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Verfahrensgang

BGH, Beschl. vom 17.05.2017 – VII ZB 64/15, IPRspr 2017-280

Rechtsgebiete

Anerkennung und Vollstreckung → Vermögensrechtliche Angelegenheiten

Leitsatz

Der gemäß § 20 II AVAG vorgeschriebene Nachweis der Sicherheitsleistung durch öffentliche Urkunde bei einer Zwangsvollstreckung aus einem ausländischen (hier: italienischen) Titel, der auf Leistung von Geld lautet, kann ausnahmsweise entbehrlich sein, wenn sich der Einwand des Gläubigers, der Nachweis der Sicherheitsleistung sei nicht durch öffentliche Urkunde geführt, als rechtsmissbräuchlich erweist (§ 242 BGB).

Liegen im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung die Voraussetzungen des Art. 47 III EuGVO alter Fassung nicht vor, kommt es nicht entscheidend darauf an, ob die Erteilung eines Zeugnisses nach § 23 AVAG unter der Geltung des Art. 47 III EuGVO alter Fassung überhaupt zur Voraussetzung einer unbeschränkten Vollstreckung aus einem ausländischen Titel gemacht werden darf, wenn die Vollstreckungsklausel zunächst nur mit der Maßgabe erteilt worden ist, dass die Zwangsvollstreckung über Maßregeln zur Sicherung nicht hinausgehen darf. [LS der Redaktion]

Rechtsnormen

AVAG § 1; AVAG § 20; AVAG § 23
BGB § 242
EuGVVO 1215/2012 Art. 66
EUGVVO 44/2001 Art. 43; EUGVVO 44/2001 Art. 47
ZPO §§ 775 f.; ZPO §§ 1110 ff.

Sachverhalt

Die Gl. erwirkte gegen die Schuldnerin einen Beschluss des ordentlichen Gerichts R./Italien vom 15.6. 2015. Nachdem das LG M. diesen Titel antragsgemäß für vollstreckbar erklärt hatte, erteilte es am 7.9.2015 die Vollstreckungsklausel mit der Maßgabe, dass die Zwangsvollstreckung zunächst über Maßregeln zur Sicherung nicht hinausgehen dürfe und die Schuldnerin sie solange durch Leistung einer Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Anspruchs abwenden könne.

Auf Antrag der Gl. hat das AG – Vollstreckungsgericht – am 9.10.2015 einen Pfändungsbeschluss erlassen, mit dem Forderungen der Schuldnerin gegen die Drittschuldnerin gepfändet worden sind. Hiergegen hat die Schuldnerin im Rahmen einer „Beschwerde“ eingewandt, dass sie mittlerweile Sicherheit geleistet habe. Das AG hat den Pfändungsbeschluss vom 9.10.2015 aufgehoben. Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde der Gl. hat das BeschwG mit Beschluss vom 11.11.2015 zurückgewiesen. Im Rechtsbeschwerdeverfahren hat die Gl. eine Ablichtung des Beschlusses des OLG M. vom 18.4.2016 vorgelegt, mit dem die Beschwerde der Schuldnerin gegen den Beschluss des LG M. vom 25.8.2015 verworfen und der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Beschwerdefrist zurückgewiesen worden ist, sowie eine Ablichtung eines vom LG M. gemäß § 23 AVAG erteilten Zeugnisses vom 3.5.2016, wonach die Zwangsvollstreckung aus dem zugrunde liegenden Titel unbeschränkt stattfinden darf. Die Schuldnerin hat daraufhin ihren Antrag auf Einstellung der Zwangsvollstreckung und auf Aufhebung der bereits getroffenen Vollstreckungsmaßnahme für erledigt erklärt. Die Gl. hat der Erledigungserklärung zugestimmt.

Aus den Entscheidungsgründen:

II. ... [9] 2. Das BeschwG hat im Ergebnis ... zu Recht entschieden, dass die Aufhebung des Pfändungsbeschlusses vom 9.10.2015 nach § 20 II AVAG, der den §§ 775 Nr. 3, 776 Satz 1 ZPO inhaltlich entspricht, zu Recht erfolgt ist.

