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Verfahrensgang

BGH, Beschl. vom 08.02.2018 – IX ZB 10/18, IPRspr 2018-293

Rechtsgebiete

Anerkennung und Vollstreckung → Vermögensrechtliche Angelegenheiten
Zuständigkeit → Durchführung des Verfahrens (bis 2019)

Leitsatz

Nach Art. 46 EuGVO alte Fassung kann auf Antrag des Schuldners das Verfahren der Vollstreckbarkeitserklärung ausgesetzt werden, wenn gegen die Entscheidung im Ursprungsmitgliedstaat (hier: Polen) ein ordentlicher Rechtsbehelf eingelegt worden ist. Dies ist der Fall, wenn die Antragsgegnerin gegen das ausländische Urteil (hier: Urteil des Appellationsgerichts Krakau) eine Kassationsbeschwerde erhoben hat.

Der Umstand, dass ein Rechtsbehelf eingelegt worden ist, rechtfertigt für sich genommen noch nicht die Aussetzung des Verfahrens über die Vollstreckbarkeitserklärung, denn Art. 38 I EuGVO alte Fassung lässt ebenso wie Art. 39 EuGVO und wie früher Art. 31 des Brüsseler Übereinkommens vom 27.9.1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EuGVÜ Brüssel) eine Vollstreckbarkeitserklärung nicht rechtskräftiger Entscheidungen grundsätzlich zu. [LS der Redaktion]

Rechtsnormen

AVAG § 1; AVAG § 15; AVAG § 22
EuGVVO 1215/2012 Art. 39; EuGVVO 1215/2012 Art. 52; EuGVVO 1215/2012 Art. 66
EUGVVO 44/2001 Art. 36; EUGVVO 44/2001 Art. 38; EUGVVO 44/2001 Art. 46
EuGVÜ Art. 31; EuGVÜ Art. 34
ZPO § 574

Sachverhalt

[Siehe auch den nachgehende Beschuss des BGH vom 19.7.2018 in diesem Band (IPRspr 2018-298).]


Durch Urteil des Appellationsgerichts Krakau (Polen) vom 22.12.2016 ist die AGg. zur Abgabe einer auf ihrer Internetseite zu veröffentlichenden Entschuldigung verurteilt worden. Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Nach Darstellung der AGg. hat das Polnische Oberste Gericht die von ihr, der AGg., eingelegte Kassationsbeschwerde zugelassen und zur Untersuchung in einer mündlichen Verhandlung überwiesen.

Der ASt. hat beantragt, das genannte Urteil des Appellationsgerichts Krakau im Inland für vollstreckbar zu erklären. Das LG hat antragsgemäß entschieden. Die sofortige Beschwerde der AGg. ist erfolglos geblieben. Das Beschwerdegericht hat die Zwangsvollstreckung bis zum Ablauf der Frist zur Einlegung der Rechtsbeschwerde auf Sicherungsmaßregeln beschränkt. Eine Aussetzung des Verfahrens wegen der Kassationsbeschwerde hat das Beschwerdegericht abgelehnt. Mit ihrer rechtzeitig eingelegten und begründeten Rechtsbeschwerde will die AGg. die Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen und die Abweisung des Antrags auf Vollstreckbarkeitserklärung erreichen. Sie beantragt vorab, das Verfahren der Klauselerteilung auszusetzen sowie anzuordnen, dass bis zur Entscheidung über die Rechtsbeschwerde die Zwangsvollstreckung aus diesem Urteil nicht über Maßregeln zur Sicherung hinausgehen darf.

Aus den Entscheidungsgründen:

II. [3] Der Antrag auf Aussetzung des Verfahrens der Vollstreckbarkeitserklärung bleibt ohne Erfolg.

[4] 1. Grundlage der Entscheidung über den Aussetzungsantrag ist Art. 46 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 22.12.2000 (EuGVO a.F.). Die Klage des ASt. ist im Jahr 2014 eingereicht worden. Gemäß Art. 66 II der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12.12.2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EuGVO) gilt deshalb noch die Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 22.12.2000. Daneben sind die Vorschriften des Anerkennungs- und Vollstreckungsausführungsgesetzes vom 19.2.2001 i.d.F. vom 30.11.2015 (BGBl. I 2146, AVAG) anzuwenden. Zwar verweist § 1 AVAG nicht mehr auf die EuGVO a.F. Die dadurch entstandene unbeabsichtigte Regelungslücke – es gibt keine Ausführungsvorschriften mehr für Verfahren alten Rechts – ist nach gefestigter Rechtsprechung des BGH durch eine analoge Anwendung der Vorschriften des AVAG zu schließen (BGH, Beschl. vom 17.5.2017 – VII ZB 64/15 (IPRspr 2017-280), WM 2017, 1261 Rz. 13; vom 31.5.2017 – VII ZB 2/17 (IPRspr 2017-281), WM 2017, 1422 Rz. 5; jeweils m.w.N.).

