Ausländisches Recht haben die deutschen Gerichte in seiner tatsächlichen Auslegung und Anwendung durch die ausländischen Gerichte und Behörden im Wege entsprechender Aufklärung des Sachverhalts zu ermitteln. Eine eigene Auslegung dieses Rechts unter Heranziehung der im deutschen Recht anerkannten Auslegungsmethoden ist ihnen versagt.
Äthiopische Staatsangehörige eritreischer Abstammung, die am 24.5.1993, dem Tag der Unabhängigkeit Eritreas, auf dem Gebiet des heutigen Äthiopien lebten, haben ihre äthiopische Staatsangehörigkeit nicht kraft Gesetzes nach Art. 11 Buchstabe a) äthStAG 1930 durch einen Erwerb der eritreischen Staatsangehörigkeit verloren.
Äthiopische Staatsangehörige eritreischer Abstammung haben ihre äthiopische Staatsangehörigkeit auch unter Geltung des Art. 20 Abs. 3 äthStAG und der Direktive vom 19.1.2004 regelmäßig behalten, es sei denn sie haben eine ihnen etwa zuerkannte eritreische Staatsangehörigkeit durch einen Daueraufenthalt in Eritrea oder in sonstiger Weise aktiv ausgeübt.
Personen, die zwei oder mehr Staatsangehörigkeiten besitzen, kann kein internationaler Schutz zuerkannt werden, wenn sie den Schutz eines der Länder ihrer Staatsangehörigkeit in Anspruch nehmen können.
Äthiopischen Staatsangehörigen eritreischer Abstammung drohen in Äthiopien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keine an eine tatsächliche oder vermeintliche eritreische oder halberitreische Abstammung anknüpfende Verfolgungsmaßnahmen.
Der Kläger zu 1. und die Klägerin zu 2. reisten 2015 in das Bundesgebiet ein und beantragten ohne Vorlage von Personalpapieren Asyl. Der Kläger zu 1. gab an, er sei 1989 in Asmara/Eritrea geboren, eritreischer Staatsangehöriger, tigrinischer Volkszugehöriger und christlichen Glaubens. Die Klägerin zu 2. gab an, sie sei 1984 in Assab/Eritrea geboren und ebenfalls eritreische Staatsangehörige, tigrinische Volkszugehörige und christlichen Glaubens. Beide seien miteinander verheiratet. Der 2016 geborene Kläger zu 3. ist ihr Sohn. Seine Geburt zeigte das Ausländeramt dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) 2017 an. Bei der Anhörung durch das Bundesamt 2016 gab der Kläger zu 1. in amharischer Sprache an, an seinen Aufenthalt in Eritrea habe er keine Erinnerung mehr, weil er das Land schon als kleines Kind etwa im Jahr 1992 verlassen habe. Etwa 1992 sei er mit seiner Mutter nach Äthiopien umgezogen. Sein Vater sei in Eritrea geblieben. Die Klägerin zu 2. gab ebenfalls in amharischer Sprache an, in Eritrea habe sie mit ihrer Mutter und ihrem älteren Bruder in Assab gewohnt. Ihren Vater habe sie nie kennengelernt.
Mit Bescheiden vom 27.7.2016 betreffend die Kläger zu 1. und 2. sowie vom 22.11.2017 betreffend den Kläger zu 3. lehnte das Bundesamt jeweils die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1), die Anträge auf Asylanerkennung (Nr. 2) und die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (Nr. 3) ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 V und VII 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4), drohte den Klägern die Abschiebung nach Äthiopien an (Nr. 5) und befristete das gesetzliche Einreise- und Abschiebungsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nr. 6). Es bestünden Zweifel an der eritreischen Staatsangehörigkeit der Kläger zu 1. und 2., weil sie in den Jahren 1984 und 1989 in der damals zu Äthiopien gehörenden Provinz Eritrea geboren seien. Sie seien vielmehr äthiopische Staatsangehörige und hätten diese Staatsangehörigkeit weder durch die Entstehung des unabhängigen Staates Eritrea noch durch einen sonstigen Verlusttatbestand verloren. Als äthiopische Staatsangehörige drohe ihnen bei einer Rückkehr nach Äthiopien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung.
Die Kläger haben am 8.8.2016 und am 1.12.2017 Klagen gegen die beiden Bescheide erhoben und dabei beantragt, die Beklagte unter Aufhebung der Bescheide des Bundesamtes vom 27.7.2016 und vom 22.11.2017 zu verpflichten, ihnen die Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise subsidiären Schutz zuzuerkennen. Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt, die Klagen abzuweisen. Mit den beiden angefochtenen Urteilen hat das Verwaltungsgericht die Klagen abgewiesen. Gegen die Urteile haben die Kläger am 8.4.2019 die Berufungszulassung beantragt. Im verbundenen Berufungszulassungsverfahren hat der Senat die Berufung mit Beschluss vom 8.4.2020 zugelassen. Die Kläger beantragen schriftsätzlich, die angefochtenen Urteile zu ändern und nach den erstinstanzlichen Klageanträgen zu erkennen. Die Beklagte beantragt schriftsätzlich sinngemäß, die Berufung zurückzuweisen.
[1]II. … Die Berufung ist zulässig, aber unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat die im Berufungszulassungsverfahren verbundene Klage zu Recht abgewiesen …
[2]Im Übrigen ist die auf die Zuerkennungs- und Feststellungsbegehren der Kläger bezogene Klage zulässig, aber unbegründet. Denn die Kläger haben weder einen Anspruch auf die mit ihrem Hauptantrag verfolgte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 Abs. 1 und 4 AsylG, A.) noch auf die mit ihrem ersten Hilfsantrag begehrte Zuerkennung subsidiären unionsrechtlichen Abschiebungsschutzes (§ 4 Abs. 1 AsylG, B.) noch auf die mit ihrem weiteren Hilfsantrag geltend gemachte Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbotes (§ 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG einschließlich der Feststellung eines Abschiebungsverbotes in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Sätze 1 und 6 AufenthG, C.). Die diese Streitgegenstände betreffenden ablehnenden Teilentscheidungen des Bundesamtes in den Nrn. 1 bis 3 seiner beiden Bescheide vom 27. Juli 2016 und vom 22. November 2017 sind rechtmäßig und verletzen die Kläger nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Klage gegen die Abschiebungsandrohungen mit der Zielstaatsbestimmung Äthiopien in Nr. 4 dieser Bescheide (D.) und gegen die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Abschiebungsverbotes in Nr. 5 der Bescheide (E.) ist als Anfechtungsklage nach § 42 Abs. 1 Variante 1 VwGO statthaft und auch im Übrigen zulässig, aber ebenfalls unbegründet. Diese Entscheidungen sind ebenfalls rechtmäßig und verletzen die Kläger nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
[3]A.
[4]Die Kläger haben keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 und 4 AsylG, § 60 Abs. 1 AufenthG, Art. 9, 10 RL 2011/95/EU. Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder das Bundesamt hat nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Das Herkunftsland der Kläger ist die Demokratische Bundesrepublik Äthiopien (I.). Dort ist eine Furcht vor Verfolgung wegen der in §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b AsylG bezeichneten Verfolgungsgründe für keinen der Kläger begründet (II.).
[5]I. Als Herkunftsland der Kläger im Sinn des § 3 Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe a) AsylG haben das Bundesamt und das Verwaltungsgericht zutreffend die Demokratische Bundesrepublik Äthiopien bestimmt. Denn die Kläger sind äthiopische Staatsangehörige. Die Kläger zu 1. und 2. haben die äthiopische Staatsangehörigkeit durch ihre Geburt erworben (1.) und bis heute nicht verloren (2.). Unerheblich ist, ob sie neben der äthiopischen auch die eritreische Staatsangehörigkeit besitzen (3.). Für den am 21. Dezember 2016 in N1. geborenen Kläger zu 3. gilt im Ergebnis dasselbe (4.).
[6]1. Durch ihre nach eigenen Angaben am 27. Oktober 1989 in Asmara/Eritrea und am 25. Juli 1984 in Assab/Eritrea erfolgten Geburten haben die Kläger zu 1. und 2. die äthiopische Staatsangehörigkeit erworben. Dieser Erwerb richtete sich nach Art. 1 des äthiopischen Staatsangehörigkeitsgesetzes (äthStAG 1930) vom 22. Juli 1930, das bis zum 22. Dezember 2003 in Kraft war (Art. 27 des äthiopischen Staatsangehörigkeitsgesetzes (äthStAG) vom 23. Dezember 2003).
