Das Tatbestandsmerkmal "Einlassung" auf das Verfahren in Art. 5 S. 1 EuUntVO umfasst nach unionsrechtlich autonomer Interpretation jede Verteidigungshandlung des Beklagten, die eine Sachentscheidung herbeiführen will, ohne zugleich eine Rüge der Unzuständigkeit auszusprechen. Als Einlassung genügt jede Verteidigungshandlung, die auf eine Klageabweisung zielt, insbesondere ein Antrag auf Klageabweisung.
Die zuständigkeitsbegründende Wirkung des Art. 5 EuUntVO setzt nicht voraus, dass der Beklagte über sein Rügerecht und die Rechtsfolgen der unterlassenen Rüge belehrt worden ist. Eine Art. 26 Abs. 2 Brüssel-Ia-VO oder Art. 8 Abs. 2 EheGüVO entsprechende Regelung enthält Art. 5 EuUnthVO nicht. [LS der Redaktion]
Der in Augsburg wohnhafte Antragsteller mit deutscher Staatsangehörigkeit hat mit Schriftsatz vom 19.1.2021 beim Amtsgericht - Familiengericht - Augsburg einen Antrag auf Abänderung von Kindesunterhalt gestellt. Er begehrt, den bei dem Amtsgericht - Familiengericht - Oberhausen am 17.11.2011 abgeschlossenen Vergleich dahingehend abzuändern, dass der Antragsteller verpflichtet ist, für seinen 2008 geborenen Sohn, den Antragsgegner, Kindesunterhalt in Höhe von 1/2 von 160,2 % des geltenden Mindestbedarfs nach der jeweils gültigen Düsseldorfer Tabelle zu zahlen. Mit Verfügung vom 15.4.2021 hat das Amtsgericht - Familiengericht - Augsburg darauf hingewiesen, dass es sich „international“ nicht für zuständig halte. Der Antragsgegner hat mit Schriftsatz vom 26.4.2021 die Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts gerügt. Der Antragsteller hat mit Schriftsatz vom 7.5.2021 mitgeteilt, dass die Beteiligten ihren letzten gemeinsamen Wohnsitz in Oberhausen gehabt hätten, und Verweisung an das örtlich zuständige Amtsgericht - Familiengericht - Oberhausen beantragt. Mit Beschluss vom 7.6.2021 hat sich das Amtsgericht - Familiengericht - Augsburg für örtlich unzuständig erklärt und das Verfahren auf Antrag des Antragstellers an das Amtsgericht - Familiengericht - Oberhausen verwiesen. Mit Beschluss vom 11.8.2021 hat sich das Amtsgericht - Familiengericht - Oberhausen für örtlich unzuständig erklärt und das Verfahren an das Amtsgericht - Familiengericht - Augsburg zurückverwiesen. Mit Verfügung vom 25.8.2021 hat das Amtsgericht - Familiengericht - Augsburg das Verfahren dem Bayerischen Obersten Landesgericht zur Bestimmungsentscheidung vorgelegt.
[1]II.
[2]Auf die zulässige Vorlage des Amtsgerichts - Familiengericht - Augsburg ist dessen Zuständigkeit auszusprechen.
[3]1. Das Bayerische Oberste Landesgericht ist zur Entscheidung über das Ersuchen berufen.
[4]a) In Unterhaltssachen wie der vorliegenden erfolgt gemäß § 2 AUG i. V. m. § 231 Abs. 1 Nr. 1, § 112 Nr. 1 und § 113 Abs. 1 Satz 2 FamFG die Bestimmung des zuständigen Gerichts nach § 36 ZPO. Das Bayerische Oberste Landesgericht ist nach § 36 Abs. 2 ZPO i. V. m. § 9 EGZPO zuständig für die Bestimmungsentscheidung, weil die Bezirke der am negativen Kompetenzkonflikt beteiligten Gerichte zu den Zuständigkeitsbereichen unterschiedlicher Oberlandesgerichte (München und Düsseldorf) gehören, so dass das für sie gemeinschaftliche im Rechtszug zunächst höhere Gericht der Bundesgerichtshof ist. An dessen Stelle befindet das Bayerische Oberste Landesgericht über das Ersuchen, weil das mit der Rechtssache zuerst befasste Gericht in Bayern liegt. Die genannten Vorschriften sind gemäß § 113 Abs. 1 Satz 2 FamFG in Familienstreitsachen entsprechend anzuwenden. Zu diesen gehören gemäß § 112 Nr. 1 FamFG insbesondere Unterhaltssachen nach § 231 Abs. 1 Nr. 1 FamFG, also Verfahren, die wie das vorliegende die durch Verwandtschaft begründete gesetzliche Unterhaltspflicht betreffen (vgl. BayObLG, Beschl. v. 23. Juli 2020,
[5]b) Die Voraussetzungen für eine Zuständigkeitsbestimmung gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO liegen vor.
