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Verfahrensgang

BayObLG, Beschl. vom 16.02.2023 – 101 AR 3/23, IPRspr 2023-222

Rechtsgebiete

Zuständigkeit → Gerichtsstandsvereinbarung, rügelose Einlassung

Leitsatz

Die durch wirksame Prozesshandlung in das Verfahren eingeführte ausdrückliche Erklärung der beklagten Partei, sich vor dem angerufenen Gericht rügelos einzulassen, führt im Anwendungsbereich des Art. 24 LugÜ II zur Zuständigkeit des angerufenen Gerichts, die einer Verweisung an das an sich zuständige Gericht entgegensteht.

Rechtsnormen

AEUV Art. 267
LugÜ II Art. 5; LugÜ II Art. 16; LugÜ II Art. 17; LugÜ II Art. 22; LugÜ II Art. 24
ZPO § 36; ZPO § 39; ZPO § 281

Sachverhalt

Mit seiner zum Amtsgericht München eingereichten Klage verlangt der Kläger aus eigenem und abgetretenem Recht von der Beklagten, einer Aktiengesellschaft mit Hauptsitz in Genf, Zahlung. Zur Begründung trägt er vor: Er habe bei der Beklagten für sich und drei weitere Personen eine Kreuzfahrt für einen Zeitraum im März 2020 gebucht und das hierfür vereinbarte Entgelt bezahlt. Wegen erheblicher Leistungseinschränkungen bei der Durchführung der zudem vorzeitig abgebrochenen Reise habe die Beklagte Gutscheine mit einer Gültigkeitsdauer bis Dezember 2021 erteilt. Nachdem die Beklagte die bei ihr sodann gebuchte Kreuzfahrt, für die die Gutscheine eingesetzt worden seien, storniert habe, habe sie lediglich den Aufpreis erstattet, trotz mehrfacher Mahnungen und Fristsetzungen jedoch nicht den Wert der Gutscheine. Der Kläger und zwei Zedenten sind im Bezirk des Amtsgerichts Nauen, der weitere Zedent ist im Bezirk des Amtsgerichts Charlottenburg wohnhaft.

Mit Verfügung vom 27.9.2022 ordnete das Amtsgericht die Durchführung eines schriftlichen Vorverfahrens an und wies auf seine örtliche Unzuständigkeit hin. Der Kläger beantragte Verweisung an das Amtsgericht Nauen. Die Beklagte erklärte mit Schriftsatz vom 11.10.2022, sie beantrage, die Klage kostenpflichtig abzuweisen. Mit Beschluss vom 6.12.2022 lehnte das Amtsgericht Nauen die Übernahme des Rechtsstreits ab und legte die Sache dem Bayerischen Obersten Landesgericht zur Bestimmung des zuständigen Gerichts vor.

Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]II.

[2]Auf die zulässige Vorlage ist auszusprechen, dass das Amtsgericht München für die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits örtlich zuständig ist.

[3]1. Die Voraussetzungen für die Bestimmung der (örtlichen) Zuständigkeit gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 6, Abs. 2 ZPO durch das Bayerische Oberste Landesgericht liegen vor …

[4]2. Örtlich zuständig zur Entscheidung über das Klagebegehren ist das Amtsgericht München …

[5]a) ... b) Die Zuständigkeit des Amtsgerichts München ist durch die Prozesserklärung der Beklagten, sich bei diesem Gericht auf den Rechtsstreit rügelos einzulassen, begründet worden.                                       

[6]aa) Allerdings ist nicht ersichtlich, dass nach den Bestimmungen des auf den Streitfall anwendbaren Luganer Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 30. Oktober 2007 (LugÜ II) eine anfängliche (internationale und örtliche) Zuständigkeit des Amtsgerichts München bestanden hätte.

