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Verfahrensgang

BGH, Zwischenurt. vom 16.03.2011 – XII ZB 407/10, IPRspr 2011-111

Rechtsgebiete

Kindschaftsrecht → Sorgerecht, Vormundschaft
Zuständigkeit → Zuständigkeit in Ehe- und Kindschaftssachen

Leitsatz

Sobald das KSÜ für einen Staat in Kraft getreten ist, ist es von den Gerichten ungeachtet seines Art. 53 I hinsichtlich Fragen des anwendbaren Rechts anzuwenden.

Die Zuweisung oder das Erlöschen der elterlichen Verantwortung kraft Gesetzes ohne Einschreiten eines Gerichts oder einer Verwaltungsbehörde bestimmt sich gemäß Art. 16 I KSÜ nach dem Recht des Staats des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes. Damit ist das Statut durch Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts ex nunc wandelbar. [LS der Redaktion]

Rechtsnormen

BGB §§ 1626a ff.; BGB § 1626d; BGB § 1696
Cc (Frankr.) Art. 372
EuEheVO 2201/2003 Art. 8; EuEheVO 2201/2003 Art. 61
FamFG § 56
FGG-RG Art. 111
KSÜ Art. 16; KSÜ Art. 53
ZPO § 620f; ZPO § 621g

Sachverhalt

Die Kindeseltern [Beteiligten zu 1) und 2)] streiten um das alleinige Sorgerecht für ihre Tochter J. Die Mutter besitzt die deutsche, der Vater die französische Staatsangehörigkeit. Zur Zeit der Geburt des Kindes lebten die nicht miteinander verheirateten Eltern in Frankreich. Der Vater erkannte die Vaterschaft an. Nach der Geburt trennten sich die Eltern, und die Mutter kehrte mit J. nach Deutschland (P.) zurück. Zuvor hatten die mit der Sache befassten französischen Gerichte einstweilen entschieden, dass die Eltern gemeinsam sorgeberechtigt seien und der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes bei der Mutter liege; zudem hatten sie ein umfangreiches Umgangsrecht zugunsten des Vaters beschlossen.

In einem Verfahren zur Anerkennung der umgangsrechtlichen Regelungen trafen die Eltern vor dem BeschwG eine Sorgerechts- und Umgangsvereinbarung. Dem Rechtsbeschwerdeverfahren liegen gegenläufige Sorgerechtsanträge der Eltern zugrunde. Das AG hat das Aufenthaltsbestimmungsrecht für J. auf die Mutter übertragen und die gemeinsame elterliche Sorge aufrechterhalten. Auf die hiergegen vom Kindesvater eingelegte befristete Beschwerde hat das BeschwG dem Vater das alleinige Sorgerecht übertragen. Hiergegen wendet sich die Mutter mit ihrer zugelassenen Rechtsbeschwerde. Der Senat hat mit Beschluss die vom BeschwG angeordnete sofortige Vollziehung seiner Entscheidung auf Antrag der Mutter einstweilen ausgesetzt.

Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]B. Die zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses sowie zur Zurückverweisung der Sache an einen anderen Senat des OLG ...

[2]I. Die Rechtsbeschwerde ist zulässig.

[3]1. Die Zuständigkeit deutscher Gerichte ergibt sich aus Art. 8 I EuEheVO. Hinsichtlich der Zuständigkeit geht die EuEheVO nach ihrem Art. 61 dem KSÜ vor (vgl. Staudinger-Henrich, BGB [2008], Art. 21 EGBGB Rz. 82; Palandt-Thorn, BGB, 70. Aufl., Anh zu Art. 24 EGBGB Rz. 2).

[4]Danach sind für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, hier also Deutschland ...

[5]II. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet ...

[6]2. ... a) Zutreffend und von der Rechtsbeschwerde auch nicht angegriffen ist das BeschwG allerdings davon ausgegangen, dass die Kindeseltern die gemeinsame Sorge innehaben ...

[7]bb) Im Ergebnis zutreffend ist das BeschwG vom Bestehen des gemeinsamen Sorgerechts ausgegangen.

[8]Die Frage, welches Recht hier anzuwenden ist, richtet sich nach dem KSÜ.

