Bestätigt ein syrisches Scharia-Gericht, dass zwischen zwei syrischen Staatsangehörigen eine Ehe besteht (§ 107 Abs. 1 Satz 1 FamFG), so gilt diese Feststellung für den Fall, dass der Anerkennungsfähigkeit des Urteils kein Ordre-public-Verstoß entgegensteht (§ 109 Abs. 1 Nr. 4 FamFG), nicht nur zwischen den Beteiligten, sondern erga omnes. [LS von der Redaktion neu gefasst]
Die Klägerin ist am ... geboren worden. Der Ehemann der Klägerin, der am xx.xx.1994 geborene Herr R...F... (Stammberechtigter), ebenfalls syrischer Staatsangehöriger, verließ am 1. November 2015 seine syrische Heimat, reiste im November 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 27. November 2015 bei dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) einen Asylantrag. In der von ihm unterschriebenen Niederschrift zu seinem Asylantrag wurde er als ledig bezeichnet. Entsprechendes gab er in dem Fragebogen zu seinem Asylantrag an. Mit Bescheid vom 19. Juli 2016 erkannte das Bundesamt ihm unter Ablehnung seines Asylantrages im Übrigen den subsidiären Schutzstatus zu. Seine gegen die teilweise Ablehnung zu dem Verwaltungsgericht Berlin erhobene Klage (VG 6...) blieb erfolglos. Er ist im Besitz einer derzeit bis zum 7. August 2024 gültigen Aufenthaltserlaubnis für subsidiär Schutzberechtigte. Am xx.xx.2020 reichte er ein Schreiben zur Akte der Ausländerbehörde, mit dem er einen Reiseausweis für Ausländer beantragte und zugleich darauf hinwies, dass seine Frau in Syrien lebe und er seit fünf Jahren auf den Familiennachzug warte.
Am 17. April 2021 beantragte die Klägerin bei der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Beirut/Libanon die Erteilung eines Visums zum Zwecke des Familiennachzuges zu dem Stammberechtigten. Mit dem Visumsantrag legte sie unter anderem einen angeblich am 21. Mai 2015 ausgefertigten Scharia-Ehevertrag sowie eine Entscheidung des Scharia-Gerichtes in Aleppo vom 28. Januar 2019 (Az.: 7...; Urteilsnummer: 5...) vor, wonach Herr M... X... den Stammberechtigten in der Verhandlung vertreten habe und mit welcher das Bestehen einer Ehe seit dem 21. Mai 2015 bestätigt wurde. Mit Bescheid vom 17. August 2021 lehnte die Botschaft den Visumsantrag der Klägerin ab. Gegen den Bescheid hat die Klägerin unter dem 17. September 2021 Klage zu dem Verwaltungsgericht Berlin erhoben. Sie beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides der Botschaft in Beirut/Libanon vom 17. August 2021 zu verpflichten, ihr ein Visum zum Zwecke des Familiennachzuges zu erteilen.
[1]Die Klage hat keinen Erfolg.
[2]I. Die als Verpflichtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO –) statthafte Klage, über die nach der Rückübertragung auf die Kammer (§ 6 Abs. 3 Satz 1 VwGO) diese zu entscheiden hat, ist zulässig, aber unbegründet, denn der streitgegenständliche Bescheid der Botschaft der Beklagten in Beirut/Libanon vom 17. August 2021 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Sie hat keinen Anspruch auf Erteilung des begehrten Visums und ebenso wenig auf Neubescheidung ihres Visumsantrages oder jedenfalls auf Aufhebung des Bescheides.
[3]1. ... 2. Ebenso wenig hat die Klägerin einen aus § 6 Abs. 3 Satz 2 AufenthG i. V. m. § 36a Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AufenthG folgenden Anspruch auf Erteilung des begehrten Visums oder jedenfalls auf Neubescheidung ihres Visumsantrages.
[4]Nach § 36a Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AufenthG kann dem Ehegatten eines Ausländers, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 AufenthG besitzt, aus humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Die Kammer hat zwar keine Zweifel daran, dass die Klägerin und der Stammberechtigte verheiratet sind (dazu a.). Sie ist indes zu der Überzeugung gelangt, dass die Ehe nicht schon seit dem 21. Mai 2015 besteht; ein Eheschluss kann erst zu Ende Januar 2019 angenommen werden (dazu b.). Ein Ausnahmefall vom daher erfüllten Regelausschlussgrund des § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG liegt nicht vor (dazu c.).