[6]Das Amtsgericht - Familiengericht - Augsburg hat sich durch unanfechtbaren Verweisungsbeschluss vom 7. Juni 2021 (§ 2 AUG, § 113 Abs. 1 Satz 2 FamFG i. V. m. § 281 Abs. 2 Satz 2 ZPO) für unzuständig erklärt, das Amtsgericht - Familiengericht - Oberhausen durch die zuständigkeitsverneinende Entscheidung vom 23. Juni 2021 sowie durch den unanfechtbaren Verweisungsbeschluss vom 11. August 2021. Die jeweils ausdrücklich ausgesprochene Leugnung der eigenen Zuständigkeit erfüllt das Tatbestandsmerkmal „rechtskräftig“ im Sinne des § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO (st. Rspr. vgl. BGH, Beschl. v. 15. August 2017,
[7]2. Das Amtsgericht - Familiengericht - Augsburg ist für das Verfahren örtlich zuständig. Dessen Verweisungsbeschluss vom 7. Juni 2021 entfaltet ausnahmsweise keine Bindungswirkung, wohl aber der des Amtsgerichts - Familiengericht - Oberhausen vom 11. August 2021, § 2 AUG, § 113 Abs. 1 Satz 2 FamFG i. V. m. § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO.
[8]a) Der Verweisungsbeschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Augsburg hat die Zuständigkeit des Amtsgerichts - Familiengericht - Oberhausen nicht begründet.
[9]aa) Allerdings sind im Interesse der Prozessökonomie und zur Vermeidung von Zuständigkeitsstreitigkeiten und dadurch bewirkten Verzögerungen und Verteuerungen des Verfahrens Verweisungsbeschlüsse gemäß § 2 AUG, § 113 Abs. 1 Satz 2 FamFG, § 281 Abs. 2 Sätze 2 und 4 ZPO unanfechtbar und für das Gericht, an welches verwiesen wird, grundsätzlich bindend. Dies entzieht auch einen sachlich zu Unrecht ergangenen Verweisungsbeschluss und die diesem Beschluss zugrunde liegende Entscheidung über die Zuständigkeit grundsätzlich jeder Nachprüfung (vgl. BGH, Beschl. v. 13. Dezember 2005,
[10]Jedoch entfällt die Bindungswirkung dann, wenn der Verweisungsbeschluss schlechterdings nicht als im Rahmen des § 2 AUG, § 113 Abs. 1 Satz 2 FamFG, § 281 ZPO ergangen anzusehen ist, etwa weil er auf einer Verletzung rechtlichen Gehörs beruht, nicht durch den gesetzlichen Richter erlassen wurde oder jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt und deshalb als objektiv willkürlich betrachtet werden muss (st. Rspr.; vgl. BGH NJW-RR 2017, 1213 Rn. 15; Beschl. v. 9. Juni 2015,
[11]bb) Nach diesen Maßstäben bindet der Verweisungsbeschluss vom 7. Juni 2021 nicht.
[12]Eine Verletzung des Willkürverbots liegt nicht schon in jeder fehlerhaften Anwendung des einfachen Rechts, sondern kommt nur in seltenen Ausnahmefällen in Betracht. Selbst eine zweifelsfrei fehlerhafte Gesetzesanwendung begründet noch keinen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Für die Annahme eines Verstoßes gegen das Willkürverbot ist vielmehr erforderlich, dass die Rechtsanwendung krass fehlerhaft und unter Berücksichtigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruht (vgl. BVerfG, Beschl. v. 8. Dezember 2020,
[13]Ein solcher Fall liegt hier vor. Das Amtsgericht - Familiengericht - Augsburg ist zwar zutreffend von der Anwendbarkeit der Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 4/2009 des Rates vom 18. Dezember 2008 über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen (im Folgenden: EuUnthVO) ausgegangen (s. u. b] bb] [1]). Die Auffassung, die Zuständigkeit des Amtsgerichts - Familiengericht - Oberhausen, folge aus § 27 AUG i. V. m. Art. 6 EuUntVO entbehrt jedoch jeder Rechtsgrundlage. Dabei kann dahinstehen, ob die der Verweisung wohl zugrundeliegende Ansicht, die vom Antragsgegner erst mit Schriftsatz vom 26. April 2021 erhobene Rüge der Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts stehe einer Zuständigkeit des Amtsgerichts - Familiengericht - Augsburg nach Art. 5 EuUnthVO entgegen, als willkürlich anzusehen ist. Denn für die Zuständigkeit des Amtsgerichts Oberhausen ist - bei unterstellter Anwendung von Art. 6 EuUnthVO i. V. m. § 27 AUG - nichts ersichtlich. Liegen die Voraussetzungen einer internationalen Auffangzuständigkeit deutscher Gerichte nach Art. 6 EuUnthVO vor, bestimmt sich die örtliche Zuständigkeit nach § 27 AUG (vgl. Wurmnest in BeckOGK, Stand: 1. Dezember 2020, EU-UnterhaltsVO Art. 6 Rn. 19). Danach ist das Amtsgericht örtlich zuständig, welches für den Sitz desjenigen Oberlandesgerichts zuständig ist, in dessen Bezirk die Beteiligten ihren letzten inländischen gemeinsamen Wohnsitz hatten. Das Amtsgericht hat im Verweisungsbeschluss die Norm zwar genannt und zuvor in der Hinweisverfügung vom 5. Mai 2021 eine entsprechende Kommentarstelle zitiert, den zentralen Regelungsgehalt der Norm aber völlig unberücksichtigt gelassen. Die Beteiligten hatten ihren letzten gemeinsamen Wohnsitz in Oberhausen, also im Bezirk des Oberlandesgerichts Düsseldorf. Die Verweisung an das Amtsgericht Oberhausen statt an das Amtsgericht Düsseldorf ist somit nicht mehr verständlich.
