PDF-Version

Verfahrensgang

OLG Karlsruhe, Beschl. vom 26.08.2015 – 18 UF 92/15, IPRspr 2015-130

Rechtsgebiete

Kindschaftsrecht → Sorgerecht, Vormundschaft

Leitsatz

Die Kollisionsnormen des KSÜ bestimmen auch dann das maßgebliche Recht, wenn sich die internationale Zuständigkeit aus der vorrangigen EuEheVO ergibt. Dies gilt jedenfalls, wenn eine Zuständigkeit (auch) – bei fiktiver Anwendung – aus den Art. 5 ff. KSÜ begründet wäre. [LS der Redaktion]

Rechtsnormen

BGB § 1674
Children'sA 2005 (Gambia) s. 2
EGBGB Art. 7
EuEheVO 2201/2003 Art. 8; EuEheVO 2201/2003 Art. 13; EuEheVO 2201/2003 Art. 61
KSÜ Art. 5 ff.; KSÜ Art. 6; KSÜ Art. 15

Sachverhalt

Gegenstand des Beschwerdeverfahrens ist die vom Betroffenen erstrebte Feststellung, dass die für ihn bestehende elterliche Sorge ruht und ihm daher ein Vormund zu bestellen ist. Der Betroffene wurde Anfang 2015 durch das JugA Freiburg in Obhut genommen, nachdem er sich am Tag seiner Ankunft am Hauptbahnhof bei der Polizei gemeldet hatte. Der Betroffene gab an, minderjährig zu sein. Sein Vater sei verstorben. Mit seiner Mutter und seinem Stiefvater habe er in Gambia gelebt und 11 Jahre die Schule besucht. Sein Stiefvater habe mit anderen Männern einen Putsch gegen den Präsidenten von Gambia geplant. Dieser Putsch sei am 30.12.2014 gescheitert, der Stiefvater erschossen worden. Die Polizei habe seine Mutter und seine Schwestern am 1.1.2015 abgeholt und unter Arrest gestellt. Er habe deshalb fliehen müssen. Das JugA der Stadt Freiburg beantragte, das Ruhen der elterlichen Sorge festzustellen und regte die Einrichtung einer Vormundschaft für den Betroffenen an. Aufgrund der Inaugenscheinnahme des Betroffenen ergaben sich für die zuständige Sachbearbeiterin des JugA gravierende Zweifel an dessen Minderjährigkeit. Mit Beschluss stellte das FamG Freiburg fest, dass die Voraussetzungen für die Feststellung des Ruhens der elterlichen Sorge nicht vorliegen. Gegen diesen Beschluss hat der Betroffene beim AG Freiburg Beschwerde eingelegt.

Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]II. Die zulässige Beschwerde ist unbegründet.

[2]1. Die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte folgt im vorliegenden Fall aus Art. 8 I EuEheVO. Diese Verordnung ist stets anwendbar, wenn das betreffende Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, vgl. Art. 61 lit. a EuEheVO. Wird der gewöhnliche Aufenthalt erst während des anhängigen Verfahrens begründet, führt dies ebenfalls zur Zuständigkeit nach Art. 8 I EuEheVO, sofern noch kein Verfahren im bisherigen Aufenthaltsstaat anhängig gemacht wurde (MünchKomm-FamFG-Gottwald, 2. Aufl. [2013], Art. 8 Rz. 6; Rauscher, EuZPR/EuIPR, Bearb. 2010/2011, Art. 8 EuEheVO Rz. 10).

[3]Der Betroffene kam am 25.1.2015 als unbegleiteter Flüchtling nach Deutschland. Jedenfalls zum Zeitpunkt der Entscheidung ist von einem gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland auszugehen. Denn der Betroffene lebt seit seiner Ankunft in Deutschland ...

[4]Selbst wenn ein gewöhnlicher Aufenthalt des Betroffenen in Deutschland noch nicht anzunehmen wäre, sind die hiesigen Gerichte gemäß Art. 13 I bzw. II EuEheVO für die Sorgerechtsregelung zuständig.

[5]Für die internationale Zuständigkeit ist vorliegend unerheblich, dass die Minderjährigkeit des Betroffenen zweifelhaft ist. Im Hinblick darauf, dass die Frage der Minderjährigkeit gleichzeitig notwendige Voraussetzung der von ihm begehrten Anordnung einer Vormundschaft ist und es sich somit um eine sog. doppelrelevante Tatsache handelt, die sowohl die Zuständigkeit wie auch den verfolgten Anspruch begründet, ist für die Zuständigkeitsfrage die Richtigkeit des Vortrags des Rechtsuchenden zu unterstellen (BGH, Beschl. vom 27.10.2009 – VIII ZB 42/05, NJW 2010, 873, juris Rz. 14 ff.).

[6]2. In der Sache ist gemäß Art. 15 I KSÜ deutsches Recht anwendbar. Nach Art. 15 I KSÜ gilt das Lex-fori-Prinzip. Ist die Zuständigkeit eines Vertragsstaats begründet, wendet dieser sein eigenes Recht an. Dabei ist unerheblich, ob das betreffende Kind Angehöriger eines Vertragsstaats oder eines Drittstaats ist (Palandt-Thorn, BGB, 74. Aufl. [2015], Anh. zu EGBGB 24 Rz. 18).

[7]Die Kollisionsnormen des KSÜ bestimmen auch dann das maßgebliche Recht, wenn sich die internationale Zuständigkeit aus der vorrangigen EuEheVO ergibt (Palandt-Thorn aaO Anh. EGBGB 24 Rz. 21). Dies gilt jedenfalls, wenn eine Zuständigkeit (auch) aus den Art. 5 ff. KSÜ – bei einer fiktiven Anwendung – begründet wäre (OLG Karlsruhe vom 5.3.2013 – 18 UF 298/12 (IPRspr 2013-111), FamRZ 2013, 1238, juris Rz. 11; Solomon, FamRZ 2004, 1409, 1416). Im vorliegenden Fall wäre die internationale Zuständigkeit jedenfalls nach Art. 6 I KSÜ anzunehmen, da es sich bei dem Betroffenen um ein Flüchtlingskind handelt.

[8]3. Danach ist § 1674 I BGB anwendbar. Nach dieser Bestimmung ruht die elterliche Sorge eines Elternteils für ein minderjähriges Kind, wenn das FamG feststellt, dass ein Elternteil auf längere Zeit die elterliche Sorge tatsächlich nicht ausüben kann.

[9]a) Die Frage, wann eine Person als minderjährig gilt, beurteilt sich gemäß Art. 7 I EGBGB nach deren Heimatrecht (MünchKomm-Wagenitz, BGB, 6. Aufl. [2012], § 1773 Rz. 14; Staudinger-Veit, BGB, Neub. 2014, § 1773 Rz. 43). Die Volljährigkeit tritt nach gambischem Recht mit Erreichen des 18. Lebensjahrs ein, vgl. s. 2 (1) Children's Act 2005 (http://www.africanchildforum.org).

Fundstellen

LS und Gründe

FamRZ, 2015, 2182
ZKJ, 2015, 471
NJW, 2016, 87

Bericht

NZFam, 2015, 1028

nur Leitsatz

FamRB, 2016, 55
FF, 2016, 86
FuR, 2016, 182

Permalink

https://iprspr.mpipriv.de/2015-130

Lizenz

Copyright (c) 2024 Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht
Creative-Commons-Lizenz Dieses Werk steht unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
<% if Mpi.live? %> <% end %>