[7]Die Gerichtsstandsklausel in Ziffer 17.2 der von der Beklagten gestellten Allgemeinen Geschäftsbedingungen, wonach Klagen gegen die beklagte Veranstalterin bei dem für den Sitz ihrer Zustellungsbevollmächtigten in München örtlich und sachlich zuständigen Gericht zu erheben sind, „sofern keine zwingenden gesetzlichen Vorschriften oder internationale Übereinkommen etwas anderes vorschreiben“, ist nach dem in Ziffer 17.1 der Allgemeinen Geschäftsbedingungen vereinbarten materiellen deutschen Recht wegen des salvatorischen Zusatzes unwirksam (vgl. BayObLG, Beschl. v. 26. Oktober 2021, 101 AR 148/21, MDR 2022, 86 [juris Rn. 30]); auf die Beschränkungen, denen Gerichtsstandsvereinbarungen in Verbrauchersachen gemäß Art. 17 Nr. 2 LugÜ II unterworfen sind, kommt es deshalb nicht mehr an.

[8]Dafür, dass am Sitz der Zustellungsbevollmächtigten in München der Gerichtsstand der Niederlassung nach Art. 5 Nr. 5 LugÜ II für den vorliegenden Rechtsstreit eröffnet sein könnte, fehlt es an Anhaltspunkten im Klägervortrag, zumal die Buchungen nach den vorgelegten Reiseunterlagen und vorgerichtlichen Schreiben über das Internet unter Vermittlung eines im Bezirk des Amtsgerichts Altötting sowie eines im Bezirk des Amtsgerichts Spandau ansässigen Reisebüros vollzogen worden sein dürften.

[9]Ein inländischer Verbrauchergerichtsstand nach Art. 16 Abs. 1 Alt. 2 LugÜ II liegt jedenfalls nicht in München. Da der Kläger im Bezirk des Amtsgerichts Nauen wohnt, war bei diesem Gericht nach der genannten Vorschrift die internationale und örtliche Zuständigkeit für die Klage eröffnet, soweit sie auf ein eigenes Recht des Klägers gestützt wird. Ob bei dem Amtsgericht Nauen eine Zuständigkeit für den gesamten Rechtsstreit, also auch für die abgetretenen Ansprüche und insbesondere für den zedierten Anspruch des im Bezirk des Amtsgerichts Charlottenburg wohnhaften Verbrauchers, eröffnet war, ist zwar mit Blick auf die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 25. Januar 2018, C-​498/16 - Schrems ./. Facebook Ireland Ltd. (NJW 2018, 1003 Rn. 44 - 49) fraglich, denn auf den besonderen Verbrauchergerichtsstand an seinem Wohnort kann sich der Kläger insoweit nicht berufen; gleichermaßen fraglich erscheint danach, ob für die Klage aus abgetretenem Recht überhaupt eine internationale Zuständigkeit in Deutschland bestanden hat. Eine Zuständigkeit des Amtsgerichts München kommt aber jedenfalls insoweit nicht in Betracht.

[10]bb) Die Erklärungen der Beklagten, sie lasse sich auf das Verfahren vor dem Amtsgericht München ein, haben gemäß Art. 24 LugÜ II die örtliche und hinsichtlich der zedierten Ansprüche gegebenenfalls auch die internationale Zuständigkeit dieses Gerichts bewirkt.

[11](1) Art. 24 LugÜ II ist in einer Fallkonstellation wie der vorliegenden auf die örtliche Zuständigkeit und hinsichtlich der zedierten Ansprüche gegebenenfalls auch auf die internationale Zuständigkeit anwendbar.

[12]Da die Klage keine Rechtsstreitigkeit betrifft, für die nach Art. 22 LugÜ II eine ausschließliche Zuständigkeit besteht, wird nach Art. 24 LugÜ II das konkret angerufene Gericht des Mitgliedstaats durch rügelose Einlassung der beklagten Partei international und örtlich zuständig, sofern seine Zuständigkeit nicht bereits nach anderen Normen gegeben ist (vgl. auch BayObLG, Beschl. v. 6. Februar 2023, 101 AR 141/22 (IPRspr 2023-215) - zu Art. 26 Brüssel-​Ia-​VO, juris Rn. 22 ff.).

[13]Eine Zuständigkeitsbegründung kraft rügeloser Einlassung nach Art. 24 LugÜ II kann auch die dem Schutz der typischerweise schwächeren Vertragspartei dienenden Zuständigkeitsvorschriften des Titels II Abschnitt 4 LugÜ II verdrängen (vgl. EuGH, Urt. v. 20. Mai 2010, C-​111/09 – CPP Vienna Insurance Group ./. Bilas, IPRax 2011, 580 Rn. 30 in Bezug auf die Bestimmungen des Titels II Abschnitt 3 der Brüssel-​I-VO; E. Peiffer/M. Peiffer in Geimer/Schütze, Internationaler Rechtsverkehr in Zivil- und Handelssachen, Werksstand: Mai 2022, VO [EG] 1215/2012 Art. 26 Rn. 9 zur entsprechenden Bestimmung der Brüssel-​Ia-​VO).