[5]a. Die Klägerin und der Stammberechtigte sind – entgegen der Auffassung der Beklagten – wirksam miteinander verheiratet, denn das Scharia-Gericht in Aleppo hat mit Entscheidung vom 28. Januar 2019 (Az.: 7...; Urteilsnummer: 5...) festgestellt, dass eine Ehe zwischen der Klägerin und dem Stammberechtigten besteht.
[6]Bei dem genannten Gerichtsbeschluss handelt es sich damit um eine ausländische Entscheidung im Sinne des § 107 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit – FamFG –, durch die das Bestehen einer Ehe zwischen den Beteiligten festgestellt worden ist (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 31. Mai 2016 –
[7]Ordre public-Verstöße, die der Anerkennungsfähigkeit der Entscheidung entgegenstehen könnten (§ 109 Nr. 4 FamFG), liegen nicht vor. Eine Unvereinbarkeit mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts ist gegeben, wenn die Entscheidung mit den der deutschen Rechtsordnung zu Grunde liegenden Gerechtigkeitsvorstellungen in einer Weise in Widerspruch steht, das sie für untragbar gehalten wird (materieller Verstoß) oder auf einem Verfahren beruht, das nach der deutschen Rechtsordnung nicht als ein geordnetes rechtsstaatliches Verfahren angesehen werden kann (verfahrensrechtlicher Verstoß; siehe Bumiller, in: Bumiller/Harders/ Schwamb, FamFG, 12. Aufl. 2019, § 109 Rn. 9 m. w. N.). Dieser Vorbehalt des ordre public international ist dabei vom nationalen (kollisionsrechtlichen) ordre public zu unterscheiden, der zur Anwendung kommt, wenn deutsche Gerichte selbst ausländisches Recht anwenden (z.B. Art. 6 EGBGB). Für die Anerkennung einer ausländischen Entscheidung ist auf den – gegenüber dem nationalen (kollisionsrechtlichen) ordre public – großzügigeren anerkennungsrechtlichen ordre public international abzustellen (BVerwG, Urteil vom 29. November 2012 – BVerwG
[8]Die in Betracht kommenden materiellen (Erwirkung der Entscheidung durch falsche Angaben bzgl. des Hochzeitsdatums) und möglichen verfahrensrechtlichen Verstöße (z.B. unzureichende Sachverhaltsermittlung) gegen den ordre public international wecken zwar Zweifel an dem im Beschluss des Scharia-Gerichts angeführten Datum der Eheschließung, aber nicht an der Eheschließung selbst. Im Übrigen ermittelte das Scharia-Gericht den Sachverhalt, indem es die Eheschließung nicht lediglich den Schilderungen der Klägerin oder der sonstigen mit dem Paar bekannten Personen entnahm, sondern sich auch auf ein Protokoll des Ortsvorstehers bezüglich des Vollzuges der Ehe stützte. Zweifel daran, dass sich die Eheleute (vor der Hinwendung an das Scharia-Gericht) über ihre Eheführung geeinigt hatten, sind dem Gericht nicht ersichtlich. Da aber das Datum der Eheschließung nach dem Rechtsverständnis der Kammer nicht von der Feststellungswirkung nach § 107 Abs. 1 FamFG umfasst ist (dazu sogleich), kann auch eine diesbezügliche Täuschung bzw. ein diesbezüglicher Mangel an Sachverhaltsermittlung keinen Verfahrensverstoß darstellen.
[9]Überdies ergibt sich aus der Visumsakte, dass der Stammberechtigte am 19. Dezember 2018 bei der syrischen Botschaft in Berlin Herrn M...X... eine Sondervollmacht ausstellte, damit ihn dieser beim Abschluss eines Ehevertrages bzw. der Anerkennung eines außerschariagerichtlichen Ehevertrages mit der Klägerin vertreten darf. Besagter Herr X... trat ausweislich der Entscheidung des Scharia-Gerichtes in Aleppo als Vertreter des Stammberechtigten auf, und zwar unter Vorlage der genannten Vollmacht. Dies belegt, dass der Stammberechtigte von dem Verfahren vor dem Scharia-Gericht wusste und in dieses involviert war. Er stand in Kontakt mit seinem Vertreter, der für ihn vor Gericht auftrat. Es ist daher unerheblich, dass sich keine Angaben zu etwaigen Ladungen etc. in der Entscheidung finden.
[10]b. Die Ehe besteht jedoch nicht schon – wie von Klägerin und Stammberechtigten behauptet – seit Mai 2015, sondern frühestens seit dem Urteil des Scharia-Gerichts, also Ende Januar 2019.
[11]aa. Ein Eheschluss am 21. Mai 2015 ist nicht dadurch belegt, dass das Scharia-Gericht in Aleppo mit seiner Entscheidung vom 28. Januar 2019 (Az.: 7...; Urteilsnummer: 5...) ein Bestehen der Ehe seit jenem Tag festgestellt hat.