[5] 2. Nach Art. 46 EuGVO a.F. kann auf Antrag des Schuldners das Verfahren der Vollstreckbarkeitserklärung ausgesetzt werden, wenn gegen die Entscheidung im Ursprungsmitgliedstaat ein ordentlicher Rechtsbehelf eingelegt worden ist. Diese Voraussetzung ist hier erfüllt. Die AGg. hat gegen das Urteil des Appellationsgerichts Krakau eine Kassationsbeschwerde erhoben. Der Senat hat nunmehr nach pflichtgemäßem Ermessen über den Aussetzungsantrag zu entscheiden. Der Umstand, dass ein Rechtsbehelf eingelegt worden ist, rechtfertigt für sich genommen noch nicht die Aussetzung des Verfahrens über die Vollstreckbarkeitserklärung, denn Art. 38 I EuGVO a.F. lässt ebenso wie Art. 39 EuGVO und wie früher Art. 31 des Brüsseler Übereinkommens vom 27.9.1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EuGVÜ Brüssel) eine Vollstreckbarkeitserklärung nicht rechtskräftiger Entscheidungen grundsätzlich zu (EuGH, Urt. vom 4.10.1991 – B. J. van Dalfsen u.a. ./. B. van Loon und T. Berendsen, Rs C-183/90, juris Rz. 28 f. zu Art. 38 EuGVÜ; vgl. auch MünchKommZPO-Gottwald, 5. Aufl., Art. 51 VO (EU) 1215/2012 Rz. 1). Eine Aussetzung kommt deshalb nur in Ausnahmefällen in Betracht, insbes. dann, wenn der Rechtsbehelf im Ursprungsmitgliedstaat Aussicht auf Erfolg verspricht. Da die Entscheidung, die vollstreckt werden soll, vom Gericht des Vollstreckungsstaats aber keinesfalls in der Sache nachgeprüft werden darf (Art. 36 EuGVO a.F., Art. 52 EuGVO, Art. 34 III EuGVÜ Brüssel), kann die Erfolgsaussicht des Rechtsbehelfs nicht mit Umständen begründet werden, die schon Gegenstand der Verhandlung vor dem Gericht des Ausgangsstaats waren (EuGH, Urt. vom 4.10.1991 aaO Rz. 32 zu Art. 38 EuGVÜ; BGH, Beschl. vom 21.4.1994 – IX ZB 8/94 (IPRspr. 1994 Nr. 163), NJW 1994, 2156, 2157 zu Art. 38 I EuGVÜ; Kropholler-v. Hein, Europäisches Zivilprozessrecht, 9. Aufl., Art. 46 EuGVO Rz. 5; Saenger-Dörner, ZPO, 7. Aufl., Art. 51 EuGVVO Rz. 5; krit. Geimer-Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht, 3. Aufl., Art. 46 EuGVVO Rz. 18 ff; Stein-Jonas-Oberhammer, ZPO, 22. Aufl., Art. 46 EuGVVO Rz. 9). Neue, im bisherigen Rechtsstreit vor den polnischen Gerichten noch nicht vorgetragene Umstände, die nach polnischem Recht eine Aufhebung des Urteils des Appellationsgerichts Krakau erwarten lassen, weist die Begründung der Rechtsbeschwerde und des Aussetzungsantrags nicht nach.

III. [6] Auf Antrag der AGg. wird die Zwangsvollstreckung aus dem Urteil des Appellationsgerichts Krakau vom 22.12.2016 bis zur Entscheidung über die Rechtsbeschwerde gemäß § 22 III AVAG auf Maßregeln zur Sicherung beschränkt. Die AGg. hat dargelegt, dass eine weitergehende Vollstreckung für sie einen nicht zu ersetzenden Nachteil mit sich bringen würde. Die Verurteilung ist auf die Veröffentlichung einer vorformulierten Entschuldigung gerichtet. Eine Vollstreckung würde bedeuten, dass die AGg. diese Erklärung veröffentlichen müsste, bevor der Senat über die Frage der Vollstreckbarkeit im Inland entschieden hat. Die nach § 15 I AVAG, § 574 I 1 Nr. 1 ZPO statthafte sowie fristgerecht eingelegte und begründete Rechtsbeschwerde der AGg. ist nicht offensichtlich aussichtslos (vgl. hierzu BGH, Beschl. vom 17.6.2009 – XII ZB 82/09 (IPRspr 2009-245), FamRZ 2009, 1402 Rz. 8 m.w.N).

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