Hat das verweisende Gericht die Begründung seiner örtlichen Zuständigkeit nach Art. 26 Abs. 1 Brüssel Ia-VO übersehen, begründet dies nicht den Vorwurf der Willkür, wenn aufgrund der besonderen Zuständigkeitsvorschriften der Brüssel Ia-VO die internationale und örtliche Zuständigkeit eines anderen als des angerufenen Gerichts gegeben ist. Es müssen weitere Umstände hinzukommen, um die Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses nach § 281 ZPO entfallen zu lassen. [LS der Redaktion]
Mit seiner zum Landgericht Ingolstadt erhobenen Klage begehrt der in dessen Bezirk wohnhafte Kläger von der in Italien ansässigen Beklagten Ersatz des Schadens, der ihm wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung aus dem Kauf eines gebrauchten Wohnmobils des Modells xxx entstanden sei.
Mit Verfügung vom 21. Juni 2022 ordnete das Landgericht Ingolstadt die Durchführung eines schriftlichen Vorverfahrens an und wies unter Berufung auf die Entscheidung des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 9. Februar 2022,
[1]II.
[2]Auf die zulässige Vorlage ist die Zuständigkeit des Landgerichts Würzburg auszusprechen.
[3]1. Die Voraussetzungen für die Bestimmung der (örtlichen) Zuständigkeit gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 6, Abs. 2 ZPO (vgl. Schultzky in Zöller, ZPO, 34. Aufl. 2022, § 36 Rn. 34 ff. m. w. N.) durch das Bayerische Oberste Landesgericht liegen vor.
[4]a) ... b) ... 2. Das Landgericht Würzburg ist örtlich zuständig, weil der Verweisungsbeschluss des Landgerichts Ingolstadt gemäß § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO bindend ist.
[5]a) Der Gesetzgeber hat in § 281 Abs. 2 Sätze 2 und 4 ZPO die grundsätzliche Unanfechtbarkeit von Verweisungsbeschlüssen und deren Bindungswirkung angeordnet. Dies hat der Senat im Verfahren nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO zu beachten. Im Falle eines negativen Kompetenzkonflikts innerhalb der ordentlichen Gerichtsbarkeit ist daher grundsätzlich das Gericht als zuständig zu bestimmen, an das die Sache in dem zuerst ergangenen Verweisungsbeschluss verwiesen worden ist. Demnach entziehen sich auch ein sachlich zu Unrecht ergangener Verweisungsbeschluss und die diesem Beschluss zugrunde liegende Entscheidung über die Zuständigkeit grundsätzlich jeder Nachprüfung.
[6]Nach ständiger Rechtsprechung kommt einem Verweisungsbeschluss allerdings dann keine Bindungswirkung zu, wenn dieser schlechterdings nicht als im Rahmen des § 281 ZPO ergangen angesehen werden kann, etwa weil er auf der Verletzung rechtlichen Gehörs beruht, nicht durch den gesetzlichen Richter erlassen wurde oder jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt und deshalb als willkürlich betrachtet werden muss (st. Rspr.; vgl. BGH NJW-RR 2017, 1213 Rn. 15; Beschl. v. 9. Juni 2015,
[7]b) Bei Anlegung dieses Maßstabs entfaltet der Verweisungsbeschluss des Landgerichts Ingolstadt Bindungswirkung.
[8]aa) Zwar hat sich das Landgericht Ingolstadt nicht mit der Frage befasst, ob seine örtliche Zuständigkeit durch rügelose Einlassung gemäß Art. 26 Abs. 1 Brüssel-IaVO begründet wurde, obwohl es zutreffend von der Anwendbarkeit der Brüssel-IaVO ausgegangen ist, deren zeitliche, sachliche und räumliche Anwendungsvoraussetzungen vorliegen (vgl. Nordmeier in Thomas/Putzo, ZPO, 43. Aufl. 2022, Vorb. EuGVVO Rn. 15 - 17). Diese Prüfung hat sich jedoch nicht derart aufgedrängt, dass der Verweisungsbeschluss als willkürlich anzusehen wäre.
[9](1) Art. 26 Abs.1 Brüssel-Ia-VO ist allerdings in einer Fallkonstellation wie der vorliegenden auf die örtliche Zuständigkeit anwendbar.
[10]Nach dieser Norm wird das Gericht eines Mitgliedsstaats zuständig, sofern es nicht bereits nach einer anderen Vorschrift dieser Verordnung zuständig ist, wenn sich der Beklagte vor ihm auf das Verfahren einlässt. Dieser Subsidiaritätsvorbehalt steht der Begründung der örtlichen Zuständigkeit des Landgerichts Ingolstadt durch rügeloses Einlassen nicht entgegen, auch wenn die internationale und örtliche Zuständigkeit eines anderen deutschen Gerichts nach Art. 7 Nr. 2 Brüssel-Ia-VO gegeben ist.
[11]Der Wortlaut des Art. 26 Abs. 1 Satz 1 Brüssel-Ia-VO („das Gericht des Mitgliedsstaats“ und nicht „die Gerichte des Mitgliedsstaats“) spricht dafür, dass es nicht darauf ankommt, ob ein anderes Gericht des Mitgliedsstaats nach Normen der Verordnung, die sowohl die internationale als auch die örtliche Zuständigkeit regeln, zuständig ist. Allein maßgeblich ist vielmehr, ob die Zuständigkeit des konkret angerufenen Gerichts nach anderen Normen zu bejahen ist, womit ein Rückgriff auf Art. 26 Brüssel-Ia-VO entbehrlich ist (zu den Auswirkungen etwa auf die Kognitionsbefugnis des Gerichts vgl. Koechel, IPRax 2020, 524 ff.).