[9](1) Gemäß Art. 53 I KSÜ ist das Übereinkommen auf Maßnahmen anzuwenden, die in einem Staat getroffen werden, nachdem das Übereinkommen für diesen Staat in Kraft getreten ist. In der Bundesrepublik Deutschland ist das Übereinkommen am 1.1.2011 in Kraft getreten (BGBl 2010 II 1527). Da es vorliegend nicht um die Anerkennung oder Vollstreckung von Maßnahmen, sondern vielmehr um die Frage des anwendbaren Rechts geht und das Revisionsgericht das zum Zeitpunkt seiner Entscheidung maßgebliche Recht anzuwenden hat, ist das KSÜ auf die vom Senat zu treffende Entscheidung anzuwenden (zum vergleichbaren Fall des Inkrafttretens des MSA: BGH, Beschl. vom 20.12.1972 – IV ZB 20/72, NJW 1973, 417 f. (IPRspr. 1972 Nr. 59b)).

[10](2) Nach Art. 16 I KSÜ bestimmt sich die Zuweisung oder das Erlöschen der elterlichen Verantwortung kraft Gesetzes ohne Einschreiten eines Gerichts oder einer Verwaltungsbehörde nach dem Recht des Staats des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes. Damit ist das Statut durch Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts ex nunc wandelbar (Finger, FamRBint 2010, 95, 99; Schwarz, NDV 2011, 39, 40).

[11]Da das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat, ist somit deutsches Recht anwendbar. Dieses setzt für die Ausübung der gemeinsamen elterlichen Sorge gemeinsame Sorgeerklärungen im Sinne von §§ 1626a ff. BGB voraus.

[12]Ausdrückliche Sorgeerklärungen, deren Form in § 1626d BGB geregelt ist, liegen hier nicht vor. Indes ist die vom BeschwG vorgenommene und von der Rechtsbeschwerde nicht angegriffene Auslegung der Elternvereinbarung, wonach dieser entspr. Sorgeerklärungen zu entnehmen sind, rechtsbeschwerderechtlich nicht zu beanstanden. In der am 6.6.2005 geschlossenen und gerichtlich gebilligten Elternvereinbarung hatten die Eltern ihren Willen bekundet, das Sorgerecht für J. gemeinsam auszuüben.

[13](3) Ob das Sorgerecht des Vaters daneben auch aus Art. 16 III KSÜ folgt, kann dahinstehen.

[14]Nach dieser Vorschrift besteht die elterliche Verantwortung, die sich aus dem Recht des Staats des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes ergibt, nach dem Umzug des Kindes in einen anderen Staat fort.

[15]Zwar stand beiden Eltern nach der seit März 2002 in Frankreich bestehenden Rechtslage die elterliche Sorge gemeinsam zu, weil das Kindschaftsverhältnis ihnen gegenüber innerhalb eines Jahres nach der Geburt durch Anerkenntnis etabliert wurde (vgl. Art. 372 I Cc, NomosKommentar-Junggeburth, BGB, 2. Aufl., Länderbericht Frankreich Rz. 168). Gemäß Art. 16 III KSÜ bleibt dem betroffenen Elternteil eine solche Sorgerechtsstellung erhalten (vgl. Finger aaO 95, 99 f.).

[16]Die Frage, ob hier etwas anderes gilt, weil sich der Erwerb der Sorgerechtsstellung des Vaters zu einer Zeit vollzogen hat, als das KSÜ in Deutschland noch nicht in Kraft getreten war, kann hier nach dem oben zu (2) Gesagten allerdings unbeantwortet bleiben ...

[17]3. Für das weitere Verfahren weist der Senat daraufhin, dass die bestehende Regelung über den Aufenthalt des Kindes für die zu treffende Entscheidung nicht ohne Belang ist.

[18]a) Dies folgt indes nicht schon aus den Entscheidungen der französischen Familiengerichte, die den gewöhnlichen Aufenthaltsort des Kindes bei der Mutter festgesetzt haben. Zwar sind diese Entscheidungen von den deutschen Gerichten anzuerkennen. Jedoch handelt es sich hierbei um eine einstweilige Regelung, die nach dem hier anwendbaren deutschen Verfahrensrecht durch die Entscheidung in der Hauptsache abgelöst wird (vgl. § 621g i.V.m. § 620f I ZPO a.F. – jetzt § 56 FamFG) und damit keine bindende Anordnung im Sinne des § 1696 I BGB in der bis zum 31.8.2009 geltenden Fassung (vgl. Art. 111 I 2 FGG-RG) darstellt.

Fundstellen

LS und Gründe

FamRZ, 2011, 796, mit Anm. Völker
FF, 2011, 309
MDR, 2011, 486
NJW, 2011, 2360
ZKJ, 2011, 220, mit Anm. Heilmann
JAmt, 2012, 336

Aufsatz

Coester, FF, 2011, 285 A
Rauscher, NJW, 2011, 2332 A

nur Leitsatz

FGPrax, 2011, 120
FuR, 2011, 401

Permalink

https://iprspr.mpipriv.de/2011-111

Lizenz

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