[10] Gemäß § 20 I AVAG ist der Verpflichtete, solange die Zwangsvollstreckung aus einem Titel, der auf Leistung in Geld lautet, nicht über Maßregeln der Sicherung hinausgehen darf, befugt, die Zwangsvollstreckung durch Leistung einer Sicherheit in Höhe des Betrags abzuwenden, wegen dessen der Berechtigte vollstrecken darf. Die Zwangsvollstreckung ist einzustellen und bereits getroffene Vollstreckungsmaßregeln sind aufzuheben, wenn der Verpflichtete durch eine öffentliche Urkunde die zur Abwendung der Zwangsvollstreckung erforderliche Sicherheit nachweist, § 20 II AVAG ...

[12] b) ... Der von der Schuldnerin nach § 20 II AVAG zu führende Nachweis durch öffentliche Urkunde, dass sie die erforderliche Sicherheit gestellt habe, war im vorliegenden Fall jedoch ausnahmsweise entbehrlich.

[13] aa) Das BeschwG ist im Ausgangspunkt zutreffend davon ausgegangen, dass auf den Streitfall die Vorschriften des AVAG [2015] anwendbar sind. Zwar ist durch Gesetz vom 8.7.2014 (BGBl. I 890) ... die EuGVO a.F. aus dem Anwendungsbereich nach § 1 AVAG herausgenommen worden. Für die EuGVO [n.F.] gelten nunmehr §§ 1110 ff. ZPO. Gemäß Art. 66 II EuGVO bleibt aber für Entscheidungen, die in vor dem 10.1.2015 eingeleiteten Verfahren ergangen sind, die EuGVO a.F. anwendbar. Nach der Änderung des AVAG fehlen allerdings Ausführungsvorschriften für diese der EuGVO a.F. unterfallenden Altverfahren. Eine Übergangsregelung hat der Gesetzgeber nicht geschaffen. Dabei handelt es sich um eine planwidrige Regelungslücke, die durch analoge Anwendung der Vorschriften des AVAG zu schließen ist (vgl. Musielak-Voit-Lackmann, ZPO, 12. Aufl., Vor AVAG Rz. 1a; Rauscher-Staudinger, EuZPR/EuIPR, Bd. I, 4. Aufl., Einl. EuGVO Rz. 31 a.E.; Hau, MDR 2014, 1417, 1420).

[14] bb) Entgegen der Ansicht des BeschwG ist der Nachweis der Sicherheitsleistung durch öffentliche Urkunde nicht bereits dann entbehrlich, wenn es eines Beweises der vom Schuldner behaupteten Tatsachen nach den allgemeinen Grundsätzen des Zivilprozessrechts nicht bedürfte. Der Schuldner hat nach § 20 II AVAG die Leistung der Sicherheit zur Abwendung der Zwangsvollstreckung durch öffentliche Urkunde nachzuweisen, ohne dass es insoweit auf die Beweisbedürftigkeit dieses Umstands ankommt. Diese Verpflichtung trägt der strengen Formalisierung des Zwangsvollstreckungsverfahrens Rechnung.

[15] cc) Der Nachweis der Sicherheitsleistung durch Vorlage einer öffentlichen Urkunde gemäß § 20 II AVAG kann jedoch ausnahmsweise entbehrlich sein, wenn sich der Einwand des Gläubigers, der Nachweis der Sicherheitsleistung sei nicht durch öffentliche Urkunde geführt, als rechtsmissbräuchlich erweist (§ 242 BGB).

[16] (1) Der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung ist auch im Zwangsvollstreckungsverfahren zu berücksichtigen. Das in § 242 BGB verankerte Prinzip von Treu und Glauben bildet eine allen Rechten immanente Inhaltsbegrenzung (Palandt-Grüneberg, BGB, 76. Aufl., § 242 Rz. 38 m.w.N.; MünchKomm-Schubert, 7. Aufl., § 242 Rz. 2). Welche Anforderungen sich daraus im Einzelfall ergeben, ob insbes. die Berufung auf eine erworbene Rechtsposition rechtsmissbräuchlich erscheint, kann regelmäßig nur mit Hilfe einer umfassenden Bewertung der gesamten Fallumstände entschieden werden (vgl. BGH, Urt. vom 14.6.2016 – XI ZR 242/15, NJW 2016, 3158 Rz. 40; Urt. vom 16.2.2005 – IV ZR 18/04, NJW-RR 2005, 619, 620, juris Rz. 25 m.w.N.). Der Einwand des Gläubigers, der nach § 20 II AVAG vorgeschriebene Nachweis der Sicherheitsleistung durch Vorlage einer öffentlichen Urkunde fehle, verstößt jedenfalls dann gegen § 242 BGB, wenn dies zu einem mit Treu und Glauben unvereinbaren, schlechthin untragbaren Ergebnis führen würde und sich das Berufen auf die Nichteinhaltung des Formerfordernisses daher als rechtsmissbräuchlich erweist. So liegt der Fall hier.