[14]Es kann dahinstehen, ob der Verweisungsbeschluss zudem unter Verstoß gegen das Gebot des rechtlichen Gehörs ergangen ist, weil das Amtsgericht - Familiengericht - Augsburg abweichend von dem zuvor erteilten Hinweis nicht auf den Sitz des Oberlandesgerichts, in dessen Bezirk die Beteiligten ihren letzten inländischen gemeinsamen Wohnsitz hatten, abgestellt hat, sondern auf den letzten gemeinsamen Wohnsitz im Inland. Aus Art. 103 Abs. 1 GG folgt das Verbot von "Überraschungsentscheidungen". Von einer solchen ist auszugehen, wenn sich eine Entscheidung ohne vorherigen richterlichen Hinweis auf einen Gesichtspunkt stützt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nicht zu rechnen brauchte (st. Rspr., vgl. BVerfG, Beschl. v. 13. Februar 2019,
[15]b) Der Verweisungsbeschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Oberhausen entfaltet Bindungswirkung, mit der Folge, dass das Amtsgericht - Familiengericht - Augsburg als örtlich zuständiges Gericht zu bestimmen ist.
[16]aa) Der Rückverweisung stand aus den oben dargestellten Gründen die Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses nicht entgegen. Entfaltet die Erstverweisung ausnahmsweise keine Bindungswirkung, wird vertreten, das Gericht, an das verwiesen worden sei und das sich nach den Zuständigkeitsvorschriften nicht für zuständig halte, könne das Verfahren mit einem Beschluss nach § 281 ZPO, also nach erneuter Anhörung der Parteien, zurück- oder auch weiterverweisen (vgl. OLG Frankfurt a. M., Beschl. v. 17. November 2015,
[17]bb) Es ist nicht ersichtlich, dass dem rückverweisenden Beschluss aus anderen Gründen keine Bindungswirkung zukäme. Der Beschluss ist nicht unter Verstoß gegen das Gebot rechtlichen Gehörs ergangen, so dass der Umstand, dass die Verweisung ohne ausdrücklichen Antrag erfolgte, der Bindungswirkung nicht entgegensteht (vgl. BGH, Beschl. v. 22. Oktober 1997,
[18](1) Die EuUnthVO ist in sachlicher und zeitlicher Hinsicht anwendbar (Art. 1 Abs. 1 und Art. 75 Abs. 1 EuUnthVO). Die Zuständigkeitsvorschriften der EuUnthVO gelten universal, greifen also auch dann ein, wenn der Antragsgegner seinen Aufenthalt nicht in einem Mitgliedstaat hat (Borth/Grandel in Musielak/Borth, FamFG, 6. Aufl. 2018, Vorb zu §§ 98 ff., Rn. 19; Sieghörtner in BeckOK FamFG, 40. Ed. Stand: 1. Oktober 2021, VO (EG) 4/2009 Art. 1 Rn. 17).
[19](2) Art. 5 EuUnthVO ist - anders als Art. 4 nach dessen Absatz 3 - auch bei Unterhaltsverfahren über den Kindesunterhalt anzuwenden (vgl. Lipp in Münchener Kommentar zum FamFG, 3. Aufl. 2019, EG-UntVO Art. 5 Rn. 6) und verdrängt die nationalen Vorschriften zur rügelosen Einlassung (Lipp a. a. O. Rn. 9).
[20]Ein nach den Vorschriften der EuUnthVO an sich unzuständiges Gericht wird gemäß Art. 5 Satz 1 EuUnthVO zuständig, wenn sich die beklagte Partei vor ihm „auf das Verfahren einlässt“. Das Tatbestandsmerkmal „Einlassung“ auf das Verfahren ist unionsrechtlich autonom zu interpretieren (OLG Koblenz, Beschl. v. 18. März 2015,
[21]Die Verweisung an das Amtsgericht - Familiengericht - Augsburg, weil dieses durch die rügelose Einlassung des Antragsgegners im Schriftsatz vom 14. April 2021 zuständig geworden sei, ist daher keinesfalls willkürlich, sondern ohne weiteres nachvollziehbar, wenn nicht sogar naheliegend.