[12]Dieses Verständnis entspricht sowohl der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH, Urt. v. 11. April 2019, C-464/18 - Ryanair, IPRax 2020, 560 Rn. 25 ff.) als auch der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. BGH, Urt. v. 17. März 2015,
[13]Ebenso wird in der Kommentarliteratur wohl einhellig vertreten, Art. 26 Brüssel-IaVO sei „isoliert“ hinsichtlich der örtlichen Zuständigkeit anwendbar, wenn die beklagte Partei ihren (Wohn-)Sitz nicht in dem Mitgliedstaat des angerufenen Gerichts habe und Gerichte dieses Mitgliedstaats zwar nach Art. 7 ff. Brüssel-Ia-VO international zuständig seien, aber nicht das von der Verordnung auch als örtlich zuständig vorgesehene Gericht angerufen worden sei (vgl. Staudinger in Rauscher, Europäisches Zivilprozess und Kollisionsrecht, 5. Aufl. 2021, Art. 26 Brüssel-Ia-VO Rn. 8 Fn. 41; Geimer in Geimer/Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht, 4. Aufl. 2020, Art. 26 EuGVVO Rn. 32; Wagner, EuZW 2021, 572 [578]; Koechel, IPRax 2020, 524 [526] jeweils m. w. N.).
[14](2) Art. 26 Brüssel-Ia-VO verdrängt in seinem Anwendungsbereich die nationalen Vorschriften zur rügelosen Einlassung (vgl. BGH, Beschl. v. 27. Juni 2007,
[15](3) Nach ganz überwiegender Ansicht bedarf es im Gegensatz zu § 39 ZPO für eine - autonom auszulegende - rügelose Einlassung nach Art. 26 Abs. 1 Brüssel-Ia-VO keiner Einlassung in der mündlichen Verhandlung. Ist - wie hier - das schriftliche Vorverfahren gemäß § 276 Abs. 1 ZPO angeordnet worden, stellt die schriftliche Klageerwiderung eine Einlassung im Sinne des Art. 26 Brüssel-Ia-VO dar; erfolgt diese rügelos, so führt bereits dies zur stillschweigenden Prorogation (vgl. BGH, Urt. v. 19. Mai 2015,
[16]Trotz des richterlichen Hinweises vom 21. Juni 2022 hat die Beklagte im vorliegenden Fall in der Klageerwiderung inhaltlich zur Klageschrift Stellung genommen, ohne die Zuständigkeit des Landgerichts Ingolstadt in Frage zu stellen, womit sie sich rügelos im Sinne von Art. 26 Abs. 1 Satz 1 Brüssel-Ia-VO eingelassen hat.
[17](4) Dass das verweisende Gericht, das seine örtliche Zuständigkeit zu Recht verneint hat, weil der Erwerbsort des Fahrzeugs nicht in seinem Bezirk lag (vgl. BayObLG, Beschl. v. 9. Februar 2022,
[18]Im Zusammenhang mit der Prüfung der internationalen und örtlichen Zuständigkeit nach Art. 26 Brüssel-Ia-VO stellen sich vielfältige, häufig umstrittene und schwierige Fragen (vgl. Wagner, EuZW 2021, 572 [577 f]). Dass die Norm Anwendung findet, wenn - wie hier - ein anderes als das angerufene Gericht aufgrund einer besonderen Zuständigkeitsvorschrift der Brüssel-Ia-VO international und örtlich zuständig ist, versteht sich nicht ohne weiteres von selbst (vgl. Koechel, IPRax 2020, 524 [526]). Zwar wird am Ende der vom Landgericht Ingolstadt zitierten Entscheidung des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 9. Februar 2022 (
[19]Auch der Umstand, dass sich die Anforderungen, die im Anwendungsbereich dieser Vorschrift an eine rügelose Einlassung gestellt werden, von denjenigen des § 39 ZPO unterscheiden, musste sich dem Landgericht Ingolstadt angesichts der knappen Ausführungen am Ende der zitierten Entscheidung nicht in einer Weise aufdrängen, dass der Verweisungsbeschluss als schlechthin unhaltbar anzusehen wäre. Auch der Kläger, der vorrangig ein Interesse daran haben könnte, an seinem Wohnortgericht zu klagen, hat weder Art. 26 Brüssel-Ia-VO thematisiert noch den Standpunkt vertreten, das Landgericht Ingolstadt sei jedenfalls örtlich zuständig, weil die Beklagte in ihrer Klageerwiderung dessen Zuständigkeit nicht gerügt hätte. Er hat im Schriftsatz vom 11. Juli 2022 Verweisung an das „nach § 32 ZPO“ zuständige Gericht beantragt und damit auf die innerstaatlichen Zuständigkeitsvorschriften abgestellt. Im Anwendungsbereich des § 39 Abs. 1 ZPO ist jedoch anerkannt, dass das Gericht dem Beklagten nicht stets die Möglichkeit einräumen muss, die Zuständigkeit durch rügeloses Verhandeln zur Hauptsache zu begründen, wenn der Kläger schon vor der mündlichen Verhandlung die Verweisung an das zuständige Gericht beantragt hat (vgl. BGH, Beschl. v. 27. August 2013,
[20]Die mangelnde Erörterung einer Zuständigkeit nach Art. 26 Brüssel-Ia-VO durch das Landgericht Ingolstadt - sei es infolge eines Übersehens der Norm oder einer Fehlinterpretation der Voraussetzungen - stellt im konkreten Einzelfall somit lediglich einen einfachen Rechtsfehler dar, der mangels Hinzutretens weiterer Umstände noch nicht die Bindungswirkung des § 281 ZPO entfallen lässt.
[21]bb) ...