[17] (2) Die Gl. beruft sich im Beschwerdeverfahren ausschließlich darauf, dass es an einem Nachweis der Sicherheitsleistung in Form einer öffentlichen Urkunde fehle. Sie wendet sich nicht gegen die rechtlich bedenkenfreie Würdigung des BeschwG, aufgrund der von der Schuldnerin vorgelegten Belege über eine Übermittlung der Bürgschaftsurkunde am 9.10.2015 an die Gl. mittels Einwurfeinschreibens sei davon auszugehen, dass dieser die Sicherheit tatsächlich zugegangen sei. Mit ihrem Einwand, es fehle an einem Nachweis der Sicherheitsleistung durch öffentliche Urkunde, ist die Gl. im vorliegenden Fall nach dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) ausgeschlossen, weil dieser sich nach den Umständen als rechtsmissbräuchlich erweist.

[18] Ist mit dem BeschwG davon auszugehen, dass die Bürgschaftsurkunde der Gl. tatsächlich am 9.10.2015 zugegangen ist, ist die Schuldnerin nach den Umständen nicht mehr ohne weiteres in der Lage, diesen Nachweis nachträglich noch zu erbringen. Eine erneute Zustellung des Originals der Bürgschaftsurkunde ist nicht möglich, wenn die Gl. das Original der Bürgschaft bereits in Händen hält. Der Einwand der Gl., der Nachweis der Sicherheitsleistung sei nicht in der erforderlichen Form durch öffentliche Urkunde geführt worden, hätte damit zur Folge, dass die Schuldnerin eine Aufhebung des Pfändungsbeschlusses im Hinblick auf die von ihr gestellte Sicherheit letztlich nicht mehr oder nur mit unverhältnismäßigem Aufwand erreichen könnte. Dieses Ergebnis wäre aber schlechthin untragbar mit der Folge, dass der Nachweis der Sicherheitsleistung durch öffentliche Urkunde hier ausnahmsweise als entbehrlich anzusehen ist.

[19] 3. Die weiteren Einwendungen der Rechtsbeschwerde führen auch unter Billigkeitsgesichtspunkten zu keinem anderen Ergebnis.

[20] a) Entgegen der Auffassung der Gl. hatte das BeschwG bei seiner Entscheidung nicht nach Art. 47 III EuGVO a.F. bereits deswegen von einer unbeschränkten Zulässigkeit der Zwangsvollstreckung auszugehen, mit der Folge, dass der Pfändungsbeschluss wieder zu erlassen gewesen wäre, weil die einmonatige Rechtsbehelfsfrist des Art. 43 V EuGVO a.F. gegen den Beschluss des LG M. vom 25.8.2015 über die Vollstreckbarerklärung des der Zwangsvollstreckung zugrunde liegenden italienischen Titels in diesem Zeitpunkt abgelaufen war ...

[22] b) Auf die Frage, ob die Erteilung eines Zeugnisses nach § 23 AVAG unter der Geltung des Art. 47 III EuGVO a.F. überhaupt zur Voraussetzung einer unbeschränkten Vollstreckung aus einem ausländischen Titel gemacht werden darf, für den die Vollstreckungsklausel zunächst nur mit der Maßgabe erteilt worden ist, dass die Zwangsvollstreckung über Maßregeln zur Sicherung nicht hinausgehen darf, kommt es danach nicht entscheidend an. Denn im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung lagen die Voraussetzungen des Art. 47 III EuGVO a.F., unter denen von einer unbeschränkt zulässigen Vollstreckung auszugehen wäre, nicht vor.

Fundstellen

LS und Gründe

MDR, 2017, 904
NJW-RR, 2017, 1342
Rpfleger, 2017, 562
WM, 2017, 1261

Permalink

https://iprspr.mpipriv.de/2017-280

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