[7]Staatsangehörigkeitsgesetz vom 23. Dezember 2003, veröffentlicht als Proklamation Nr. 378/2003 in Federal Negarit Gazeta X Nr. 13 vom 23. Dezember 2003 (S. 2505 ff.), deutsche Übersetzung bei Nelle, in: Bergmann/Ferid/Henrich/Dutta/Ebert, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Stand: 236. Lfg. Mai 2020, Länderabschnitt Äthiopien, S. 15 ff.; englische Übersetzung http://www.fsc.gov.et/Content/Negarit%20Gazeta/Negarit%20Gazeta/Gazeta-1996/Proc%20No.%20378-2003%20Ethiopian%20Nationality.pdf (zuletzt abgerufen am 26. Juni 2020), auch bei Schweizerisches Bundesamt für Migration (BFM), Focus Äthiopien/Eritrea, Personen eritreischer Herkunft in Äthiopien vom 19. Februar 2010, S. 14 ff. (Anhang 1); äthStAG 1930 bei Nelle, a. a. O., Fn. 2 zur Übergangsregelung in Art. 26 äthStAG, englische Fassung abrufbar unter http://www.refworld.org/docid/3ae6b52ac.html (zuletzt abgerufen am 26. Juni 2020).
[8]Nach Art. 1 äthStAG 1930 war äthiopischer Staatsangehöriger, wer als Kind eines äthiopischen Vaters oder einer äthiopischen Mutter in Äthiopien oder außerhalb geboren wurde. Mit dieser Vorschrift hatte bereits das bis 1974 bestehende Kaiserreich Abessinien, der Vorgängerstaat der heutigen Demokratischen Bundesrepublik Äthiopien, das Abstammungsprinzip als dominierendes Erwerbsprinzip in seinem Staatsangehörigkeitsrecht normiert.
[9]Zum Abstammungsprinzip im heutigen äthStAG vgl. VG München, Urteil vom 11. April 2017
[10]Legt man die Angaben der Kläger zu 1. und 2. in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht zur Abstammung von ihren Eltern sowie zu ihren Geburtsdaten und -orten zugrunde, so haben sie mit ihren jeweiligen Geburten am XX. Oktober 1989 in Asmara und am XX. Juli 1984 in Assab nach Art. 1 äthStAG 1930 die äthiopische Staatsangehörigkeit erworben, weil sie als Kinder von Eltern äthiopischer Staatsangehörigkeit (und tigrinisch-eritreischer Volkszugehörigkeit) in einem damals noch zu Äthiopien gehörenden Gebiet geboren wurden. Denn ihre Eltern waren, soweit den Klägern zu 1. und 2. noch erinnerlich, überwiegend ebenfalls in den damals noch zu Äthiopien gehörenden Städten Asmara oder Assab geboren. Der Kläger zu 1. hat auch für seine Großeltern angegeben, dass sie aus Asmara stammten.
[11]Hingegen können die Kläger zu 1. und 2. durch ihre Geburten anstelle der äthiopischen keine eritreische Staatsangehörigkeit erworben haben. Denn das Gebiet des erst seit dem 24. Mai 1993 unabhängigen Staates Eritrea war zu diesem Zeitpunkt noch eine unselbständige Provinz Äthiopiens. Wer der dort lebenden eingeborenen Bevölkerung angehörte, wurde von den äthiopischen Behörden und international als äthiopischer Staatsangehöriger angesehen. Die frühere eritreische Staatsangehörigkeit aus der Zeit ab dem 15. September 1952, in der Eritrea auf der Grundlage der UN-Resolution 390 A (V) vom 2. Dezember 1950 autonomer Teilstaat einer Konföderation mit dem Kaiserreich Abessinien mit eigener Regierung, eigenem Parlament, eigener Flagge und eigener Verfassung war, war mit dessen vollständiger Eingliederung in das Kaiserreich am 15. November 1962 entfallen. Diese frühere eritreische Staatsangehörigkeit war ohnehin ein nur im Binnenverhältnis zwischen dem Kaiserreich und dem autonomen Teilstaat Eritrea wirksamer Staatsbürgerschaftsstatus, der vorrangig die Berechtigung zur Teilnahme an den Wahlen zum damaligen eritreischen Teilparlament regelte.
[12]Schröder, Stellungnahmen vom 20. August 2019 an VG Kassel, S. 5 f. (Rn. 7 f.), vom 3. April 2019 an VG Karlsruhe, S. 6 (Rn. 10 f.), und vom 22. März 2011, S. 6 (Rn. 2); European Asylum Support Office (EASO), Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 15 f.
[13]2. Die Kläger zu 1. und 2. haben ihre durch Geburt erworbene äthiopische Staatsangehörigkeit auch bis heute nicht verloren. Ein solcher Staatsangehörigkeitsverlust richtet sich nach dem Staatsangehörigkeitsrecht und der Rechts- und Staatspraxis der Demokratischen Bundesrepublik Äthiopien (a). Nach diesem Maßstab haben die Kläger zu 1. und 2. ihre äthiopische Staatsangehörigkeit weder durch einen etwaigen Erwerb der eritreischen Staatsangehörigkeit im Zusammenhang mit der Entstehung des Staates Eritrea mit Wirkung vom 24. Mai 1993 (b) noch durch die von ihnen behaupteten Umzüge mit ihren jeweiligen Müttern aus der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba in den Sudan (c) verloren.
[14]a) Maßstab für die Frage, ob, unter welchen Voraussetzungen und zu welchem Zeitpunkt ein Staatsangehöriger eines ausländischen Staates seine Staatsangehörigkeit verliert, sind das Staatsangehörigkeitsrecht und die Rechts- und Staatspraxis seines Heimatstaates. § 173 Satz 1 Halbsatz 1 VwGO in Verbindung mit § 293 ZPO verpflichtet das Gericht im Verwaltungsprozess, ausländisches Recht unter Ausnutzung aller ihm zugänglichen Erkenntnisquellen von Amts wegen zu ermitteln. Dabei hat es nicht nur die ausländischen Rechtsnormen, sondern auch ihre Umsetzung in der Rechtspraxis zu betrachten. Der an diese Ermittlungspflicht anzulegende Maßstab ist streng. Es gilt der Grundsatz der größtmöglichen Annäherung an das ausländische Recht, das in seinem systematischen Kontext, mit Hilfe der im ausländischen Rechtssystem gebräuchlichen Methoden und unter Einbeziehung der ausländischen Rechtsprechung erfasst werden muss. Je komplexer und „fremder“ im Vergleich zum deutschen Recht das anzuwendende Recht ist, desto höhere Anforderungen sind an die richterliche Ermittlungspflicht zu stellen. Mit welchen Erkenntnismitteln das maßgebliche ausländische Recht im Einzelfall festzustellen ist, hat das Tatsachengericht nach seinem Ermessen zu entscheiden. Die Ermittlung ausländischen Rechts und der ausländischen Rechtspraxis ist im Prozess - wenngleich es um Recht geht - der Tatsachenfeststellung und -würdigung, nicht hingegen dem Bereich der Rechtserkenntnis zuzuordnen. Dementsprechend ist eine Beweiserhebung zur Bestimmung des ausländischen Rechts und der maßgeblichen Rechtspraxis erforderlich, wenn und soweit das ausländische Recht dem Gericht unbekannt ist.
[15]BVerfG, Beschluss vom 1. Juli 1987
[16]Mit dieser ständigen höchstrichterlichen und obergerichtlichen Rechtsprechung insbesondere zum Staatsangehörigkeits-, Asyl-, Ausländer- und Personenstandsrecht unvereinbar ist die in der erstinstanzlichen Rechtsprechung, auch von der Vorinstanz im vorliegenden Verfahren vertretene Rechtsauffassung (juris, Rn. 34), die genannte Verpflichtung des Gerichts zur Berücksichtigung auch der ausländischen Rechtspraxis bei der Ermittlung des Inhalts ausländischer Rechtsnormen müsse unter der Voraussetzung stehen, dass diese Rechtspraxis „eine zumindest vertretbare Konkretisierung“ oder Auslegung dieser Rechtsnormen vornehme. Eine Rechtspraxis hingegen, die „im eindeutigen Widerspruch zu den gültigen Rechtsnormen des jeweiligen Staates“ stehe, sei für ein deutsches staatliches Gericht im Rahmen der Prüfung der Staatsangehörigkeit „gerade nicht verbindlich“. Im Falle eines evidenten Widerspruchs der staatsangehörigkeitsrechtlichen Rechtspraxis zu den staatsangehörigkeitsrechtlichen Rechtsnormen in dem jeweiligen ausländischen Staat seien für das erkennende Gericht im Rahmen der Prüfung der Staatsangehörigkeit nur die Rechtsnormen maßgeblich.
