die Frage zur Auslegung der Verweisung in Art. 11 II EuGVO auf Art. 9 I lit. b EuGVO gemäß Art. 234 EGV zur Vorabentscheidung dem EuGH vorgelegt.

Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]II. Die Revision gegen das Zwischenurteil des Berufungsgerichts bleibt erfolglos.

[2]1. Der EuGH hat im Urteil vom 13.12.2007 (Rs C-463/06, VersR 2008, 111 ff.) die Vorlagefrage bejaht und dies wie folgt begründet:

[3]‚Abschnitt 3 des Kapitels II der EuGVO, der die Art. 8 bis 14 enthält, sieht Zuständigkeitsregeln für Versicherungssachen vor, die zu den Regeln hinzukommen, die durch die allgemeinen Vorschriften in Abschnitt 1 desselben Kapitels der Verordnung aufgestellt werden. In diesem Abschnitt 3 werden mehrere Zuständigkeitsregeln für Klagen gegen den Versicherer aufgestellt. Er sieht insbesondere vor, dass ein Versicherer, der seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, vor den Gerichten des Mitgliedstaats, in dem er seinen Wohnsitz hat (Art. 9 I lit. a), vor dem Gericht des Orts, an dem der Kläger seinen Wohnsitz hat, wenn die Klage von dem Versicherungsnehmer, dem Versicherten oder dem Begünstigten erhoben wird (Art. 9 I lit. b), und schließlich bei der Haftpflichtversicherung oder bei der Versicherung von unbeweglichen Sachen vor dem Gericht des Orts erhoben werden kann, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist (Art. 10). In Bezug auf die Haftpflichtversicherung verweist Art. 11 II der EuGVO auf diese Zuständigkeitsregeln für Klagen, die der Geschädigte unmittelbar gegen den Versicherer erhebt.

[4]Zur Beantwortung der Frage des vorlegenden Gerichts ist daher die Tragweite der Verweisung in Art. 11 II EuGVO auf Art. 9 I lit. b dieser Verordnung zu bestimmen. Insbesondere ist festzustellen, ob diese Verweisung dahin auszulegen ist, dass durch sie nur den durch die letztgenannte Bestimmung bezeichneten Gerichten, d.h. den Gerichten des Wohnsitzes des Versicherungsnehmers, des Versicherten oder des Begünstigten, die Zuständigkeit für die Entscheidung über die unmittelbare Klage des Geschädigten gegen den Versicherer zuerkannt wird, oder ob aufgrund dieser Verweisung auf diese unmittelbare Klage die in Art. 9 I lit. b EuGVO aufgestellte Zuständigkeitsregel des Wohnsitzes des Klägers angewendet werden kann.

[5]Hierzu ist festzustellen, dass diese Vorschrift sich nicht darauf beschränkt, die Zuständigkeit den Gerichten des Wohnsitzes der darin aufgezählten Personen zuzuweisen, sondern dass sie vielmehr die Regel der Zuständigkeit des Wohnsitzes des Klägers aufstellt und damit diesen Personen die Befugnis zuerkennt, den Versicherer vor dem Gericht des Orts ihres eigenen Wohnsitzes zu verklagen.

[6]Eine Auslegung der Verweisung in Art. 11 II EuGVO auf Art. 9 I lit. b dieser Verordnung dahin gehend, dass diese dem Geschädigten nur erlaubt, vor den aufgrund der letztgenannten Vorschrift zuständigen Gerichten zu klagen, d.h. den Gerichten des Wohnsitzes des Versicherungsnehmers, des Versicherten oder des Begünstigten, würde daher dem Wortlaut des Art. 11 II unmittelbar zuwiderlaufen. Mit dieser Verweisung wird der Anwendungsbereich dieser Regel auf andere Kategorien von Klägern gegen den Versicherer als dem Versicherungsnehmer, dem Versicherten oder dem Begünstigten aus dem Versicherungsvertrag erstreckt. Die Funktion dieser Verweisung besteht somit darin, der in Art. 9 I lit. b enthaltenen Liste von Klägern die Personen hinzuzufügen, die einen Schaden erlitten haben.

[7]Dabei kann die Anwendung dieser Zuständigkeitsregel auf die unmittelbare Klage des Geschädigten nicht von dessen Qualifizierung als Begünstigter im Sinne von Art. 9 I lit. b EuGVO abhängen, denn die Verweisung auf diese Vorschrift durch Art. 11 II dieser Verordnung ermöglicht die Erstreckung der Zuständigkeitsregel auf diese Rechtsstreitigkeiten über die Zuordnung des Klägers zu einer der in dieser Vorschrift aufgeführten Kategorien hinaus.

