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Verfahrensgang

LG Köln, Urt. vom 03.05.2024 – 87 O 89/23
OLG Köln, Urt. vom 27.03.2025 – 18 U 71/24, IPRspr 2025-89

Rechtsgebiete

Zuständigkeit → Versicherungs-, Verbraucher-, Arbeitsgerichtsstand

Leitsatz

Für Verfahren, die erst nach dem 31. Dezember 2020 gegen Beklagte mit Sitz in Großbritannien eingeleitet wurden, ist Großbritannien ein Drittstaat i.S.d. EuGVVO. Jedoch kann sich der klagende Verbraucher gem. Art. 6 Abs. 1 EuGVVO i.V.m. Art. 17, 18 EuGVVO auf den Verbrauchergerichtsstand berufen. [LS der Redaktion]

Rechtsnormen

AEUV Art. 216; AEUV Art. 267
BrexitAbk Art. 67; BrexitAbk Art. 126; BrexitAbk Art. 127
EuGVVO 1215/2012 Art. 6; EuGVVO 1215/2012 Art. 17; EuGVVO 1215/2012 Art. 18; EuGVVO 1215/2012 Art. 24
EUV Art. 50
HGÜ Art. 2
ZPO § 513

Sachverhalt

Der Kläger macht mit der am 1. August 2023 anhängig gemachten Klage Zahlungsansprüche im Zusammenhang mit einer atypischen stillen Beteiligung und einer grenzüberschreitenden Verschmelzung geltend. Mit dem angefochtenen Urteil hat das Landgericht die Klage abgewiesen. Dagegen wendet sich der Kläger mit seiner Berufung, mit der er sein erstinstanzliches Klagebegehren in vollem Umfang weiterverfolgt. Der Kläger beantragt sinngemäß, unter Abänderung des Urteils des Landgerichts Köln vom 3. Mai 2024 - 87 O 89/23 - die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger ... EUR zzgl. Zinsen zu zahlen.

Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]II.

[2]Die zulässige Berufung des Klägers ist unbegründet. Das Landgericht hat mit dem angefochtenen Urteil die Klage jedenfalls im Ergebnis zu Recht abgewiesen.

[3]1. Bedenken an der - trotz § 513 Abs. 2 ZPO von Amts wegen zu prüfenden - internationalen Zuständigkeit der deutschen Gerichte bestehen mit den zutreffenden Ausführungen des Landgerichts nicht. Der Verbrauchergerichtsstand des Art. 17 Abs. 1 lit. c) EuGVVO, Art. 18 Abs. 1 EuGVVO ist eröffnet.

[4]a) Das Landgericht hat zu Recht sowohl die Verbrauchereigenschaft des Klägers als auch die Voraussetzungen einer Verbrauchersache, die gegenständlich auf vertragliche und deliktische Ansprüche gestützte Klagen eines Verbrauchers erfasst, die untrennbar mit einem - wie hier - tatsächlich geschlossenen Verbrauchervertrag verbunden sind (vgl. Senatsurteil vom 23. Mai 2024 - 18 U 157/23 (IPRspr 2024-183), juris Rn. 40 ff. m.w.N.) bejaht. Denn ungeachtet der gebotenen engen Auslegung des Verbraucherbegriffs (Senatsurteil vom 2. März 2023 - 18 U 188/21 (IPRspr 2023-281), juris Rn. 53 m.w.N.) ist die durch den Kläger gezeichnete Beteiligung an der Rechtsvorgängerin der Beklagten als Verbrauchergeschäft anzusehen. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger bei Zeichnung zu einem Zweck gehandelt haben könnte, der zumindest teilweise einer beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit zuzurechnen ist, sind nicht ersichtlich und werden von der Beklagten auch mit der Berufung nicht geltend gemacht.

