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Verfahrensgang

VG Berlin, Urt. vom 27.09.2023 – 38 K 678/21 V, IPRspr 2023-233

Rechtsgebiete

Anerkennung und Vollstreckung → Ehe- und Kindschaftssachen
Allgemeine Lehren → Ordre public

Leitsatz

Bestätigt ein syrisches Scharia-​Gericht, dass zwischen zwei syrischen Staatsangehörigen eine Ehe besteht (§ 107 Abs. 1 Satz 1 FamFG), so gilt diese Feststellung für den Fall, dass der Anerkennungsfähigkeit des Urteils kein Ordre-public-Verstoß entgegensteht (§ 109 Abs. 1 Nr. 4 FamFG), nicht nur zwischen den Beteiligten, sondern erga omnes. [LS von der Redaktion neu gefasst]

Rechtsnormen

AdWirkG § 5
AufenthG § 6; AufenthG § 25; AufenthG § 36a
EGBGB Art. 6
FamFG § 107; FamFG § 109
VwGO § 6; VwGO § 42; VwGO § 98; VwGO § 108; VwGO § 113
ZPO § 286; ZPO § 415; ZPO § 417; ZPO § 418

Sachverhalt

Die Klägerin ist am ... geboren worden. Der Ehemann der Klägerin, der am xx.xx.1994 geborene Herr R...F... (Stammberechtigter), ebenfalls syrischer Staatsangehöriger, verließ am 1. November 2015 seine syrische Heimat, reiste im November 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 27. November 2015 bei dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) einen Asylantrag. In der von ihm unterschriebenen Niederschrift zu seinem Asylantrag wurde er als ledig bezeichnet. Entsprechendes gab er in dem Fragebogen zu seinem Asylantrag an. Mit Bescheid vom 19. Juli 2016 erkannte das Bundesamt ihm unter Ablehnung seines Asylantrages im Übrigen den subsidiären Schutzstatus zu. Seine gegen die teilweise Ablehnung zu dem Verwaltungsgericht Berlin erhobene Klage (VG 6...) blieb erfolglos. Er ist im Besitz einer derzeit bis zum 7. August 2024 gültigen Aufenthaltserlaubnis für subsidiär Schutzberechtigte. Am xx.xx.2020 reichte er ein Schreiben zur Akte der Ausländerbehörde, mit dem er einen Reiseausweis für Ausländer beantragte und zugleich darauf hinwies, dass seine Frau in Syrien lebe und er seit fünf Jahren auf den Familiennachzug warte.

Am 17. April 2021 beantragte die Klägerin bei der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Beirut/Libanon die Erteilung eines Visums zum Zwecke des Familiennachzuges zu dem Stammberechtigten. Mit dem Visumsantrag legte sie unter anderem einen angeblich am 21. Mai 2015 ausgefertigten Scharia-​Ehevertrag sowie eine Entscheidung des Scharia-​Gerichtes in Aleppo vom 28. Januar 2019 (Az.: 7...; Urteilsnummer: 5...) vor, wonach Herr M... X... den Stammberechtigten in der Verhandlung vertreten habe und mit welcher das Bestehen einer Ehe seit dem 21. Mai 2015 bestätigt wurde. Mit Bescheid vom 17. August 2021 lehnte die Botschaft den Visumsantrag der Klägerin ab. Gegen den Bescheid hat die Klägerin unter dem 17. September 2021 Klage zu dem Verwaltungsgericht Berlin erhoben. Sie beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides der Botschaft in Beirut/Libanon vom 17. August 2021 zu verpflichten, ihr ein Visum zum Zwecke des Familiennachzuges zu erteilen.

Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]Die Klage hat keinen Erfolg.

[2]I. Die als Verpflichtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO –) statthafte Klage, über die nach der Rückübertragung auf die Kammer (§ 6 Abs. 3 Satz 1 VwGO) diese zu entscheiden hat, ist zulässig, aber unbegründet, denn der streitgegenständliche Bescheid der Botschaft der Beklagten in Beirut/Libanon vom 17. August 2021 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Sie hat keinen Anspruch auf Erteilung des begehrten Visums und ebenso wenig auf Neubescheidung ihres Visumsantrages oder jedenfalls auf Aufhebung des Bescheides.