[8]Diese Erwägungen werden auch durch die teleologische Auslegung der im Ausgangsverfahren betroffenen Vorschriften gestützt. Nach dem 13. Erwägungsgrund der EuGVO soll diese einen günstigeren Schutz der schwächeren Parteien gewährleisten, als ihn die allgemeinen Zuständigkeitsregeln vorsehen (vgl. in diesem Sinne Rs C-412/98 [Group Josi], Rz. 64; Rs C-112/03 [Société financière et industrielle du Peloux], Rz. 40; Rs C-77/04 [GIE Réunion européenne u.a.], Slg. 2005, I-4509 Rz. 17). Dem Geschädigten das Recht zu verweigern, vor dem Gericht des Orts seines eigenen Wohnsitzes zu klagen, würde ihm nämlich einen Schutz vorenthalten, der demjenigen entspricht, der anderen – ebenfalls als schwächer angesehenen – Parteien in Versicherungsrechtsstreitigkeiten durch diese Verordnung eingeräumt wird, und stünde daher im Widerspruch zum Geist dieser Verordnung. Außerdem hat die EuGVO, wie die Kommission zu Recht feststellt, diesen Schutz im Verhältnis zu dem Schutz, der sich aus der Anwendung des EuGVÜ ergab, verstärkt.

[9]Diese Auslegung wird durch den Wortlaut der Richtlinie 2000/26/EG des Europäischen Parlaments und des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung, und zur Änderung der Richtlinien 73/239/EWG und 88/357/EWG des Rates vom 16.5.000 (ABl. Nr. L 181/65) bestätigt. In dieser Richtlinie hat der Gemeinschaftsgesetzgeber nämlich nicht nur in Art. 3 die Zuerkennung eines Direktanspruchs des Geschädigten gegen das Versicherungsunternehmen in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten vorgesehen, sondern er hat auch ausdrücklich im Erwägungsgrund Nr. 16 a) auf Art. 9 I lit. b und 11 II EuGVO Bezug genommen, um auf das Recht des Geschädigten hinzuweisen, eine Klage gegen den Versicherer vor dem Gericht des Orts zu erheben, an dem der Geschädigte seinen Wohnsitz hat.

[10]Schließlich ist zu den Folgen der Qualifizierung der unmittelbaren Klage des Geschädigten gegenüber dem Versicherer, die, wie sich aus der Vorlageentscheidung ergibt, im deutschen Recht Gegenstand eines Meinungsstreits sind, festzustellen, dass die Anwendung der durch Art. 9 I lit. b EuGVO aufgestellten Zuständigkeitsregel auf eine solche Klage nicht dadurch ausgeschlossen wird, dass diese im nationalen Recht als Delikthaftungsklage, die sich auf ein außerhalb der vertraglichen Rechtsbeziehungen liegendes Recht bezieht, qualifiziert wird. Die Natur dieser Klage im nationalen Recht ist nämlich für die Anwendung der Vorschriften dieser Verordnung unerheblich, da diese Zuständigkeitsregeln in einem Abschnitt, nämlich Abschnitt 3 des Kapitels II dieser Verordnung, enthalten sind, der Versicherungssachen im Allgemeinen betrifft und der sich von dem Abschnitt über besondere Zuständigkeiten für Verträge oder unerlaubte Handlungen betreffende Sachen, nämlich Abschnitt 2 des Kapitels II, unterscheidet. Die einzige Bedingung, von der Art. 11 II EuGVO die Anwendung dieser Zuständigkeitsregel abhängig macht, besteht darin, dass die unmittelbare Klage im nationalen Recht vorgesehen sein muss.’

[11]2. Danach hat das Berufungsgericht mit Recht einen Gerichtsstand am inländischen Wohnort des Kl. für die Direktklage gegen die Bekl. bejaht, da der Kl. nach der gemäß Art. 40 I, IV EGBGB heranzuziehenden niederländischen Gesetzesvorschrift einen Direktanspruch gegen den niederländischen Versicherer hat (Art. 7 Nr. 2 Wet aansprakelijkheidsverzekering motorrijtuigen (WAM) vom 30.5.1963 [StB 223] ).

[12]Die Revision ist deshalb zurückzuweisen.

Fundstellen

LS und Gründe

BGHZ, 176, 276
I.L.Pr., 2008, 12, 858
MDR, 2008, 937
NJW, 2008, 2343
NZV, 2008, 447
RIW, 2008, 635
VersR, 2008, 955
VRS, 2008, 115, 48
JR, 2009, 379

nur Leitsatz

ZIP, 2008, 1796

Permalink

https://iprspr.mpipriv.de/2008-132

Lizenz

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