[14](2) Im Anwendungsbereich des Art. 24 LugÜ II ist für die nationalen Vorschriften zur rügelosen Einlassung kein Raum (vgl. BGH, Urt. v. 14. Juli 2015, VI ZR 463/14 (IPRspr 2015-220b), WM 2015, 2112 Rn. 19; Beschl. v. 27. Juni 2007, X ZR 15/05 (IPRspr 2007-142), BGHZ 173, 40 [juris Rn. 16] - zu Art. 18 LugÜ I; Gottwald in Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Aufl. 2022, Brüssel Ia-​VO Art. 26 Rn. 5).

[15](3) Bereits aus dem Wortlaut des Art. 24 Satz 1 LugÜ II ergibt sich, dass eine - autonom ohne Rückgriff auf Begriffsbildungen in den nationalen Rechtsordnungen auszulegende - Einlassung im Sinne dieser Bestimmung nicht zwingend eine Stellungnahme zur Hauptsache voraussetzt. Im Gegensatz zu § 39 ZPO genügt eine Einlassung auf das Verfahren, also eine Teilnahme der beklagten Partei am Verfahren durch eine unmittelbar auf Klageabweisung gerichtete Verteidigungshandlung ohne gleichzeitige oder zeitlich vorgelagerte Rüge der gerichtlichen Zuständigkeit (vgl. auch EuGH, Urt. v. 11. April 2019, C-​464/18 - Ryanair, IPRax 2020, 560 Rn. 38 ff.; BGH, Urt. v. 19. Mai 2015, XI ZR 27/14 (IPRspr 2015-227), NJW 2015, 2667 Rn. 17; Urt. v. 31. Mai 2011, VI ZR 154/10 (IPRspr 2011-183b), BGHZ 190, 28 Rn. 35; KG, Urt. v. 21. Oktober 2011, 5 U 56/10 (IPRspr 2011-164), juris Rn. 26 f.; E. Pfeiffer/M. Pfeiffer in Geimer/Schütze, Internationaler Rechtsverkehr in Zivil- und Handelssachen, VO [EG] 1215/2012 Art. 26 Rn. 21; Schlosser in Schlosser/Heß, Europäisches Zivilprozessrecht, 5. Aufl. 2021, Brüssel Ia-​VO Art. 26 Rn. 2; Stürner GPR 2013, 305 [310]). Solche Prozesshandlungen können als stillschweigende Anerkennung der Zuständigkeit des angerufenen Gerichts betrachtet werden (vgl. EuGH, Urt. v. 11. September 2014, C-​112/13 - A ./. B u. a., EuZW 2014, 950 Rn. 53 - zu Art. 24 Satz 1 Brüssel-​I-VO) und schließen daher eine spätere Rüge der Unzuständigkeit aus.

[16]Erst recht ist die ausdrücklich rügelose Einlassung im Sinne einer ausdrücklichen Unterwerfung unter die Entscheidungszuständigkeit des angerufenen Gerichts durch wirksame Prozesshandlung möglich; sie bewirkt die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts (Weller in Wieczorek/Schütze, ZPO, 5. Aufl. 2022, Brüssel Ia VO Art. 26 Rn. 5; Staudinger in Rauscher, Europäisches Zivilprozess- und Kollisionsrecht, 5. Aufl. 2021, Art. 26 Brüssel Ia-​VO Rn. 4; Geimer in Geimer/Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht, 4. Aufl. 2020, EuGVVO Art. 26 Rn. 3; ebenso zu einem a priori erklärten Verzicht auf die Rüge der Unzuständigkeit: Geimer in Geimer/Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht, EuGVVO Art. 26 Rn. 1; von Hein in Kropholler/ von Hein, Europäisches Zivilprozessrecht, 9. Aufl. 2011, EuGVO Art. 24 Rn. 14).