[3]1. ... 2. Ebenso wenig hat die Klägerin einen aus § 6 Abs. 3 Satz 2 AufenthG i. V. m. § 36a Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AufenthG folgenden Anspruch auf Erteilung des begehrten Visums oder jedenfalls auf Neubescheidung ihres Visumsantrages.

[4]Nach § 36a Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AufenthG kann dem Ehegatten eines Ausländers, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 AufenthG besitzt, aus humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Die Kammer hat zwar keine Zweifel daran, dass die Klägerin und der Stammberechtigte verheiratet sind (dazu a.). Sie ist indes zu der Überzeugung gelangt, dass die Ehe nicht schon seit dem 21. Mai 2015 besteht; ein Eheschluss kann erst zu Ende Januar 2019 angenommen werden (dazu b.). Ein Ausnahmefall vom daher erfüllten Regelausschlussgrund des § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG liegt nicht vor (dazu c.).

[5]a. Die Klägerin und der Stammberechtigte sind – entgegen der Auffassung der Beklagten – wirksam miteinander verheiratet, denn das Scharia-​Gericht in Aleppo hat mit Entscheidung vom 28. Januar 2019 (Az.: 7...; Urteilsnummer: 5...) festgestellt, dass eine Ehe zwischen der Klägerin und dem Stammberechtigten besteht.

[6]Bei dem genannten Gerichtsbeschluss handelt es sich damit um eine ausländische Entscheidung im Sinne des § 107 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit – FamFG –, durch die das Bestehen einer Ehe zwischen den Beteiligten festgestellt worden ist (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 31. Mai 2016 – 1 VA 7/15 (IPRspr 2016-299) –, Rn. 1, juris). Ein Urteil, mit dem ein Gericht das Bestehen einer Ehe feststellt, gilt nicht nur zwischen den Beteiligten, sondern auch gegenüber Gerichten und Verwaltungsbehörden. Dies ist ausdrücklich für den Fall nach Feststellung der Anerkennung durch die Landesjustizverwaltung nach § 107 Abs. 1 Satz 1 FamFG geregelt (§ 107 Abs. 9 FamFG; siehe auch § 5 Abs. 2 Satz 1 Adoptionswirkungsgesetz für die Feststellung der Wirksamkeit der Adoption durch das Familiengericht), die Wirkung erga omnes besteht aber auch im Fall des § 107 Abs. 1 Satz 2 FamFG (sog. Heimatstaatentscheidungen, siehe beispielweise Nds. OVG, Urteil vom 29. September 2014 – 11 LB 203/14 (IPRspr 2014-89) –, juris Rn. 23 zur Pflicht der Meldebehörde, eine Scheidung aufgrund eines ausländischen Scheidungsurteils einzutragen; sowie BGH, Beschluss vom 28. November 2018 – XII ZB 21/17 –, MDR 2019, 230 zur Scheidung als Vorfrage einer rechtlichen Vaterschaft; LSG für das Land NRW, Beschluss vom 30. Juni 2015 – L 8 R 1184/13 B (IPRspr 2015-270) –, juris Rn. 28 zum Anspruch auf Witwenrente nach Scheidung aufgrund eines ausländischen Scheidungsurteils; ferner KG, Beschluss vom 4. April 2017 – 1 W 447/16 (IPRspr 2017-302b) –, MDR 2017, 707 zur Scheidung als Vorfrage der Wirksamkeit einer Vaterschaftsanerkennung). Der Einschub in § 107 Abs. 1 FamFG „zwischen den Beteiligten“ bezieht sich auf die „Ehe zwischen den Beteiligten“ nicht darauf, dass die Ehe „zwischen den Beteiligten festgestellt wird“ (dazu VG Berlin, Urteil vom 19. August 2022 – VG 38 K 611/20 V (IPRspr 2022-161) –, juris Rn. 53). Sodann ist der Begriff der „Entscheidung“ weit auszulegen und erfasst sowohl Entscheidungen mit konstitutiver als auch solche mit lediglich feststellender/deklaratorischer Wirkung (siehe etwa BGH, Beschluss vom 10. Dezember 2014 – XII ZB 463/13 (IPRspr 2014-254b) –, NJW 2015, 479, Rn. 22 m. w. N.; Dimmler, in: Sternal, FamFG, 21. Aufl. 2023, § 107 Rn. 18; Sieghörtner, in: Hahne/Schlögel/ Schlünder, Beck’scher Online-​Kommentar FamFG, 47. Edition, Stand: 1. August 2023, § 107 Rn. 8). Darüber hinaus sind auch Entscheidungen von Scharia-​Gerichten von § 107 FamFG erfasst (BGH, Beschluss vom 26. August 2020 – XII ZB 158/18 (IPRspr 2020-109) –, BGHZ 226, 365-387 zu einer Ehescheidung; OLG München, Beschluss vom 3. Juli 2015 – 34 Wx 311/14 (IPRspr 2015-71) –, NJW-​RR 2015, 1349 Rn. 11 zu einer Entscheidung eines äthiopischen Scharia-​Gerichts über das Bestehen einer Ehe; ferner Dimmler, a.a.O., Rn. 21; Sieghörtner, a.a.O., Rn. 10).