[17]VG Münster, Urteile vom 10. September 2019
[18]Diese Rechtsauffassung widerspricht dem erwähnten Grundsatz der größtmöglichen Annäherung an das ausländische Recht. Dieser Grundsatz beruht im Ausgangspunkt auf der Erkenntnis, dass den deutschen Gerichten eine eigene Auslegung des ausländischen Rechts unter Heranziehung der im deutschen Recht anerkannten Auslegungsmethoden versagt ist. Vielmehr hat der deutsche Richter das ausländische Recht so anzuwenden, wie es der Richter des betreffenden Landes auslegt und anwendet. Ein Tatsachengericht verfehlt diesen Maßstab, wenn es nicht den Inhalt des ausländischen Rechts in seiner tatsächlichen Auslegung und Anwendung durch entsprechende Aufklärung des Sachverhalts ermittelt, sondern stattdessen die maßgebliche Frage aufgrund einer eigenen Auslegung der ausländischen Rechtsnormen beantwortet.
[19]BGH, Urteil vom 18. März 2020, a. a. O., Rn. 23, Beschluss vom 17. Mai 2018, a. a. O., Rn. 12, 17 f.; OVG Schl.- Holst., ,a. a. O. Rn. 13.
[20]Hiernach ist der deutsche Richter darauf angewiesen, den Inhalt der maßgeblichen ausländischen Rechtsnormen entsprechend einer Tatsachenermittlung mit Hilfe der im ausländischen Rechtssystem gebräuchlichen Auslegungsmethoden und unter Einbeziehung der ausländischen Rechtsprechung und sonstigen Rechtspraxis zu erfassen. Die zitierte erstinstanzliche Rechtsprechung praktiziert hingegen der Sache nach eine unzulässige eigene Auslegung ausländischen Rechts, wenn sie prüft, ob eine bestimmte ausländische Rechtspraxis im Widerspruch zu den gültigen Rechtsnormen des jeweiligen Staates steht, und diese Rechtsnormen wie deutsches Recht nach Wortlaut, Systematik, Sinn und Zweck auslegt (bis hin zu einer „verfassungskonformen Anwendung“ am Maßstab der bis heute nicht in Kraft gesetzten „Verfassung“ der „Einparteiendiktatur“ Eritrea). Zum großen Teil ergibt sich aus den gewählten Formulierungen in den Entscheidungsgründen der zitierten erstinstanzlichen Urteile auch ausdrücklich, dass die jeweils gezogene Schlussfolgerung das Ergebnis einer eigenen „Auslegung“ der jeweils einschlägigen Norm des ausländischen Rechts sei.
[21]So VG Münster, Urteil vom 22. Juli 2015, a. a. O., Rn. 32, 50 („teleologische Auslegung“), unter Verweis auf Geimer, in: Zöller, ZPO, 30. Aufl. 2014 (wie auch aktuell 33. Aufl. 2020), § 293 Rn. 14; der Sache nach ebenso VG Düsseldorf, Urteil vom 21. März 2019
[22]Die genannte Rechtsauffassung der erstinstanzlichen Verwaltungsgerichte lässt sich insbesondere nicht mit der Erwägung rechtfertigen, dass „sich die ausländische Rechtspraxis in einem Staat - wie in der Bundesrepublik Deutschland (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG) - nach den jeweiligen Normen dieses Staates richten“ müsse. Eine in evidentem Widerspruch zu diesen Normen stehende staatsangehörigkeitsrechtliche Rechtspraxis in dem jeweiligen ausländischen Staat könne unter Umständen selbst gegebenenfalls eine flüchtlingsschutzrechtlich erhebliche Verfolgungsgefahr in Form einer Ausbürgerung/Aussperrung begründen.
[23]So VG Münster, Urteil vom 22. Juli 2015, a. a. O., Rn. 36.
[24]Diese Erwägung gibt keine Veranlassung zu einer Überprüfung der vorstehend zitierten ständigen höchstrichterlichen und obergerichtlichen Rechtsprechung zur Ermittlung des Inhalts ausländischen Rechtsnormen. Das Rechtsstaatsprinzip in Art. 20 Abs. 3 GG bindet die deutschen Gerichte an deutsches Recht einschließlich des darin normierten ordre public-Vorbehalts für die Anwendung von Rechtsnormen eines ausländischen Staates (Art. 6 EGBGB), rechtfertigt aber keine Ermittlung ausländischen Rechts in der fingierten (und damit gerade nicht größtmöglich annähernden) Annahme, dass der jeweilige ausländische Staat unabhängig von der dort tatsächlich verwirklichten Staatsform und Verfassungsordnung bei der flüchtlingsschutzrechtlichen Feststellung seiner Staatsangehörigen durch ein deutsches Gericht so zu behandeln sei, als habe er eine rechtsstaatliche Bindung an Gesetz und Verfassung im Umfang des Art. 20 Abs. 3 GG auch für seinen Rechtskreis verwirklicht. Im Gegenteil hat die zitierte höchstrichterliche und obergerichtliche Rechtsprechung bei der Entwicklung der vorgenannten Maßstäbe zur Ermittlung ausländischen Rechts durchaus mitberücksichtigt, dass sich die Rechtsordnung des jeweiligen Staates unter Umständen ganz erheblich von denjenigen westlicher Demokratien unterscheiden kann. Unter anderem dieser Gesichtspunkt kommt in dem bereits erwähnten Maßstab zum Ausdruck, dass an die richterliche Ermittlungspflicht umso höhere Anforderungen zu stellen sind, je komplexer und „fremder“ das anzuwendende Recht im Vergleich zum deutschen Recht ist.
[25]BVerwG, Urteil vom 19. Juli 2012, a. a. O. Rn. 14 (indisches Eherecht), BGH, Urteil vom 18. März 2020, a. a. O.., Rn. 24 (litauisches Pflichtversicherungsrecht), Beschlüsse vom 24. Mai 2017, a. a. O., Rn. 14 (ecuadorianisches Namensrecht), und vom 26. April 2017, a. a. O., Rn. 24 (dänisches Namensrecht).
[26]Auch besteht kein Wertungswiderspruch darin, einerseits auf der Grundlage der tatsächlichen Handhabung der eigenen staatsangehörigkeitsrechtlichen Vorschriften des Herkunftslandes (selbst wenn diese am Maßstab des Art. 20 Abs. 3 GG evident rechtsstaatswidrig wäre) eine Ausbürgerung anzunehmen und diese andererseits als flüchtlingsschutzerhebliche Verfolgung durch diesen Staat zu werten. Denn wenn die Verfolgung gerade in einer flüchtlingsschutzerheblichen Herbeiführung der Staatenlosigkeit durch den Staat der bisherigen Staatsangehörigkeit liegt, ist dies flüchtlingsrechtlich als (fortdauernde) Verfolgung durch eben diesen Staat der (bisherigen) Staatsangehörigkeit anzusehen.
[27]BVerwG, Urteil vom 26. Februar 2009
[28]Selbst dann, wenn man dies anders sähe, wäre die dem Anschein nach hinter der genannten Erwägung stehende Befürchtung unbegründet, ein Schutzsuchender erleide möglicherweise rechtliche Nachteile, wenn der Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, ihm die Staatsangehörigkeit durch willkürliche, in evidentem Widerspruch zum dort geltenden Staatsangehörigkeitsrecht stehende Maßnahmen entzieht, weshalb es geboten sei, einer solchen Entziehung in Deutschland die rechtliche Anerkennung zu versagen. Denn Herkunftsland im Sinn des Flüchtlingsrechts ist nach § 3 Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe b) AsylG auch das Land, in dem der betroffene Ausländer als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Auch unter diesem ohnehin nur auf das Flüchtlingsrecht bezogenen Gesichtspunkt ist keine Ausnahme vom Grundsatz der größtmöglichen Annäherung an das ausländische Recht zu machen, die dazu berechtigen könnte, die ausländische Rechtspraxis außer Acht zu lassen.
[29]Offengelassen, aber in der Tendenz ebenso Sächs. OVG, a. a. O., Rn. 14.
[30]Erst recht kann unter diesen Umständen keine Rede davon sein, die hier vertretene Auffassung gerate „in Erklärungsnot“, wenn ein Staat eine hohe Anzahl seiner Bürger ins Ausland deportiere, was konsequenterweise als konkludente Entziehung der Staatsangehörigkeit zu sehen sei.
[31]VG Hannover, Urteile vom 23. Januar 2018, a. a. O., Rn. 53, und vom 25. Oktober 2017, a. a. O., Rn. 60.
