Die Kollisionsnormen des KSÜ bestimmen auch dann das maßgebende Recht, wenn sich die internationale Zuständigkeit aus der vorrangigen EuEheVO ergibt. Dies gilt jedenfalls, wenn eine Zuständigkeit (auch) aus den Art. 5 ff. KSÜ – bei einer fiktiven Anwendung – begründet wäre.
Das Sorgerechtsstatut nach Art. 16 I KSÜ ist grundsätzlich durch die Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts ex nunc wandelbar. Es stellt sich die Frage der Rückwirkung des Art. 16 I KSÜ für die bis zum Inkrafttreten des Abkommens am 1. Januar 2011 abgeschlossenen Tatbestände.
Zur Anwendbarkeit des Art. 16 III KSÜ, wenn sich der Aufenthaltswechsel des Kindes und somit der Verlust der sorgerechtlichen Position eines Elternteils bereits zu einer Zeit vollzogen hat, zu der das KSÜ in der Bundesrepublik Deutschland noch nicht in Kraft getreten war.
Die ASt. und der AGg. sind die Eltern des 2005 in E. (Russland) geborenen Kindes T. Die ASt. besitzt die russische, der AGg. die irische Staatsangehörigkeit. T. lebt seit ihrer Geburt bei der ASt., die im Jahre 2006 mit Einverständnis des AGg. nach Deutschland übergesiedelt ist. Die Eltern sind nicht miteinander verheiratet. Sorgeerklärungen wurden nicht abgegeben. Das FamG Singen hat auf Antrag der ASt. die elterliche Sorge für das gemeinsame Kind T. mit Beschluss auf die ASt. übertragen. Der AGg. hat gegen diesen Beschluss Beschwerde eingelegt.
[1]II. Die zulässige Beschwerde des AGg. hat in der Sache keinen Erfolg.
[2]Das AG – FamG – Singen ist im Ergebnis zutreffend davon ausgegangen, dass der ASt. die alleinige elterliche Sorge für das Kind T. zusteht. Die Ausführungen des AGg. in seiner Beschwerdeschrift rechtfertigen keine andere Beurteilung.
[3]1. Die – vom FamG angenommene – Zuständigkeit der deutschen Gerichte, die bei Fällen mit Auslandsberührung in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen und zu beachten ist, folgt im vorliegenden Falle aus Art. 8 I EuEheVO. Diese Verordnung ist stets anwendbar, wenn das betreffende Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, vgl. Art. 61 lit. a EuEheVO. Grundsätzlich sind nach Art. 8 I EuEheVO die Gerichte des Staats für die Sorgerechtsregelung international zuständig, in dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.
[4]2. Das anzuwendende Recht bestimmt sich nach dem KSÜ.
[5]Die Kollisionsnormen des KSÜ bestimmen auch dann das maßgebende Recht, wenn sich die internationale Zuständigkeit aus der vorrangigen EuEheVO ergibt (Palandt-Thorn, BGB, 72. Aufl., Anh zu EGBGB 24 Rz. 21; Staudinger-Henrich, BGB, 2008, Art. 21 EGBGB Rz. 82; Staudinger-Pirrung aaO [2009] Vorb. Art. 19 EGBGB Rz. C 216; Schulz, FamRZ 2011, 156, 159; Wagner/Janzen, FPR 2011, 110, 112). Dies gilt jedenfalls, wenn eine Zuständigkeit (auch) aus den Art. 5 ff. KSÜ – bei einer fiktiven Anwendung – begründet wäre (BeckOK-BGB-Heiderhoff [Stand 1.2.2013] Art. 21 EGBGB Rz. 12; Solomon, FamRZ 2004, 1409, 1416). Im vorliegenden Fall wäre die internationale Zuständigkeit nach Art. 5 I KSÜ anzunehmen, da das Kind T. seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat.
[6]Gemäß Art. 53 I KSÜ ist das Abkommen auf gerichtliche Maßnahmen anzuwenden, die in einem Staat getroffen werden, nachdem das Übereinkommen für diesen Staat in Kraft getreten ist. Für die Bundesrepublik Deutschland ist das Abkommen am 1.1.2011 in Kraft getreten (BGBl. II 2010, 1527). Soweit es um die zu treffende Sorgerechtsregelung geht, liegt eine Maßnahme im Sinne des Art. 1 I litt. a, b, Art. 3 litt. a, b KSÜ vor.
[7]Nach Art. 15 I KSÜ gilt das Lex-fori-Prinzip. Ist die Zuständigkeit eines Vertragsstaats begründet, wendet dieser sein eigenes Recht an. Vorliegend kommt deswegen deutsches Recht zur Anwendung. Dabei ist unerheblich, ob das betroffene Kind Angehöriger eines Vertragsstaats oder eines Drittstaats ist (Palandt-Thorn aaO Rz. 18 a.E.). Die – der Übertragung des Sorgerechts auf einen Elternteil vorgelagerte – Frage, wem die elterliche Verantwortung für ein Kind kraft Gesetzes zugewiesen ist, bestimmt sich demgegenüber nach dem sich aus Art. 16 KSÜ ergebenden Sorgerechtsstatut.
[8]3. Das AG hat im Ergebnis zu Recht der ASt. die alleinige elterliche Sorge zuerkannt.
[9]Dabei kann dahingestellt bleiben, ob den Eltern nach Übersiedelung der ASt. mit T. nach Deutschland das gemeinsame Sorgerecht zustand oder ob ab diesem Zeitpunkt von einer Alleinsorge der Mutter auszugehen ist. Denn ein gemeinsames Sorgerecht ist jedenfalls aufzuheben und das Sorgerecht allein auf die ASt. zu übertragen; Anlass für die Einrichtung der gemeinsamen Sorge (bei unterstellter Alleinsorge der Mutter) besteht nicht.