[17]Auch wenn dies im Wortlaut des Art. 24 LugÜ II nicht explizit zum Ausdruck kommt, liegt die Richtigkeit dieses Normverständnisses aufgrund Erst-​Recht-​Schlusses im Sinne eines „acte clair“ auf der Hand, weshalb sich klärungsbedürftige Fragen zum richtigen Verständnis von Unionsrecht nicht stellen und eine Anfrage an den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 AEUV nicht erforderlich ist.

[18]Im vorliegenden Rechtsstreit hat die Beklagte nicht nur ihre Verteidigungsbereitschaft erklärt, im schriftlichen Vorverfahren einen inhaltlich nicht näher begründeten Klageabweisungsantrag kundgetan und ihre Klageerwiderung innerhalb der im schriftlichen Vorverfahren gesetzten Frist angekündigt, was für sich genommen eine Zuständigkeit kraft rügeloser Einlassung nicht begründet hätte, denn damit hat die Beklagte lediglich notwendige Schritte unternommen, um sich alle Verteidigungsmöglichkeiten zu erhalten (vgl. auch KG, Beschl. v. 21. März 2019, 22 U 209/16, juris Rn. 2 und Beschl. v. 14. Januar 2019, 22 U 209/16, juris Rn. 3). Sie hat vielmehr außerdem eine Prozesserklärung des Inhalts abgegeben, sich auf das Verfahren vor dem Amtsgericht München einzulassen. Vor dem Hintergrund des zuvor ergangenen Hinweises auf die Unzuständigkeit des Gerichts und der Anfrage an die Klagepartei, ob Verweisung beantragt werde, ist diese Erklärung, zumal sie auf den gerichtlichen Hinweis vom 10. Oktober 2022 ausdrücklich wiederholt wurde, zweifelsfrei als explizit erklärte Anerkennung der Zuständigkeit des angerufenen Gerichts und Unterwerfung unter dessen Entscheidungsgewalt zu verstehen, denn Ziel und Zweck der Erklärung bestanden offensichtlich darin, durch verbindliche Prozesshandlung die Zuständigkeit des Gerichts zu begründen und in der Folge eine Entscheidung durch das vom Kläger angerufene Gericht zu erreichen.

[19]Vor diesem Hintergrund beinhaltet die ausdrückliche Erklärung, sich auf das Verfahren vor dem angerufenen Gericht einzulassen, zugleich einen Verzicht auf die Rüge der Unzuständigkeit.

[20]Da eine Zustimmung zur Unterwerfungserklärung durch die klagende Partei, die das Gericht angerufen hat, nicht erforderlich ist (Geimer in Geimer/Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht, EuGVVO Art. 26 Rn. 1), steht der Verweisungsantrag vom 11. Oktober 2022 der Zuständigkeitsbegründung nach Art. 24 LugÜ II nicht entgegen.

[21]c) Die auf Art. 24 LugÜ II beruhende Zuständigkeit des Amtsgerichts München ist nicht durch die Verweisung des Rechtsstreits an das Amtsgericht Nauen entfallen, weil der Verweisungsbeschluss vom 12. Oktober 2022 ausnahmsweise nicht bindet.

[22]aa) Die in § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO angeordnete Bindungswirkung von Verweisungsbeschlüssen tritt dann nicht ein, wenn die Verweisung schlechterdings nicht als im Rahmen des § 281 ZPO ergangen anzusehen ist, etwa weil der Beschluss unter Versagung des rechtlichen Gehörs zustande gekommen oder nicht durch den gesetzlichen Richter erlassen worden ist oder weil er jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt und deshalb als objektiv willkürlich betrachtet werden muss (st. Rspr.; BGH NJW-​RR 2017, 1213 Rn. 15; Beschl. v. 9. Juni 2015, X ARZ 115/15, NJW-​RR 2015, 1016 Rn. 9; Beschl. v. 10. September 2002, X ARZ 217/02, NJW 2002, 3634 [juris Rn. 13 f.]; Greger in Zöller, ZPO, § 281 Rn. 16).

[23]bb) Ein solcher Fall liegt hier vor, weil die Verweisung unter Verletzung rechtlichen Gehörs ergangen ist.

[24]...

 

Fundstellen

LS und Gründe

EuZW, 2023, 629

Permalink

https://iprspr.mpipriv.de/2023-222

Lizenz

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