[32]Jedenfalls missverständlich ist weiter die in diesem Zusammenhang in der erstinstanzlichen Rechtsprechung angeführte Erwägung, die zitierte höchstrichterliche und obergerichtliche Einordnung der Ermittlung ausländischen Rechts und der ausländischen Rechtspraxis als Element der Tatsachenfeststellung, nicht der Rechtsanwendung, beziehe sich „nur auf das Revisionsrecht“ und stehe einer eigenen Auslegung durch die Tatsachengerichte nicht entgegen.
[33]VG Münster, Urteil vom 22. Juli 2015, a. a. O., Rn. 34.
[34]Denn eine solche Beschränkung dieser Einordnung auf das Revisionsrecht lässt sich der höchstrichterlichen und obergerichtlichen Rechtsprechung zu dieser Frage nicht entnehmen. Im Gegenteil ergibt sich daraus gerade für die Tatsachengerichte, dass die Erfassung des ausländischen Rechts und der ausländischen Rechtspraxis vollständig der Sachverhaltsermittlung zuzuordnen ist. Sie obliegt auch grundsätzlich nur den Tatsachengerichten und ist, soweit es die Verwaltungsgerichtsbarkeit betrifft, ebenso wie die sonstige Tatsachenfeststellung nur in den Grenzen des § 137 Abs. 2 VwGO revisionsgerichtlich überprüfbar.
[35]BVerwG, Beschlüsse vom 5. März 2018, a. a. O., Rn. 4, und vom 28. Juni 1990
[36]Nach dieser Vorschrift ist das Bundesverwaltungsgericht an die in dem angefochtenen Urteil getroffenen „tatsächlichen Feststellungen“ gebunden, außer wenn in Bezug auf diese Feststellungen zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht sind (ähnlich § 559 Abs. 2 ZPO). Wären die Tatsachengerichte hingegen zu einer eigenen Auslegung ausländischen Rechts unter Heranziehung der auch im deutschen Recht gebräuchlichen Auslegungsmethoden berechtigt und verpflichtet, gäbe es keinen Grund, aus dem eine solche Auslegung grundsätzlich irrevisibel und das Bundesverwaltungsgericht auf eine revisionsgerichtliche Überprüfung in den Grenzen des § 137 Abs. 2 VwGO beschränkt sein sollte. Da diese Beschränkung aber besteht, kommt den Tatsachengerichten im Zusammenhang mit der Ermittlung des ausländischen Rechts und der ausländischen Rechtspraxis eine besondere Verantwortung bei der Entscheidung über die Erforderlichkeit von Sachaufklärungsmaßnahmen zu und haben diese den verfügbaren Quellen zu dem jeweils maßgeblichen ausländischen Recht und seiner praktischen Anwendung nachzugehen, auch um gegebenenfalls die Notwendigkeit einer sachverständigen Begutachtung zu prüfen.
[37]BVerwG, Urteil vom 19.Juli 2012, a. a. O., Rn. 15.
[38]Hiermit unvereinbar ist es insbesondere, einen Beweisantrag zur Ermittlung des Inhalts ausländischen Rechts und der ausländischen Rechtspraxis mit der Begründung abzulehnen, dass es sich „insoweit um eine Rechtsfrage“ handele, deren Klärung dem Gericht selbst obliege.
[39]So aber VG Chemnitz, a. a. O., S. 7 des Urteils.
[40]Keine Rechtfertigung für die eigene Auslegung ausländischer Rechtsnormen ergibt sich weiter aus der häufig zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen gemachten Erwägung der zitierten erstinstanzlichen Rechtsprechung, im Rahmen der Prüfung der Staatsangehörigkeit finde der Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung Anwendung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
[41]Etwa VG Münster, Urteile vom 10. September 2019
[42]Fragen der Beweiswürdigung und der Beweislast stellen sich erst, wenn das Tatsachengericht das für die Feststellung der Staatsangehörigkeit eines Schutzsuchenden entscheidungserhebliche ausländische Staatsangehörigkeitsrecht und seine Anwendungspraxis vollständig ermittelt hat, und es darum geht, ermittelte Einzeltatsachen einer Gesamtwürdigung in tatsächlicher Hinsicht zuzuführen und Schlüsse aus Indiztatsachen zu ziehen sowie sich dabei gegebenenfalls auch mit abweichenden Würdigungen sachverständiger Stellen und/oder anderer Tatsachengerichte auseinander zu setzen. Hingegen rechtfertigt der Überzeugungsgrundsatz aus § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO es nicht, die gebotene Sachverhaltsermittlung durch eine eigene Auslegung des ausländischen Staatsangehörigkeitsrechts zu ersetzen. Das ergibt sich auch nicht aus der in diesem Zusammenhang zitierten Revisionsentscheidung des Bundesverwaltungsgerichts.
[43]Vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Februar 2005
[44]Im Gegenteil lässt sich auch dieser Entscheidung eindeutig entnehmen, dass die richterliche Überzeugungsbildung vom Besitz einer ausländischen Staatsangehörigkeit auf einer vollständigen Tatsachengrundlage zu erfolgen hat, die gerade auch bei Fehlen von Ausweispapieren eine Sachverhaltsermittlung und -würdigung voraussetzt. Das ergibt sich insbesondere aus dem klarstellenden Hinweis, „dass die häufig schwierige Feststellung einer ausländischen Staatsangehörigkeit in der Regel nicht ohne Einholung von amtlichen Auskünften oder Gutachten zur einschlägigen Gesetzeslage und Rechtspraxis in dem betreffenden Staat möglich sein dürfte“.
[45]Ebenso BVerwG, Urteil vom 13. Februar 2014
[46]Speziell bezogen auf das Herkunftsland Äthiopien lässt sich eine eigene Auslegung des dortigen Staatsangehörigkeitsrechts schließlich auch nicht mit der Erwägung rechtfertigen, dass das zu diesem Land vorliegende Quellenmaterial so gut wie keine Rechtsprechung äthiopischer Gerichte zu den jeweiligen staatsangehörigkeitsrechtlichen Normen nachweist. Denn das äthiopische Justizsystem ist völlig überlastet, da es zu wenige Richter gibt. Die Justiz ist offiziell unabhängig, aber in der Praxis Gegenstand politischer Einflussnahme, so dass Urteile selten von der Regierungspolitik abweichen. Erst die Ernennung der Anwältin Meaza Ashenafi zur ranghöchsten Richterin des Landes im November 2018 hat Hoffnungen auf eine Justizreform geweckt. Sie hat versprochen, die Unabhängigkeit der Justiz zu stärken und die Korruption vor Gericht zu verringern.
[47]Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation (ACCORD), Ethiopia: COI Compilation, November 2019, S. 83 f.; D-A-CH Fact Finding Mission Äthiopien/Somaliland, Bericht von Mai 2010, S. 21.
[48]Unter diesen Umständen liegt es nahe, dass sich eine Ermittlung der maßgeblichen Rechts- und Staatspraxis zum äthiopischen Staatsangehörigkeitsrecht jedenfalls für die Zeit bis 2018 notwendigerweise auf die Handhabung durch Regierung und nachgeordnete Behörden beschränken muss.
[49]b) Nach diesen Maßstäben haben die Kläger zu 1. und 2. ihre durch Geburt erworbene äthiopische Staatsangehörigkeit weder mit der Entstehung des Staates Eritrea mit Wirkung vom 24. Mai 1993 noch in der Zeit danach bis zum Beginn des äthiopisch-eritreischen Grenzkrieges im Mai1998 verloren. In diesem Zeitraum wohnten beide Kläger nach ihren eigenen Angaben als Kinder mit ihren jeweiligen Müttern in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba, in die der Kläger zu 1. etwa 1992 mit seiner Mutter von Asmara im heutigen Eritrea und die Klägerin zu 2. etwa 1988, als sie etwa vier Jahre alt gewesen sei, mit ihrer Mutter und ihrem älteren Bruder vom Stadtteil T. der eritreischen Hafenstadt Assab umgesiedelt waren.
[50]Maßgeblich für die Frage eines solchen Staatsangehörigkeitsverlustes war der bis zum 23. Dezember 2003 geltende Verlustgrund in Art. 11 Buchstabe a) äthStAG 1930. Nach dieser Vorschrift verlor ein äthiopischer Staatsangehöriger seine Staatsangehörigkeit durch Erwerb einer anderen Staatsangehörigkeit. Die Bestimmung war Ausdruck des Prinzips der Vermeidung doppelter Staatsangehörigkeit im äthiopischen Staatsangehörigkeitsrecht.
[51]Schröder, Stellungnahmen vom 20. August 2019, a. a. O., S. 6 (Rn. 11), und vom 22. März 2011, S. 7 (Rn. 9).