[5]b) Dass die Klageerhebung erst nach dem 31. Dezember 2020 erfolgt ist (1. August 2023), ändert an der Anwendung der genannten Bestimmungen nichts. Denn die von der Beklagten angeführte Sonderreglung in Art. 67 Abs.1 lit. a) des Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft (ABI. EU Nr. L029 vom 31. Januar 2020, S. 7 ff., im Folgenden: AA) ändert nichts daran, dass auch auf das Vereinigte Königsreich als ehemaligen Mitgliedsstaat die oben genannten Regelungen wie bei "originären" Drittstaaten über Art. 6 Abs. 1 EuGVVO weiterhin Anwendung finden. Es kann zur Meidung unnötiger Wiederholungen zunächst auf das Senatsurteil vom 23. Mai 2024 - 18 U 157/23 (IPRspr 2024-183), juris Rn. 35 ff. mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung und die zust. Anm. von Jungemeyer, jurisPR-​IWR 4/2024 Anm. 3 und Wiese, BKR 2024, 674 ff. verwiesen werden. Soweit allein der 17. Zivilsenat des OLG München (Urteil vom 16. September 2024 - 17 U 1521/24 e (IPRspr 2024-211), BeckRS 2024, 24338 [z.Zt BGH - II ZR 112/24]; Teil- und Zwischenurteil vom 20.Januar 2025 - 17 U 966/24e (IPRspr 2025-72), BeckRS 2025, 393) zuletzt für solche Klagen die EuGVVO für nicht (mehr) anwendbar erklärt hat, ist dies keinesfalls nachvollziehbar (so auch Tönies-​Bambalska, jurisPR-​IWR 6/2024 Anm. 6). Auch die Beklagte verkennt mit dem von ihr dem AA beigemessenen Verständnis, dass der mit Ablauf des Übergangszeitraums vollzogene Austritt des Vereinigten Königreichs ausschließlich zur Folge hat, dass für solche Verfahren, die nach dem 31. Dezember 2020 eingeleitet worden sind, der bis dahin an die Gerichte des Vereinigten Königreichs gerichtete unionsrechtliche Rechtsanwendungsbefehl erloschen ist, mithin (nur) diese Gerichte die Zuständigkeitsregelungen der EuGVVO nicht mehr anzuwenden haben. Das ändert jedoch ansonsten (natürlich) nichts daran, dass die Verordnung in den Mitgliedstaaten weiterhin unmittelbar anwendbares Recht ist und als solches - unter Berücksichtigung ihrer ganz allgemein gefassten Drittstaatenregelungen - von den mitgliedstaatlichen Gerichten vorrangig zu prüfen ist (vgl. auch Garber/Neumayr, in: Wieczorek/Schütze, ZPO, 5. Aufl., Brüssel Ia-​VO Art. 66 Rn. 33). Nichts Anderes besagt die von der Beklagten angeführte Präambel des Austrittsabkommens, denn darin kommt nur zum Ausdruck, dass das Vereinigte Königreich, dessen Status als Drittstaat auch dort ausdrücklich festgehalten wird, mit seinem Austritt aus der Europäischen Union nicht mehr unionsrechtlicher Normadressat ist, mithin das Vereinigte Königreich mit Vollzug des Austritts von seiner Verpflichtung zur Umsetzung bzw. Anwendung von Unionsrecht entbunden ist.

[6]Auch wenn ansonsten zuzugeben sein mag, dass Art. 6 Abs. 1 EuGVVO originär den Fall des Austritts eines Mitgliedsstaats - weil man einen solchen Austritt unter von rational denkenden Regierungen geführten Mitgliedsstaaten für nicht vorstellbar gehalten haben dürfte - seinerzeit nicht ernsthaft in den Blick genommen haben mag, bleibt es systematisch dabei, dass die EuGVVO lediglich zwischen Mitgliedstaaten und Drittstaaten unterscheidet und eine dritte Kategorie von Staaten, die früher einmal Mitgliedstaat waren und später ausgetreten sind, keine Sonderregelung erfahren hat und wertungsmäßig auch nicht erfahren durfte. U.a. mit OLG Schleswig, Urteil vom 6. März 2024 - 9 U 11/23 (IPRspr 2024-29), juris Rn. 41 ist zu sehen, dass es in der Sache nicht angezeigt sein kann, das Vereinigte Königreich gegenüber "gewöhnlichen" Drittstaaten noch durch Nichtanwendung der Drittstaaten-​Regelungen der EuGVVO (weiter) zu privilegieren.