[7]Ordre public-​Verstöße, die der Anerkennungsfähigkeit der Entscheidung entgegenstehen könnten (§ 109 Nr. 4 FamFG), liegen nicht vor. Eine Unvereinbarkeit mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts ist gegeben, wenn die Entscheidung mit den der deutschen Rechtsordnung zu Grunde liegenden Gerechtigkeitsvorstellungen in einer Weise in Widerspruch steht, das sie für untragbar gehalten wird (materieller Verstoß) oder auf einem Verfahren beruht, das nach der deutschen Rechtsordnung nicht als ein geordnetes rechtsstaatliches Verfahren angesehen werden kann (verfahrensrechtlicher Verstoß; siehe Bumiller, in: Bumiller/Harders/ Schwamb, FamFG, 12. Aufl. 2019, § 109 Rn. 9 m. w. N.). Dieser Vorbehalt des ordre public international ist dabei vom nationalen (kollisionsrechtlichen) ordre public zu unterscheiden, der zur Anwendung kommt, wenn deutsche Gerichte selbst ausländisches Recht anwenden (z.B. Art. 6 EGBGB). Für die Anerkennung einer ausländischen Entscheidung ist auf den – gegenüber dem nationalen (kollisionsrechtlichen) ordre public – großzügigeren anerkennungsrechtlichen ordre public international abzustellen (BVerwG, Urteil vom 29. November 2012 – BVerwG 10 C 11/12 (IPRspr 2012-280b) –, NVwZ 2013, 427 [429]; BGH, Beschluss vom 5. September 2018 – 13 XII ZB 224/17 (IPRspr 2018-307b) –, NZFam 2018, 983 Rn. 15 m. w. N.; KG Berlin, Beschluss vom 31. Mai 2016 – 1 VA 7/15 (IPRspr 2016-299) –, NJW-​RR 2016, 1161). Mit dem ordre public international ist ein ausländisches Urteil nicht schon dann unvereinbar, wenn das deutsche Gericht – hätte es den Prozess entschieden – zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre; maßgeblich ist vielmehr, ob das Ergebnis der Anwendung ausländischen Rechts im konkreten Fall zu den Grundgedanken der deutschen Regelungen und den in ihnen enthaltenen Gerechtigkeitsvorstellungen in so starkem Widerspruch steht, dass es nach deutscher Vorstellung untragbar erscheint. Auch im Hinblick auf den Grundsatz der Anerkennung ausländischer Entscheidungen ist der Vorbehalt des ordre public international restriktiv zu handhaben (Sieghörtner, in: Hahne/Schlögel/ Schlünder, Beck’scher Online-​Kommentar FamFG, 48. Edition, Stand: 1. November 2023, § 109 Rn. 32 m. w. N.).