[52]Sie ließ im Zusammenhang mit anderen Vorschriften des äthStAG 1930, etwa Art. 4 äthStAG 1930, eine durchweg negative Einstellung des äthiopischen Gesetzgebers gegenüber doppelten Staatsangehörigkeiten erkennen, rechtfertigte aber nicht den Schluss auf eine ausnahmslose Geltung und Durchsetzung des genannten Prinzips. Denn im äthStAG 1930 nicht geregelt war etwa die Frage, ob auch ein Staatsangehörigkeitserwerb einer ausländischen Frau durch Heirat eines äthiopischen Mannes voraussetzte, dass die Frau ihre bisherige fremde Staatsangehörigkeit aufgab (Art. 2 äthStAG 1930).
[53]Nelle, in: Bergmann u. a., a. a. O., S. 12 (Fn. 4), S. 14.
[54]Art. 11 Buchstabe a) äthStAG 1930 regelte nach damaligem äthiopischem Rechtsverständnis den Staatsangehörigkeitsverlust grundsätzlich nur bei gewillkürtem Erwerb einer fremden Staatsangehörigkeit. Hingegen enthielten danach weder diese Bestimmung noch die sonstigen Vorschriften des äthStAG 1930 eine Regelung für den Fall, dass ein äthiopischer Staatsangehöriger kraft Gesetzes eine fremde Staatsangehörigkeit erwarb. Erst dann, wenn ein äthiopischer Staatsangehöriger eine erworbene fremde Staatsangehörigkeit aktiv ausübte, indem er in Äthiopien oder in anderen Staaten als nichtäthiopischer Staatsangehöriger auftrat, führte dies in der äthiopischen Anwendungspraxis zur Aberkennung der äthiopischen Staatsangehörigkeit. Dieses Rechtsverständnis und diese Anwendungspraxis bestanden jedenfalls seit dem 24. Mai 1991, dem Tag der militärischen Einnahme Asmaras und damit der Übernahme der Regierungsgewalt über das eritreische Territorium durch die im Befreiungskrieg siegreiche Eritreische Volksbefreiungsfront (EPLF).
[55]Schröder, Stellungnahmen vom 20. August 2019, a. a. O., S. 6 (Rn. 11 f.), S. 8 (Rn. 29), und vom 22. März 2011, S. 6 (Rn. 3); AA, Auskunft vom 21. Juli 2003 an VG München, S. 2 („Antragserwerb“); vgl. auch VG Arnsberg, Urteil vom 24. Oktober 2014
[56]Das genannte Anknüpfen an eine aktive Ausübung einer erworbenen fremden Staatsangehörigkeit, aber auch eine durchaus festzustellende willkürliche Handhabung dieses unbestimmten Merkmals im Einzelfall sind gemeint, wenn die Rechtsprechung formuliert hat, die äthiopische Anwendungspraxis habe hinsichtlich des Art. 11 Buchstabe a) äthStAG 1930 „voluntative Elemente“ mit einbezogen.
[57]VG Arnsberg, Urteil vom 24. Oktober 2014, a. a. O., Rn. 55 ff.; VG Düsseldorf, Urteil vom 23. Mai 2013
[58]Dieses Rechtsverständnis einer Anknüpfung an eine aktive Ausübung einer erworbenen fremden Staatsangehörigkeit für den Verlust der äthiopischen Staatsangehörigkeit hat der äthiopische Verfassungsgeber überdies schon wenig später in der am 21. August 1995 in Kraft getretenen neuen äthiopischen Verfassung (äthVerf) festgeschrieben.
[59]Auszugsweise deutsche Übersetzung abgedruckt bei Nelle, in: Bergmann u. a., a. a. O., S. 15; Nelle, StAZ 2004, S. 234 (235); englische Fassung abrufbar unter http://www.fsc.gov.et/Content/Negarit%20Gazeta/Negarit%20Gazeta/Gazeta-1987/Proc%20No.%201-1995%20Constitution%20of%20the%20Federal%20Democratic%20Repu.pdf (zuletzt abgerufen am 26. Juni 2020).
[60]Denn nach Art. 33 Abs. 1 Satz 1 äthVerf darf keinem Äthiopier seine Staatsangehörigkeit gegen seinen Willen entzogen werden. Hingegen hat jeder Staatsangehörige das Recht, die äthiopische Staatsangehörigkeit zu Gunsten einer anderen aufzugeben (Abs. 3).
[61]Vormals äthiopische Staatsangehörige eritreischer Abstammung, die in Äthiopien lebten, sah die maßgebliche Anwendungspraxis der äthiopischen Regierung in Übereinstimmung mit diesen verfassungsrechtlichen Bestimmungen in der Zeit zwischen Mai 1993 und dem Ausbruch des äthiopisch-eritreischen Grenzkrieges im Mai 1998 grundsätzlich ohne Rücksicht darauf weiterhin als äthiopische Staatsangehörige an, ob sie aus der Sicht des neu entstandenen eritreischen Staates und/oder aus internationaler Sicht zugleich auch eritreische Staatsangehörige waren. Insbesondere setzten die äthiopischen Passbehörden ihre bis dahin geübte Praxis regelmäßig fort, auch diesem Personenkreis weiterhin äthiopische Identitätskarten und gegebenenfalls auch Pässe auszustellen oder zu verlängern. Sogar zahlreiche Eritreer aus dem Gebiet des neu entstandenen Staates Eritrea, die nach 1991 erstmals in das Gebiet des heutigen Äthiopien umsiedelten, erhielten problemlos eine äthiopische Identitätskarte und oft auch einen äthiopischen Pass und wurden damit als äthiopische Staatsbürger behandelt. Die nach 1992 ausgestellten äthiopischen Identitätskarten enthielten die neu eingeführte Rubrik „ethnische Zugehörigkeit“ (amharisch: beher), die man bei äthiopischen Staatsangehörigen eritreischer Abstammung mit dem Eintrag „Eritrean“ versah, um den Inhaber als äthiopischen Staatsangehörigen eritreischer Abstammung zu kennzeichnen. Darüber hinaus behielten diese Personen auch ihren etwaigen Immobilienbesitz in Äthiopien, der für Ausländer nach Art. 390 des äthiopischen Zivilgesetzbuches verboten war (vgl. heute auch Art. 40 äthVerf). Entsprechendes galt für Geschäftslizenzen und Berufserlaubnisse, die nur äthiopischen Staatsangehörigen zustanden. Die Regierung Äthiopiens vermied öffentlich jede Erörterung der ungeklärten Frage der Staatsangehörigkeit der in Äthiopien lebenden vormals äthiopischen Staatsangehörigen eritreischer Abstammung. Beide beteiligte Regierungen vereinbarten im August 1996, in einer nicht näher bestimmten Zukunft eine Befragung unter diesem Personenkreis nach der bevorzugten Staatsangehörigkeit durchführen zu wollen. Diese Befragung kam jedoch bis zum Kriegsausbruch im Mai 1998 nicht zustande. Erst um den Jahreswechsel 2003/2004 führte die äthiopische Regierung mit der Neuregelung des äthiopischen Staatsangehörigkeitsrechts eine zumindest einseitige Klärung dieser offenen Staatsangehörigkeitsfrage herbei (dazu im Einzelnen unten c)).
[62]Schröder, Stellungnahmen vom 20. August 2019, a. a. O., S. 8 ff. (Rn. 31 bis 37), und vom 22. März 2011, S. 8 f. (Rn. 11 bis 15); Eritrea Ethiopia Claims Commission (EECC), Partial Award, Civilian Claims, Eritrea's claims 15, 16, 23 & 27-32, S. 12 (Rn. 46 ff.), abrufbar unter https://pca-cpa.org/en/cases/71/ (zuletzt abgerufen am 26. Juni 2020); Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), „Äthiopien: Gemischt eritreisch-äthiopische Herkunft“, Auskunft vom 29. Januar 2013, S. 1; BFM, Focus Äthiopien/Eritrea vom 19. Februar 2010, a. a. O., S. 5.