[7]Fehl geht der Verweis des 17. Zivilsenats des OLG München (a.a.O.) auf Art. 216 AEUV. Denn diese Norm, die für den Abschluss von Übereinkommen mit Drittstaaten die Abschlusskompetenz der Europäischen Union in Abgrenzung der Abschlusskompetenz der Mitgliedstaaten regelt (vgl. nur Schmalenbach, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Aufl., AEUV Art. 216 Rn. 1 f. m.w.N.), findet auf den - hier in Rede stehenden - Abschluss eines Übereinkommens der Europäischen Union mit einem Mitgliedstaat - um einen solchen handelte es sich beim Vereinigten Königreich zum Zeitpunkt des Abschlusses des Austrittsübereinkommens - schon ausweislich seines eindeutigen Wortlauts ("Drittländer") keine Anwendung. Der für den Fall des Austritts eines Mitgliedstaats aus der Europäischen Union vorgesehene Abschluss eines Austrittsabkommens ist in Art. 50 Abs. 2 Satz 2 EUV geregelt. Dass die EuGVVO mit dem Ablauf des in Art. 126 AA vorgesehenen Übergangszeitraums für danach erst eingeleitete gerichtliche Verfahren für das Vereinigte Königreich selbst keine Anwendung mehr finden kann, folgt zwar insofern aus Art. 50 Abs. 3 EUV. Nach dem Austrittsabkommen ist das Vereinigte Königreich bereits am 1. Februar 2020, dem Tag des Inkrafttretens des Austrittsabkommens, aus der Union ausgetreten und damit zu einem Drittstaat geworden. Doch hatte der im Austrittsabkommen vorgesehene Übergangszeitraum zwischen dem 1. Februar 2020 und dem 31. Dezember 2020 zur Folge, dass gemäß Art. 127 Abs. 6 AA das Vereinigte Königreich während dieses Zeitraums unter anderem für die Zwecke der Justiziellen Zusammenarbeit in Zivil- und Handelssachen noch als "Mitgliedstaat" und nicht als Drittstaat anzusehen war (Fiktionswirkung), wobei Art. 127 Abs. 1 AA im Übrigen noch klarstellte, dass das Unionsrecht während dieses Übergangszeitraums für das Vereinigte Königreich galt (vgl. EuGH, Urteil vom 4. Oktober 2024 - Rs. C-​4/23, NJW 2024, 3501 Rn. 43). Dieser (nur) an das Vereinigte Königreich gerichtete Rechtsanwendungsbefehl ist zwar mit dem Ablauf des Übergangszeitraums - wie in Art. 50 Abs. 3 EUV vorgesehen - erloschen. Ein weitergehendes Erlöschen aber auch des an alle verbleibenden Mitgliedstaaten gerichteten Rechtsanwendungsbefehls hinsichtlich der in der EuGVVO enthaltenen Regelungen mit Drittstaatenbezug ergibt sich hieraus jedoch ganz eindeutig nicht. Soweit der 17. Zivilsenat des OLG München seinen gegenteiligen Standpunkt damit begründet hat, dass ansonsten die Regelungen des AA zur Beendigung der Anwendbarkeit der EuGVVO zu großen Teilen leer liefen, was mit Sicherheit keiner der Vertragspartner gewollt habe, geht es um eine nicht nachvollziehbare und rein apodiktische Behauptung. Der Senat vermag keinen über die Rechtsfolgen des Art. 50 Abs. 3 EUV hinausgehenden Willen der am Austrittsabkommen beteiligten Parteien erkennen. Eine solche Annahme liegt auch fern, denn es stand nicht im Sinne der Europäischen Union, zu Gunsten des austretenden Vereinigten Königreichs den Geltungsbereich des Unionsrechts in den verbleibenden Mitgliedstaaten weiter zurückzunehmen; dies gerade bei dem in der Praxis durchaus wichtigen Verbrauchergerichtsstand. Es fügt sich darin gut ein, dass die Europäische Kommission, deren Präsidentin das Austrittsabkommen unter anderem unterzeichnet hat, unter Ziffer 1.2 ihrer Mitteilung "Der Austritt des Vereinigten Königreichs und die EU-​Verordnungen im Bereich der Ziviljustiz und des internationalen Privatrechts" vom 27. August 2020 die Frage der internationalen Zuständigkeit für Verfahren, die nach Ablauf des Übergangszeitraums eingeleitet werden und die in den sachlichen Anwendungsbereich der EuGVVO fallen, ausdrücklich unter Bezugnahme auf Art. 6 Abs. 1 EuGVVO festgehalten hat, dass die mitgliedstaatlichen Gerichte natürlich auch weiterhin die Vorschriften der EuGVVO anzuwenden haben (a.a.O. Ziffer 1.2 auf S. 4 f. mit Fn. 14). Mit dieser im Internet frei verfügbaren Mitteilung der Europäischen Kommission, die der Senat auch bisher bei seiner rechtlichen Würdigung einbezogen hat (vgl. Senatsurteil vom 23. Mai 2024 - 18 U 157/23 (IPRspr 2024-183), juris Rn. 37), befasst sich das OLG München in seiner Argumentation auch gar nicht erst näher. Auch für den Europäischen Gerichtshof steht zudem generell außer Frage, dass "... das Vereinigte Königreich ... aus der Union ausgetreten ist und damit zu einem Drittstaat geworden ist." (EuGH, Urteile vom 15. Juli 2021 - Rs. C-​709/20, EuZW 2021, 801 Rn. 47 und vom 4. Oktober 2024 - Rs. C-​4/23, NJW 2024, 3501 Rn. 43). Dem ist aus Sicht des Senats nichts hinzuzufügen. Aus gleichem Grund sieht der Senat - der ohnehin hier in Ansehung des Streitwerts nicht als letztinstanzliches Gericht i.S.d. Art. 267 Abs. 3 AEUV tätig ist (zur Rolle der Nichtzulassungsbeschwerde in diesem Kontext Karpenstein, in: Garbitz u.a., Das Recht der Europäischen Union, 83. EL Juli 2024, Art. 267 AEUV Rn. 56 m.w.N.) - keinen Anlass zur Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens; ohnehin liegt ein Fall der sog. "Acte-​Clair-​Doktrin" vor, weil die richtige Auslegung des Unionsrechts - wie gezeigt - derart offenkundig ist, dass keinerlei Raum für einen vernünftigen Zweifel an der Entscheidung der gestellten Frage bleibt (EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982 - 283/81, NJW 1983, 1257 - C. I. L. f. I. T.; siehe auch dazu Karpenstein, a.a.O., Rn. 60 f. m.w.N.).