[10]a) Es spricht viel dafür, dass der ASt. die alleinige Sorge zusteht, da T. ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat.
[11](1) Nach Art. 16 I KSÜ bestimmt sich die Zuweisung oder das Erlöschen der elterlichen Verantwortung kraft Gesetzes ohne Einschreiten eines Gerichts oder einer Verwaltungsbehörde nach dem Recht des Staats des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes. Insoweit knüpft Art. 16 I KSÜ – ebenso wie Art. 21 EGBGB – an den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes an. Das Sorgerechtsstatut ist danach grundsätzlich durch die Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts ex nunc wandelbar (BGH, FamRZ 2011, 796 Tz. 32 (IPRspr 2011-111); Finger, FamRB Int. 2010, 95, 99; Rauscher, NJW 2011, 2332 f.; Bamberger-Roth-Heiderhoff, BGB, 3. Aufl., Art. 21 EGBGB Rz. 13; zu Art. 21 EGBGB: Henrich, FamRZ 1998, 1401, 1404).
[12]In Hinblick darauf, dass sich das Sorgerechtsstatut sowohl nach Art. 16 I KSÜ als auch nach Art. 21 EGBGB nach dem gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes richtet, stellt sich die Frage der Rückwirkung des Art. 16 I KSÜ für die bis zum Inkrafttreten des Abkommens am 1.1.2011 abgeschlossenen Tatbestände zunächst nicht (offengelassen BGH, FamRZ aaO Tz. 39; OLG Karlsruhe, FamRZ 2011, 1963 Tz. 27 (IPRspr 2011-103)) ...
[13](2) Demgegenüber könnte das (gemeinsame) Sorgerecht des AGg. allenfalls aus Art. 16 III KSÜ abgeleitet werden.
[14]Bei der Geburt des Kindes T. in Russland und in den nachfolgenden Monaten, in denen das Kind mit der Mutter und – teilweise – mit dem Vater in Russland lebte, bestand kraft Gesetzes, namentlich gemäß Art. 61 I des Familiengesetzbuches der Russischen Föderation vom 29.12.1995 (SZ 1996 Nr. 1 Pos. 16), die gemeinsame elterliche Sorge der Eltern.
[15]Mit dem – vorliegend mit Einverständnis des mitsorgeberechtigten Vaters vorgenommenen – Umzug des Kindes nach Deutschland galt nach bisherigem Recht für die Rechte und Pflichten der Eltern sodann deutsches Recht, so dass die elterliche Sorge nicht miteinander verheirateter Eltern der Mutter nunmehr allein zustand, da sie und der Vater keine Sorgeerklärungen nach § 1626a BGB abgegeben hatten (Henrich aaO; Finger aaO 100; Bamberger-Roth-Heiderhoff aaO Rz. 14; Staudinger-Henrich aaO Rz. 26; Schwab-Motzer, Hb. des Scheidungsrechts, 6. Aufl., Kap. III Rz. 307; a.A. jurisPK-BGB-Gärtner, 6. Aufl., Art. 21 EGBGB Rz. 75 wonach das gemeinsame Sorgerecht als wohlerworbenes Recht fortgelte).
[16]Demgegenüber besteht nach Art. 16 III KSÜ die elterliche Verantwortung, die sich aus dem Recht des Staats des (ehemaligen) gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes ergibt, nach dem Umzug des Kindes in einen anderen Staat fort (dazu Schulz aaO; Finger aaO; Bamberger-Roth-Heiderhoff aaO Rz. 13; Palandt-Thorn aaO Rz. 23). Die Regelung führt dazu, dass ein Kind durch den Aufenthaltswechsel keinen Sorgeberechtigten verliert (Schulz aaO; Palandt-Thorn aaO).
[17]Ob jedoch Art. 16 III KSÜ zur Anwendung gebracht werden kann, wenn sich – wie hier – der Aufenthaltswechsel des Kindes und somit der Verlust der sorgerechtlichen Position eines Elternteils bereits zu einer Zeit vollzogen hat, zu der das KSÜ in der Bundesrepublik Deutschland noch nicht in Kraft getreten war, mit der Folge, dass nunmehr mit Inkrafttreten des Abkommens das gemeinsame Sorgerecht (wieder) auflebt, ist zweifelhaft (offengelassen BGH, FamRZ aaO Tz. 39 m. Anm. Rauscher aaO; OLG Karlsruhe aaO). Dagegen spricht, dass es für die Kollisionsnorm Art. 16 KSÜ keine Überleitungsvorschrift gibt, insbes. gilt Art. 53 KSÜ nicht (BT-Drucks. 16/12068 S. 72 Tz. 179). Die Probleme des Übergangsrechts sind – da das Abkommen keine Regelungen enthält – durch nationales Recht jedes Vertragsstaats zu lösen (BT-Drucks. aaO). Vieles spricht deshalb für die Geltung des Prinzips der Nichtrückwirkung des Abkommens auf abgeschlossene Tatbestände und die Anwendung des bisherigen IPR (vgl. Art. 220 I, 236 § 1 EGBGB; dazu Rauscher aaO). In diesem Fall bestünde vorliegend kein gemeinsames Sorgerecht der Eltern, sondern die alleinige Sorgeberechtigung der Mutter.
[18]b) Die Frage kann vorliegend dahinstehen, da es dem Wohl des Kindes am besten entspricht, die gemeinsame elterlichen Sorge aufzuheben und auf die Mutter zu übertragen (1) bzw. – soweit man von einer Alleinsorge der Mutter ausgeht – kein Anlass besteht, die gemeinsame Sorge einzurichten (2).