[63]Diese vorläufige faktische Hinnahme einer doppelten äthiopisch-eritreischen Staatsangehörigkeit betraf insbesondere auch alle diejenigen in Äthiopien lebenden vormals äthiopischen Staatsangehörigen eritreischer Abstammung, die sich in der Zeit seit dem Erlass der „Eritrean Nationality Proclamation No. 21/1992“ vom 6. April 1992,
[64]englische Fassung abrufbar unter https://www.refworld.org/docid/3ae6b4e026.html (zuletzt abgerufen am 26. Juni 2020),
[65]zum Zweck der Teilnahme am Unabhängigkeitsreferendum vom 23. bis 25. April 1993 oder unabhängig davon in der Zeit danach eine eritreische Identitätskarte hatten ausstellen lassen oder die Geldzahlungen an den eritreischen Staat erbracht oder diesen sonst unterstützt hatten. Denn der äthiopischen Regierung war vor Durchführung des Referendums selbstverständlich bewusst gewesen, dass, wer daran teilnehmen wollte, sich zuvor seine damals noch vorläufige eritreische Staatsangehörigkeit durch Ausstellung einer eritreischen Identitätskarte bestätigen lassen musste und er dadurch bei endgültigem Entstehen der eritreischen Staatsangehörigkeit formal den Verlusttatbestand in Art. 11 Buchstabe a) äthStAG 1930 erfüllen würde. Gleichwohl hatte die äthiopische Regierung die betroffenen Personen nicht etwa auf die absehbaren Folgen eines solchen Staatsangehörigkeitsverlustes für Militärdienst, Berufsausübung und etwaigen Immobilienbesitz hingewiesen und versucht, sie von einer Teilnahme am Referendum abzuhalten. Vielmehr hat sie öffentlich die in Äthiopien lebenden äthiopischen Staatsangehörigen eritreischer Abstammung aufgerufen, sich für das Referendum registrieren zu lassen. Folgerichtig haben der Staat Eritrea, internationale Menschenrechtsorganisationen und Völkerrechtler der äthiopischen Regierung später nach dem Grenzkrieg 1998-2000 vorgehalten, durch ihre fortdauernde Behandlung dieser Menschen als äthiopische Staatsbürger diese von der Anwendung des Art. 11 Buchstabe a) äthStAG 1930 ausgenommen und damit die Doppelstaatsbürgerschaft für diesen Personenkreis in legal bindender Weise und nicht nur de-facto akzeptiert zu haben.
[66]Schröder, Stellungnahme vom 20. August 2019, a. a. O., S. 8 (Rn. 31 bis 37), S. 12 (Rn. 46 f.).
[67]Anderslautende Auskünfte und Gerichtsentscheidungen, nach denen die äthiopischen Behörden diejenigen vormals äthiopischen Staatsangehörigen eritreischer Abstammung, die am Unabhängigkeitsreferendum teilgenommen oder Geldzahlungen an den eritreischen Staat erbracht hätten, als Eritreer und somit als Ausländer betrachteten, stehen der vorgenannten, ausschließlich auf die Anwendungspraxis der äthiopischen Regierung in der Zeit zwischen Mai 1993 und Mai 1998 bezogenen Feststellung nicht entgegen. Denn sie beziehen sich ausdrücklich oder sinngemäß auf die äthiopische Sichtweise in der Zeit nach dem Ausbruch des äthiopisch-eritreischen Grenzkrieges im Mai 1998 oder zumindest lässt sich dies nicht ausschließen.
[68]AA, Auskunft an VG Schwerin vom 9. Juni 2016, S. 2; Institut für Afrikakunde (IAK), Auskunft vom 15. Januar 2001 an VG Kassel, S. 3; OVG NRW, Beschluss vom 9. Februar 2010
[69]Auch vormals äthiopische Staatsangehörige eritreischer Abstammung, die in der Zeit zwischen Mai 1993 und Mai 1998 in Drittstaaten lebten oder in einen solchen Staat umsiedelten, behandelte die Anwendungspraxis der äthiopischen Regierung entsprechend dem oben beschriebenen Rechtsverständnis des Art. 11 Buchstabe a) äthStAG 1930 grundsätzlich weiterhin als äthiopische Staatsangehörige, solange sie während ihres Aufenthaltes im Drittstaat keine Handlungen vornahmen, die aus äthiopischer Sicht als eine aktive Ausübung einer etwa erworbenen eritreischen Staatsangehörigkeit zu qualifizieren waren. Da das äthStAG 1930 allein an das Verlassen des äthiopischen Territoriums keinen Verlust der äthiopischen Staatsangehörigkeit knüpfte, behielten diese Personen ihre äthiopische Staatsangehörigkeit bei. Erst dann, wenn der Betreffende im Drittstaat die eritreische Staatsangehörigkeit annahm oder als eritreischer Staatsangehöriger auftrat, führte dies in der äthiopischen Anwendungspraxis zur Aberkennung der äthiopischen Staatsangehörigkeit.
[70]AA, Auskunft an VG Schwerin vom 9. Juni 2016, S. 2; BFM, Focus Äthiopien/Eritrea vom 19. Februar 2010, a. a. O., S. 7.
[71]Nicht ohne weiteres plausibel ist die hiervon abweichende Mitteilung des Gutachters Günter Schröder, Äthiopien habe die in Drittgebieten lebenden Personen eritreischer Abstammung nur dann weiterhin als seine Staatsangehörigen angesehen, wenn sie im Besitz eines äthiopischen Nationalpasses gewesen seien, anderenfalls seien sie als eritreische Staatsbürger angesehen worden, für die Äthiopien nicht länger zuständig gewesen sei.
[72]Schröder, Stellungnahme vom 20. August 2019, a. a. O., S. 8 (Rn. 27 f.).
[73]Denn diese Mitteilung steht im Widerspruch zu den oben bereits zitierten Aussagen desselben Gutachters, wonach einem äthiopischem Staatsangehörigen die äthiopische Staatsangehörigkeit in der äthiopischen Anwendungspraxis erst dann aberkannt wurde, wenn er eine erworbene fremde Staatsangehörigkeit aktiv ausübte, indem er in Äthiopien oder in anderen Staaten als nichtäthiopischer Staatsangehöriger auftrat.
[74]Einen Verlust der äthiopischen Staatsangehörigkeit nahm die äthiopische Anwendungspraxis in der Zeit zwischen dem 24. Mai 1993 und Mai 1998 lediglich für in Eritrea lebende oder dorthin umgesiedelte vormals äthiopische Staatsangehörige eritreischer Abstammung an. Die äthiopischen Behörden gingen davon aus, dass das eritreische Recht für alle auf dem Gebiet Eritreas lebenden über 18 Jahre alten vormals äthiopischen Staatsangehörigen eritreischer Abstammung zwingend die Ausstellung einer eritreischen Identitätskarte vorschrieb. Unabhängig von der Entgegennahme einer solchen Identitätskarte nahmen die äthiopischen Behörden an, dass alle in Eritrea lebenden vormals äthiopischen Staatsangehörigen eritreischer Abstammung auch durch ihre sonstigen Kontakte mit den eritreischen Behörden die ihnen zuerkannte eritreische Staatsangehörigkeit faktisch ausübten und somit die äthiopische Staatsangehörigkeit verloren hätten.
[75]Schröder, Stellungnahme vom 20. August 2019, a. a. O., S. 8 (Rn. 24 ff.).
[76]Hiernach ließ ein etwaiger Erwerb der eritreischen Staatsangehörigkeit mit der Entstehung des Staates Eritrea mit Wirkung vom 24. Mai 1993 durch in Äthiopien lebende vormals äthiopische Staatsangehörige eritreischer Abstammung deren durch Geburt erworbene äthiopische Staatsangehörigkeit grundsätzlich unberührt.
[77]Ebenso Sächs. OVG, a. a. O., Rn. 11; VG Münster, Urteile vom 23. Juli 2019
[78]Insbesondere vermied es die äthiopische Regierung vorläufig, den formal auch für diesen Personenkreis geltenden Verlustgrund in Art. 11 Buchstabe a) äthStAG 1930 zwangsweise und sofort auch in der Verwaltungspraxis auf ihn anzuwenden. Vielmehr strebten die Regierungen beider Staaten nach dem oben Ausgeführten eine Optionslösung an, die es den Betroffenen ermöglichen sollte, sich rechtsverbindlich für eine der beiden Staatsangehörigkeiten zu entscheiden. Gerade diese angestrebte Option spricht durchgreifend und zwingend gegen die Annahme, die Betroffenen hätten ihre äthiopische Staatsangehörigkeit aus der Sicht der äthiopischen Staatspraxis bereits mit Wirkung vom 24. Mai 1993 kraft Gesetzes verloren. Denn diese Annahme hätte der angestrebten Optionslösung von vornherein die Grundlage entzogen.