[8]Die in Betracht kommenden materiellen (Erwirkung der Entscheidung durch falsche Angaben bzgl. des Hochzeitsdatums) und möglichen verfahrensrechtlichen Verstöße (z.B. unzureichende Sachverhaltsermittlung) gegen den ordre public international wecken zwar Zweifel an dem im Beschluss des Scharia-​Gerichts angeführten Datum der Eheschließung, aber nicht an der Eheschließung selbst. Im Übrigen ermittelte das Scharia-​Gericht den Sachverhalt, indem es die Eheschließung nicht lediglich den Schilderungen der Klägerin oder der sonstigen mit dem Paar bekannten Personen entnahm, sondern sich auch auf ein Protokoll des Ortsvorstehers bezüglich des Vollzuges der Ehe stützte. Zweifel daran, dass sich die Eheleute (vor der Hinwendung an das Scharia-​Gericht) über ihre Eheführung geeinigt hatten, sind dem Gericht nicht ersichtlich. Da aber das Datum der Eheschließung nach dem Rechtsverständnis der Kammer nicht von der Feststellungswirkung nach § 107 Abs. 1 FamFG umfasst ist (dazu sogleich), kann auch eine diesbezügliche Täuschung bzw. ein diesbezüglicher Mangel an Sachverhaltsermittlung keinen Verfahrensverstoß darstellen.

[9]Überdies ergibt sich aus der Visumsakte, dass der Stammberechtigte am 19. Dezember 2018 bei der syrischen Botschaft in Berlin Herrn M...X... eine Sondervollmacht ausstellte, damit ihn dieser beim Abschluss eines Ehevertrages bzw. der Anerkennung eines außerschariagerichtlichen Ehevertrages mit der Klägerin vertreten darf. Besagter Herr X... trat ausweislich der Entscheidung des Scharia-​Gerichtes in Aleppo als Vertreter des Stammberechtigten auf, und zwar unter Vorlage der genannten Vollmacht. Dies belegt, dass der Stammberechtigte von dem Verfahren vor dem Scharia-​Gericht wusste und in dieses involviert war. Er stand in Kontakt mit seinem Vertreter, der für ihn vor Gericht auftrat. Es ist daher unerheblich, dass sich keine Angaben zu etwaigen Ladungen etc. in der Entscheidung finden.

[10]b. Die Ehe besteht jedoch nicht schon – wie von Klägerin und Stammberechtigten behauptet – seit Mai 2015, sondern frühestens seit dem Urteil des Scharia-​Gerichts, also Ende Januar 2019.

[11]aa. Ein Eheschluss am 21. Mai 2015 ist nicht dadurch belegt, dass das Scharia-​Gericht in Aleppo mit seiner Entscheidung vom 28. Januar 2019 (Az.: 7...; Urteilsnummer: 5...) ein Bestehen der Ehe seit jenem Tag festgestellt hat.

[12]Der Umfang der Anerkennungsfähigkeit einer ausländischen gerichtlichen Entscheidung nach § 107 Abs. 1 FamFG reicht nur soweit, als das Gericht eine Entscheidung getroffen bzw. das Bestehen einer Ehe festgestellt hat. Enthält die Urkunde des Gerichts darüber hinaus weitere Angaben, zum Beispiel zum Datum der Eheschließung, handelt es sich insoweit (lediglich) um eine öffentliche Urkunde, für die die Beweisregeln des § 98 VwGO i. V. m. §§ 415, 417 und 418 der Zivilprozessordnung – ZPO – gelten (siehe OVG Berlin-​Brandenburg, Beschluss vom 17. Februar 2021 – OVG 3 M 11/21 –, S. 3 m. w. N.). Gemäß § 98 VwGO i. V. m. § 415 Abs. 1 ZPO begründen Urkunden, die von einer öffentlichen Behörde innerhalb der Grenzen ihrer Amtsbefugnisse oder von einer mit öffentlichem Glauben versehenen Person innerhalb des ihr zugewiesenen Geschäftskreises in der vorgeschriebenen Form aufgenommen sind (öffentliche Urkunden), wenn sie über eine vor der Behörde oder der Urkundsperson abgegebene Erklärung errichtet sind, vollen Beweis des durch die Behörde oder die Urkundsperson beurkundeten Vorganges. Die erhöhte Beweiskraft einer solchen Urkunde erstreckt sich jedoch nur auf die Abgabe der beurkundeten Erklärungen, nicht auf deren inhaltliche Richtigkeit. Gemäß § 98 VwGO i. V. m. § 417 ZPO begründen die von einer Behörde – dazu zählen auch Gerichte – ausgestellten, eine amtliche Anordnung, Verfügung oder Entscheidung enthaltenden öffentlichen Urkunden vollen Beweis ihres Inhalts. Auch insofern beweist die entsprechende Urkunde nicht, dass deren materieller Inhalt richtig ist. Da vorliegend nicht ersichtlich ist, dass die Richter des Ersten Scharia-​Gerichts in Aleppo die Ehe zwischen der Klägerin und dem Stammberechtigten zum genannten Datum im Jahr 2015 selbst verwirklicht oder angeordnet haben (Beweiskraft nach § 415 Abs. 1, § 417 ZPO), gilt die Beweisregelung des § 418 ZPO.

