Im Rahmen des Art. 7 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2019/1111 (Brüssel IIb-VO) ist bei sogenannten doppelrelevanten Tatsachen, d.h. solchen Tatsachen, die sowohl die Zuständigkeit wie auch den verfolgten Anspruch begründen, für die Zuständigkeitsfrage die Richtigkeit des Vortrags des Rechtsuchenden zu unterstellen.
Die Kollisionsnormen des Haager Übereinkommens über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern (KSÜ) bestimmen auch dann das maßgebliche Recht, wenn sich die internationale Zuständigkeit aus der vorrangigen Brüssel IIb-VO ergibt. Dies gilt jedenfalls dann, wenn eine Zuständigkeit - bei einer fiktiven Anwendung - auch aus den Art. 5 ff. KSÜ begründet wäre.
Die Frage, bis wann eine Person minderjährig ist und daher eines Vormundes bedarf, ist nach internationalem Privatrecht selbständig anzuknüpfen und entscheidet sich nach dem in Art. 7 Abs. 2 EGBGB normierten Geschäftsfähigkeitsstatut. [LS der Redaktion]
Gegenstand des Verfahrens ist die elterliche Sorge für den aus …/Afghanistan stammenden Betroffenen, der ohne seine Eltern nach Deutschland eingereist ist. Das Jugendamt macht für den Betroffen ein seine Person betreffendes Fürsorgebedürfnis (Feststellung des Ruhens der elterlichen Sorge und Anordnung der Vormundschaft) geltend.
[1]II.
[2]Die statthafte und auch im Übrigen zulässige Beschwerde des Jugendamtes ist begründet.
[3]Gemäß § 1674 BGB ist bezüglich des Betroffenen das Ruhen der elterlichen Sorge beider Elternteile festzustellen und nach § 1773 BGB eine Vormundschaft einzurichten.
[4]1. Die Beschwerde des Jugendamtes … ist zulässig.
[5]a) Die in jeder Lage des Verfahrens zu prüfende internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte ergibt sich aus Art. 7 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2019/1111 des Rates vom 25.06.2019 (Brüssel IIb-VO), da der betroffene Minderjährige seit Einleitung des Verfahrens seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat.
[6]Die für die Anwendung der Art. 7 Abs. 1 Brüssel IIb-VO erforderliche Minderjährigkeit des Betroffenen ist zwar zweifelhaft. Die Frage seiner Minderjährigkeit ist jedoch gleichzeitig notwendige Voraussetzung der vom Jugendamt begehrten Anordnung von Vormundschaft. Bei sogenannten doppelrelevanten Tatsachen, d. h. solchen Tatsachen, die sowohl die Zuständigkeit wie auch den verfolgten Anspruch begründen, ist für die Zuständigkeitsfrage die Richtigkeit des Vortrags des Rechtsuchenden zu unterstellen ( BGH vom 27.10.2009 -
[7]b) ... 2. In der Sache ist gemäß Art. 15 Abs. 1 des Haager Übereinkommens über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern vom 19.10.1996 (KSÜ) deutsches Recht anzuwenden (BGH vom 20.12.2017 -
[8]Die Kollisionsnormen des KSÜ bestimmen auch dann das maßgebliche Recht, wenn sich die internationale Zuständigkeit - wie hier - aus der vorrangigen Brüssel IIb-VO ergibt (Grüneberg/Thorn, a.a.O., Anhang zu Art. 24 EGBGB Rn. 21 m.w.N.). Dies gilt jedenfalls dann, wenn eine Zuständigkeit - bei einer fiktiven Anwendung - auch aus den Art. 5 ff. KSÜ begründet wäre (Senat vom 26.08.2015 -
[9]3. ... a) Der Betroffene ist noch minderjährig und wird erst mit Ablauf des 31.12.2024 das 18. Lebensjahr vollenden.
[10]aa) Volljährigkeit tritt im Falle des Betroffenen mit Vollendung des 18. Lebensjahres ein.
[11]Die Frage, bis wann eine Person als minderjährig gilt, ist nach internationalem Privatrecht selbständig anzuknüpfen (OLG Hamm vom 30.05.2023 -
[12]Die Geschäftsfähigkeit einer Person unterliegt gemäß Art. 7 Abs. 2 Satz 1 EGBGB dem Recht des Staates, in dem die Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat. Der Betroffene lebt jedenfalls seit August 2023 in Deutschland und hat dort seinen gewöhnlichen Aufenthalt, so dass deutsches Sachrecht zur Anwendung kommt. Danach tritt Volljährigkeit mit Vollendung des 18. Lebensjahres ein, § 2 BGB.
[13]Ob der Betroffene, der im Abklärungsbogen für unbegleitete minderjährige Ausländer vom 09.10.2023 die Bedrohung durch die Taliban als Fluchtgrund angegeben hat, als Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK; BGBl. 1953 II S. 559, 560) anzusehen ist, kann vorliegend dahinstehen. Denn die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention führt ebenfalls zur Anwendung deutschen Sachrechts. Gemäß Art. 12 Abs. 1 GFK bestimmt sich das Personalstatut jedes Flüchtlings nach dem Recht des Landes seines Wohnsitzes oder, in Ermangelung eines Wohnsitzes, nach dem Recht seines Aufenthaltslandes.
[14]bb) ...