[79]Ähnlich VG Düsseldorf, Urteil vom 21. März 2019
[80]In diese Richtung geht auch die in der Rechtsprechung vertretene, wenngleich ebenfalls eher auf die eigene Auslegung äthiopischen Rechts als auf eine Ermittlung und Feststellung der tatsächlichen Anwendungspraxis bezogene Erwägung, dem äthiopischen Gesetzgeber könne „nicht unterstellt werden, dass er es damit dem Staatsangehörigkeitsgesetz eines aus einer äthiopischen Provinz hervorgegangenen Staates ermöglichen wollte, Äthiopien ohne weiteres einen erheblichen Teil seiner bisherigen Staatsangehörigen ipso jure, d. h. unmittelbar durch Gesetz und ohne weiteres Zutun der Betroffenen, zu entziehen.“
[81]Sächs. OVG, a. a. O., Rn. 14; VG Münster, Urteile vom 23. Juli 2019
[82]Mit den oben getroffenen tatsächlichen Feststellungen unvereinbar ist die abweichende Auffassung erstinstanzlicher Verwaltungsgerichte, vor dem 24. Mai 1993 geborene und an diesem Tag in Äthiopien lebende vormals äthiopische Staatsangehörige eritreischer Abstammung hätten ihre durch Geburt erworbene äthiopische Staatsangehörigkeit mit der Entstehung des Staates Eritrea ipso iure nach Art. 11 Buchstabe a) äthStAG 1930 verloren. Die vorstehend beschriebene Anwendungspraxis der äthiopischen Regierung und der ihr unterstehenden Behörden müsse bei der „Auslegung“ des Art. 11 Buchstabe a) äthStAG 1930 unberücksichtigt bleiben, weil sie in evidentem Widerspruch zum Wortlaut dieser ausländischen Rechtsnorm stehe.
[83]VG Münster, Urteil vom 22. Juli 2015, ,a. a. O. Rn. 32, 36, 70, 73; VG Gelsenkirchen, a. a. O., S. 15 f.; VG Hannover, Urteile vom 23. Januar 2018, a. a. O., Rn. 53, und vom 25. Oktober 2017, a. a. O., Rn. 60.
[84]Diese Auffassung beruht, wie bereits ausgeführt, schon methodisch auf der unzutreffenden Prämisse, als deutsches Verwaltungsgericht zu einer eigenen Auslegung des Art. 11 Buchstabe a) äthStAG 1930 unter Heranziehung von im deutschen Recht gebräuchlichen Auslegungsmethoden, insbesondere der Wortlautauslegung berechtigt zu sein. Diese Prämisse ist unvereinbar mit den oben unter a) genannten Maßstäben aus der höchstrichterlichen und obergerichtlichen Rechtsprechung zur Ermittlung des Inhalts ausländischer Rechtsnormen. Unabhängig davon lässt sich auch kein „evidenter Widerspruch“ der festgestellten äthiopischen Anwendungspraxis in Bezug auf in Äthiopien lebende vormals äthiopische Staatsangehörige eritreischer Abstammung zum damaligen äthiopischen Rechtsverständnis von Art. 11 Buchstabe a) äthStAG 1930 feststellen. Vielmehr war durch die Unabhängigkeit Eritreas für diesen Personenkreis eine staatsangehörigkeitsrechtlich ungeklärte Sondersituation entstanden, welche die Betroffenen deutlich von der Situation anderer Äthiopier unterschied, die eine nichteritreische fremde Staatsangehörigkeit erworben hatten. In dieser Sondersituation erschien es völker- und staatsangehörigkeitsrechtlich nicht von vornherein unvertretbar, abweichend von dem das äthiopische Staatsangehörigkeitsrecht grundsätzlich beherrschenden Prinzip der Vermeidung von Mehrfachstaatsangehörigkeit hier ausnahmsweise eine doppelte äthiopisch-eritreische Staatsangehörigkeit vorübergehend bis zu einer staatsvertraglichen Vereinbarung mit dem Staat Eritrea faktisch hinzunehmen.
[85]Im Ergebnis ebenso VG Magdeburg, a. a. O., Rn. 19.
[86]Mit den vorstehend getroffenen tatsächlichen Feststellungen allenfalls im Ergebnis vereinbar ist die weitere abweichende Auffassung erstinstanzlicher Verwaltungsgerichte, die das oben bereits im Zusammenhang mit der äthiopischen Anwendungspraxis angesprochene „voluntative Element“ im Wege unzulässiger eigener Auslegung zum Norminhalt des Art. 11 Buchstabe a) äthStAG 1930 machen wollen. Die Vorschrift sei dahingehend „zu verstehen“, dass ein äthiopischer Staatsangehöriger seine äthiopische Staatsangehörigkeit nur dann verliere, wenn er sich durch einen freiwilligen Akt für den Erwerb einer anderen Staatsangehörigkeit entscheide. Erwerbe er hingegen ohne sein Zutun und möglicherweise gegen seinen Willen ipso iure eine fremde Staatsangehörigkeit, führe dies nicht zu einem automatischen Verlust der äthiopischen Staatsangehörigkeit nach Art. 11 Buchstabe a) äthStAG 1930. Diese „Auslegung“ werde bereits durch den Wortlaut der Norm indiziert.
[87]VG Münster, Urteile vom 10. September 2019
[88]Auch hierin liegt zunächst eine methodisch unzulässige eigene Auslegung des Art. 11 Buchstabe a) äthStAG 1930 durch ein deutsches Gericht unter Heranziehung von im deutschen Recht gebräuchlichen Auslegungsmethoden. Sie hätte zwangsläufig zur Konsequenz, dass das gefundene „Auslegungsergebnis“ ohne Rücksicht auf die tatsächliche, vor und nach Mai 1998 grundlegend verschiedene äthiopische Anwendungspraxis einheitlich bis zum Außerkrafttreten des Art. 11 Buchstabe a) äthStAG 1930 im Dezember 2003 Geltung beanspruchte. Ebenso beanspruchte es Geltung für einen Staatsangehörigkeitsverlust durch den Erwerb nicht nur der eritreischen Staatsangehörigkeit, sondern auch anderer fremder Staatsangehörigkeiten, selbst wenn die äthiopische Anwendungspraxis gegenüber anderen Staaten wegen Fehlens der oben beschriebenen staatspolitischen und staatsangehörigkeitsrechtlichen Sondersituation gerade der Personen eritreischer Abstammung andere Maßstäbe zugrunde gelegt haben sollte. Beispielsweise hatten mehrere der im Sommer 2018 aus dem Exil zurückgekehrten Vorsitzenden der zuvor als terroristisch eingestuften verbotenen Oppositionsparteien die Staatsangehörigkeit ihres jeweiligen Gastlandes erworben (USA, Großbritannien) und werden daher von den äthiopischen Behörden vorbehaltlich eines Wiedererwerbs der äthiopischen Staatsangehörigkeit als Ausländer ohne politisches Betätigungsrecht angesehen.
[89]AA, Lagebericht vom 24. April 2020, S. 10 (Wiedererwerb als „wichtige Weichenstellung“); Schweizerisches Staatssekretariat für Migration, Focus Äthiopien, Der politische Umbruch 2018, Bericht vom 16. Januar 2019, S. 7.
[90]Sollten hiernach die Kläger zu 1. und 2. mit dem Entstehen des unabhängigen Staates Eritrea am 24. Mai 1993 kraft eritreischen Gesetzes und in der Anwendungspraxis der eritreischen Behörden auch die eritreische Staatsangehörigkeit erworben haben, blieb ihre äthiopische Staatsangehörigkeit hiervon unberührt. Denn der Verlusttatbestand in Art. 11 Buchstabe a) äthStAG 1930 erfasste diesen gesetzlichen Erwerb nach dem damals bis jedenfalls Mai 1998 in Äthiopien vorherrschenden Rechtsverständnis ebenso wenig wie nach der damaligen äthiopischen Anwendungspraxis. Die während des genannten Zeitraums noch minderjährigen Kläger zu 1. und 2. haben nach ihren Angaben in dieser Zeit weder zu irgendeinem Zeitpunkt in Eritrea gelebt noch durch irgendwelche Kontakte mit den eritreischen Behörden eine ihnen aus deren Sicht etwa zuerkannte eritreische Staatsangehörigkeit faktisch ausgeübt.
[91]c) Die Kläger zu 1. und 2. haben ihre jeweils durch Geburt erworbene äthiopische Staatsangehörigkeit auch nicht durch die behaupteten Umzüge mit ihren Müttern aus der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba in den Sudan verloren. Der Kläger zu 1. gibt als Zeitpunkt dieses Umzugs das Jahr 2001 an, die Klägerin zu 2. teilt mit, sie hätten Äthiopien „nach ungefähr zehn Jahren“ nach ihrem Zuzug aus Eritrea im Jahr 1988, also 1998 „als Eritreer“ verlassen, „als zwischen beiden Ländern ein Konflikt bestanden habe.“ Danach soll der behauptete Umzug jedenfalls im Fall der Klägerin zu 2. in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang mit dem am 12. Mai 1998 ausgebrochenen eritreisch-äthiopischen Grenzkrieg gestanden haben, in dessen Verlauf die äthiopische Regierung bis März 2002 mehrere zehntausend äthiopische Staatsangehörige eritreischer Abstammung von Äthiopien nach Eritrea deportieren ließ und einer noch deutlich höheren Anzahl auch derjenigen, die unter diesem Druck im Wege sog. „freiwilliger Repatriierung“ nach Eritrea oder in ein Drittland ausreisten oder gleichwohl in Äthiopien verblieben, die äthiopische Staatsangehörigkeit faktisch aberkannte, indem sie ihnen Passausstellungen und -verlängerungen verweigerte und sie stattdessen aufforderte, sich als Ausländer registrieren zu lassen und Aufenthaltsgenehmigungen zu beantragen. Auch das verfassungsrechtliche Entziehungsverbot in Art. 33 Abs. 1 Satz 1 äthVerf hat diese Ausbürgerungen von Äthiopiern eritreischer Herkunft nicht verhindert.