[13]Nach § 98 VwGO i. V. m. § 418 ZPO, der auch auf ausländische Urkunden Anwendung findet (vgl. Krafka in Vorwerk/Wolf, Beck’scher Online-​Kommentar ZPO, 47. Edition, Stand: 1. Dezember 2022, ZPO § 418 Rn. 1), begründen öffentliche Urkunden, die einen anderen als den in den §§ 415, 417 ZPO bezeichneten Inhalt haben, vollen Beweis der darin bezeugten Tatsachen (Absatz 1). Beruht das Zeugnis indes nicht auf eigener Wahrnehmung der Behörde oder der Urkundsperson, so ist die Vorschrift des ersten Absatzes nur dann anzuwenden, wenn sich aus den Landesgesetzen ergibt, dass die Beweiskraft des Zeugnisses von der eigenen Wahrnehmung unabhängig ist (Absatz 3). Die Beweiskraft einer öffentlichen Urkunde nach § 98 VwGO i. V. m. § 418 Abs. 1 ZPO reicht folglich nur so weit, wie die Angaben der zur Beurkundung befugten Person auf eigenen Handlungen oder Wahrnehmungen beruhen (vgl. OVG Berlin-​Brandenburg, Beschluss vom 6. Juni 2023 – OVG 3 M 64/22 –, S. 3 f.; OVG Berlin-​Brandenburg, Beschluss vom 30. April 2012 – OVG 2 N 16.11 –, juris Rn. 4; OVG Berlin-​Brandenburg, Beschluss vom 17. Februar 2021 – OVG 3 M 11/21 –, S. 3 für eine Heiratsurkunde aufgrund eines Anerkennungsbeschlusses eines syrischen Scharia-​Gerichts; OVG Nordrhein-​Westfalen, Beschluss vom 21. Dezember 2020 – 18 B 1183/20 (IPRspr 2020-178) –, Rn. 33 ff., juris.; Krafka in Vorwerk/Wolf, BeckOK ZPO, 47. Edition, Stand: 1. Dezember 2022, ZPO § 418 Rn. 5). Die rechtlichen Schlussfolgerungen, die die Behörde oder Urkundsperson aus diesen Tatsachen zieht, sind nicht von der Beweiskraft umfasst (Krafka in Vorwerk/Wolf, BeckOK ZPO, 47. Edition, Stand: 1. Dezember 2022, ZPO § 418 Rn. 3, 6). Angesichts dessen ist das in der Entscheidung angegebene Datum nicht bindend, und im Wege der freien Beweiswürdigung festzustellen, wann die Ehe geschlossen wurde (OVG Berlin-​Brandenburg, Beschlüsse vom 17. Februar 2021 – OVG 3 M 11/21 –, S. 3; sowie vom 6. Juni 2023 – OVG 3 M 64/22 –, S. 4; OVG Nordrhein-​Westfalen, Beschluss vom 21. Dezember 2020 – 18 B 1183/20 (IPRspr 2020-178) –, Rn. 33 ff., juris).