[12]Der Umfang der Anerkennungsfähigkeit einer ausländischen gerichtlichen Entscheidung nach § 107 Abs. 1 FamFG reicht nur soweit, als das Gericht eine Entscheidung getroffen bzw. das Bestehen einer Ehe festgestellt hat. Enthält die Urkunde des Gerichts darüber hinaus weitere Angaben, zum Beispiel zum Datum der Eheschließung, handelt es sich insoweit (lediglich) um eine öffentliche Urkunde, für die die Beweisregeln des § 98 VwGO i. V. m. §§ 415, 417 und 418 der Zivilprozessordnung – ZPO – gelten (siehe OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 17. Februar 2021 –
[13]Nach § 98 VwGO i. V. m. § 418 ZPO, der auch auf ausländische Urkunden Anwendung findet (vgl. Krafka in Vorwerk/Wolf, Beck’scher Online-Kommentar ZPO, 47. Edition, Stand: 1. Dezember 2022, ZPO § 418 Rn. 1), begründen öffentliche Urkunden, die einen anderen als den in den §§ 415, 417 ZPO bezeichneten Inhalt haben, vollen Beweis der darin bezeugten Tatsachen (Absatz 1). Beruht das Zeugnis indes nicht auf eigener Wahrnehmung der Behörde oder der Urkundsperson, so ist die Vorschrift des ersten Absatzes nur dann anzuwenden, wenn sich aus den Landesgesetzen ergibt, dass die Beweiskraft des Zeugnisses von der eigenen Wahrnehmung unabhängig ist (Absatz 3). Die Beweiskraft einer öffentlichen Urkunde nach § 98 VwGO i. V. m. § 418 Abs. 1 ZPO reicht folglich nur so weit, wie die Angaben der zur Beurkundung befugten Person auf eigenen Handlungen oder Wahrnehmungen beruhen (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 6. Juni 2023 –
[14]bb. Die weiteren im Visums- und Klageverfahren vorgelegten (amtlichen) Unterlagen können ebenfalls nicht belegen, dass eine Ehe schon im Mai 2015 geschlossen wurde. Dies gilt sowohl für die am 4. Januar 2021 ausgestellte Heiratsurkunde des Ministeriums des Inneren – Zivilangelegenheiten – der Arabischen Republik Syrien, in der als Eheschließungsdatum der 21. Mai 2015 angegeben ist, als auch für den ebenfalls am 4. Januar 2021 ausgestellten Auszug aus dem Familienregister, in dem Klägerin und Stammberechtigter jeweils als verheiratet bezeichnet werden. Das Gleiche gilt für den im Klageverfahren vorgelegten, auf den 16. Mai 2019 datierenden und nur auf die Klägerin bezogenen Auszug aus dem Melderegister (Zivilregister) des Postamtes Aleppo, Melde- und Standesamtwesen, Innenministerium, Arabische Republik Syrien, für den Auszug aus dem Melderegister einer Familie derselben Behörde, ausgestellt ebenfalls am 16. Mai 2019 und schließlich für den am 8. Mai 2019 ausgestellten Auszug aus dem Eheregister derselben Behörde.
[15]Es handelt sich bei diesen Unterlagen nicht um „Entscheidungen“ im Sinne des § 107 Abs. 1 FamFG, da diese lediglich etwas angeblich Geschehenes und anschließend Registriertes wiedergeben. Diese stellen ausländische öffentliche Urkunden dar, die einen anderen als den in §§ 415, 417 ZPO bezeichneten Inhalt haben, weil sie weder allesamt eine Erklärung vor noch eine Anordnung durch die ausstellende Behörde wiedergeben. Solche Urkunden können – wie oben dargestellt – gemäß § 418 Abs. 1 und 3 ZPO nur dann den vollen Beweis der darin bezeugten Tatsachen bekunden, wenn diese von der Behörde oder der Urkundsperson selbst wahrgenommen wurden (OVG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 6. Juni 2023 –
[16]cc. Ist der Zeitpunkt einer Eheschließung – wie vorliegend – nicht durch Urkunden belegt, ist anhand aller Umstände des Einzelfalles nach freier Beweiswürdigung des Gerichts (§ 108 Abs. 1 VwGO, § 286 ZPO) zu entscheiden, ob und ggfs. wann im Fall einer behaupteten Eheschließung diese tatsächlich erfolgt und/oder wirksam geschlossen worden ist (siehe VG Berlin, Urteil vom 20. August 2020 –
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