[8]c) Anderes ergibt sich auch nicht aus den Regelungen des Haager Übereinkommens über Gerichtsstandsvereinbarungen vom 30. Juni 2005 (Text und Beitrittsstatus abrufbar auf www.hcch.net; im Folgenden: HGÜ). Denn vorliegend ist bereits der sachliche Anwendungsbereich dieses Übereinkommens nicht eröffnet, weil Verbrauchersachen vom sachlichen Anwendungsbereich des Übereinkommens ausgenommen sind (vgl. Art. 2 Abs. 1 lit. a HGÜ). Schließlich liegt auch eine innergesellschaftliche Streitigkeit, die eine ausschließliche Zuständigkeit gemäß Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 24 Nr. 2 EuGVVO begründen würde, nicht vor.

[9]2. Dass im konkreten Fall sodann deutsches Sachrecht Anwendung findet, wird - zu Recht (vgl. für solche Fälle etwa auch OLG Köln, Urteil vom 7. Dezember 2021 - 4 U 107/20, juris Rn. 52 ff.; Urteil vom 20. Dezember 2022 - 4 U 84/20, n.v., S. 11 ff. , 28; Urteil vom 26. Juli 2022 - 4 U 94/20, n.v., S. 12 ff., 22 sowie Senatsurteil vom 23. November 2023 -18 U 194/22, n.v., S. 21 = Anlage B9, Bl. 515 d.A.) - von keiner Partei in Abrede gestellt. Soweit das OLG Celle in den im Tatbestand zitierten Entscheidungen in offenbar vergleichbaren Fällen österreichisches Sachrecht auf die stillen Beteiligungen anwendet, wird dies - wie im Termin erörtert - dort nicht näher begründet; für den vorliegenden Fall folgt daraus jedenfalls nichts anderes.

[10]3. ...

Fundstellen

Volltext

Link, openJur
Link, NRWE (Rechtsprechungsdatenbank NRW)
Link, juris.de

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