[14]bb. Die weiteren im Visums- und Klageverfahren vorgelegten (amtlichen) Unterlagen können ebenfalls nicht belegen, dass eine Ehe schon im Mai 2015 geschlossen wurde. Dies gilt sowohl für die am 4. Januar 2021 ausgestellte Heiratsurkunde des Ministeriums des Inneren – Zivilangelegenheiten – der Arabischen Republik Syrien, in der als Eheschließungsdatum der 21. Mai 2015 angegeben ist, als auch für den ebenfalls am 4. Januar 2021 ausgestellten Auszug aus dem Familienregister, in dem Klägerin und Stammberechtigter jeweils als verheiratet bezeichnet werden. Das Gleiche gilt für den im Klageverfahren vorgelegten, auf den 16. Mai 2019 datierenden und nur auf die Klägerin bezogenen Auszug aus dem Melderegister (Zivilregister) des Postamtes Aleppo, Melde- und Standesamtwesen, Innenministerium, Arabische Republik Syrien, für den Auszug aus dem Melderegister einer Familie derselben Behörde, ausgestellt ebenfalls am 16. Mai 2019 und schließlich für den am 8. Mai 2019 ausgestellten Auszug aus dem Eheregister derselben Behörde.

[15]Es handelt sich bei diesen Unterlagen nicht um „Entscheidungen“ im Sinne des § 107 Abs. 1 FamFG, da diese lediglich etwas angeblich Geschehenes und anschließend Registriertes wiedergeben. Diese stellen ausländische öffentliche Urkunden dar, die einen anderen als den in §§ 415, 417 ZPO bezeichneten Inhalt haben, weil sie weder allesamt eine Erklärung vor noch eine Anordnung durch die ausstellende Behörde wiedergeben. Solche Urkunden können – wie oben dargestellt – gemäß § 418 Abs. 1 und 3 ZPO nur dann den vollen Beweis der darin bezeugten Tatsachen bekunden, wenn diese von der Behörde oder der Urkundsperson selbst wahrgenommen wurden (OVG Berlin-​Brandenburg, Beschlüsse vom 6. Juni 2023 – OVG 3 M 64/22 –, S. 3 f.; sowie vom 30. April 2012 – OVG 2 N 16.11 –, juris Rn. 4; OVG Berlin-​Brandenburg, Beschluss vom 17. Februar 2021 – OVG 3 M 11/21 –, S. 3 für eine Heiratsurkunde aufgrund eines Anerkennungsbeschlusses eines syrischen Scharia-​Gerichts). Dies war vorliegend jedoch nicht der Fall, weil die beurkundeten Registereinträge nicht auf der Wahrnehmung der Eheschließung durch die Registerbehörden beruhen, sondern auf den Angaben der Klägerin und des Stammberechtigten.

[16]cc. Ist der Zeitpunkt einer Eheschließung – wie vorliegend – nicht durch Urkunden belegt, ist anhand aller Umstände des Einzelfalles nach freier Beweiswürdigung des Gerichts (§ 108 Abs. 1 VwGO, § 286 ZPO) zu entscheiden, ob und ggfs. wann im Fall einer behaupteten Eheschließung diese tatsächlich erfolgt und/oder wirksam geschlossen worden ist (siehe VG Berlin, Urteil vom 20. August 2020 – VG 23 K 754.18 V –, S. 7 m. w. N.; siehe auch OVG Berlin-​Brandenburg, Beschluss vom 17. Februar 2021 – OVG 3 M 11/21 –, S. 3 f.; BGH, Beschluss vom 5. Juli 2023 – XII ZB 155/20 (IPRspr 2023-307) –, FamRZ 2023, 1618 [1621] Rn. 37). Diese Gesamtwürdigung geht im vorliegenden Fall zu Lasten der Klägerin aus. Die Kammer ist zu der Überzeugung gelangt, dass die Behauptung der Klägerin, die Ehe sei im Mai 2015 geschlossen worden, nicht der Wahrheit entspricht.

[17]...

Fundstellen

LS und Gründe

BeckRS, 2023, 38396

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https://iprspr.mpipriv.de/2023-233

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