[92]BFM, Focus Äthiopien/Eritrea vom 19. Februar 2010, a. a. O., S. 5 f.; Schröder, Stellungnahme vom 20. August 2019, a. a. O., S. 15 f. (Rn. 57 ff.); D-A-CH Fact Finding Mission Äthiopien/Somaliland, Bericht von Mai 2010, S. 52.
[93]Für die Frage, ob auch die Kläger zu 1. und 2. im Zusammenhang mit diesen Maßnahmen ihre äthiopische Staatsangehörigkeit durch die Ausreise mit ihren jeweiligen Müttern in den Sudan verloren haben, sind die Verlusttatbestände in den Art. 19 ff. des am 23. Dezember 2003 in Kraft getretenen äthStAG und der dazu speziell für Äthiopier eritreischer Abstammung im Januar 2004 ergangenen Direktive sowie deren Handhabung in der äthiopischen Anwendungspraxis maßgeblich. Unerheblich ist hingegen, ob der äthiopische Staat die Kläger zu 1. und 2. in den Jahren zwischen Mai 1998 und Dezember 2003 unter Geltung des Verlusttatbestandes in Art. 11 Buchstabe a) äthStAG 1930 vorübergehend als Ausländer angesehen haben sollte. Denn erst mit den Art. 19 ff. äthStAG und der Direktive hat die äthiopische Regierung jedenfalls der praktischen Handhabung nach auch rückwirkend den Status und die Rechte von Personen eritreischer Abstammung geregelt, die in den Jahren zuvor von Verfolgungsmaßnahmen der geschilderten Art betroffen waren. Für den Fortbestand der äthiopischen Staatsangehörigkeit der Kläger zu 1. und 2. nach ihrer Übersiedelung in den Sudan kommt es nur auf diese Rechtslage und Staatspraxis ab Dezember 2003 an. Denn in asylrechtlichen Streitigkeiten stellt das Tatsachengericht nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG regelmäßig auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt seiner gerichtlichen Entscheidung ab, soweit nicht hiervon aus Gründen des materiellen Rechts eine Abweichung geboten ist.
[94]BVerwG, Urteile vom 20. Februar 2020
[95]Nach diesem Maßstab ist hier ist hier auf die Rechtslage und Staatspraxis Äthiopiens ab Dezember 2003 abzustellen.
[96]So zutreffend auch VG Magdeburg,R a. a. O., n. 22.
[97]Seit dem 23. Dezember 2003 richtet sich der Verlust der äthiopischen Staatsangehörigkeit auf Grund des Erwerbs einer fremden Staatsangehörigkeit nach den Art. 17, 20 äthStAG. Nach Art. 17 äthStAG darf keinem Äthiopier die Staatsangehörigkeit durch Entscheidung einer Verwaltungsbehörde entzogen werden, es sei denn er verliert seine Staatsangehörigkeit nach den Art. 19 oder 20 äthStAG. Nach Art. 20 Abs. 3 äthStAG wird ein Äthiopier, der aus einem anderen Grund als dem in Abs. 2 genannten ohne eigenes Dazutun eine fremde Staatsangehörigkeit auf rechtlichem Wege erwirbt, so angesehen, als ob er freiwillig auf seine äthiopische Staatsangehörigkeit verzichtet hat, wenn er beginnt, Rechte aus einer derart erworbenen Staatsangehörigkeit auszuüben (Buchstabe a), oder es versäumt, innerhalb eines Jahres der Behörde den Wunsch zu erklären, durch Verzicht auf die fremde Staatsangehörigkeit die äthiopische beizubehalten (Buchstabe b).
[98]Zur Konkretisierung der Verlusttatbestände des Art. 20 äthStAG in Bezug auf die in Äthiopien lebenden äthiopischen Staatsangehörigen eritreischer Abstammung erließ das äthiopische Außenministerium am 19. Januar 2004 die Direktive zur Bestimmung des Aufenthaltsstatus von Eritreern in Äthiopien.
[99]Ministry of Foreign Affairs, Directive Issued to Determine the Status of Eritrean Nationals Residing in Ethiopia, englische Übersetzung abrufbar unter: http://www.refworld.org/cgi-bin/texis/vtx/rwmain?docid=48abd56c0 (zuletzt abgerufen am 26. Juni 2020); dazu Schröder, Stellungnahme vom 20. August 2019, a. a. O., S. 21 f. (Rn. 86 ff.); SFH, Äthiopien/Eritrea: Umstrittene Herkunft, Auskunft der SFH-Länderanalyse vom 22. Januar 2014, S. 4 f.
[100]Gegenstand dieser Direktive ist jede Person eritreischer Abstammung, die bei Entstehen der Unabhängigkeit des Staates Eritrea Einwohner in Äthiopien war und die ihren Daueraufenthalt in Äthiopien bis zum Erlass dieser Direktive fortgesetzt hat ([Ziff.] 2). Eine Person, die einen eritreischen Pass oder irgendein Dokument hat, das die eritreische Staatsangehörigkeit bestätigt, oder eine Person, die für die eritreische Regierung Dienst in einem Sektor leistet, der exklusiv für eritreische Staatsangehörige reserviert ist, wird als im Besitz der eritreischen Staatsangehörigkeit angesehen ([Ziff.] 4.1). Eine Person eritreischer Herkunft, die nicht für die eritreische Staatsangehörigkeit optiert hat, soll so angesehen werden, als habe sie sich für die Beibehaltung seiner oder ihrer äthiopischen Staatsangehörigkeit entschieden, und seine oder ihre äthiopische Staatsangehörigkeit soll garantiert sein ([Ziff.] 4.2). In Übereinstimmung mit dieser Direktive muss eine Person, deren eritreische Staatsangehörigkeit auf der Grundlage von Art. 4.1 festgestellt ist, an einem Ort und zu einer Zeit, die von den Behörden festgesetzt werden, registriert werden ([Ziff.] 5.1).
[101]Mit dieser Direktive führte die äthiopische Regierung die oben unter b) angesprochene einseitige Klärung der seit dem 24. Mai 1993 ungelösten Staatsangehörigkeitsfrage für die in Äthiopien lebenden vormals äthiopischen Staatsangehörigen eritreischer Abstammung herbei. Sie verschaffte dem grundsätzlichen Prinzip der Vermeidung doppelter Staatsangehörigkeit im äthiopischen Staatsangehörigkeitsrecht auch für diesen Personenkreis wieder uneingeschränkte Geltung, indem sie mit den Abgrenzungskriterien in den Art. 4.1 und 4.2 eine jedenfalls der Rechtslage nach klare Trennung zwischen denjenigen Personen einerseits herbeiführte, welche durch Erwerb der eritreischen Staatsangehörigkeit die äthiopische Staatsangehörigkeit zunächst einmal verloren hatten (Art. 4.1) und denen sie nunmehr als in Äthiopien lebenden Ausländern privilegierte Einbürgerungs-, Aufenthalts-, Besitz- und Arbeitsrechte einräumte ([Ziff.] 4.3, 6, 8 und 9.2), sowie denjenigen Personen andererseits, welche ab sofort aus äthiopischer Sicht ausschließlich äthiopische Staatsangehörige waren (Art. 4.2). Zugleich beendete sie damit die faktische Behandlung als Doppelstaater aus der Zeit zwischen dem 24. Mai 1993 und Mai 1998 ebenso wie die jedenfalls in ihrem tatsächlichen Ausmaß mit Art. 33 Abs. 1 Satz 1 äthVerf nur schwer in Einklang zu bringende und auch international auf heftige Kritik gestoßene Deportations- und Ausbürgerungspraxis aus der Zeit zwischen Mai 1998 und Frühjahr 2002. Gleichwohl ließ die Direktive die Staatsangehörigkeitsverluste der nach Eritrea deportierten oder ausgereisten und bis Januar 2004 dort verbliebenen Personen eritreischer Abstammung unberührt.
[102]Im täglichen Leben verbesserte sich die Situation der in Äthiopien lebenden äthiopischen Staatsangehörigen eritreischer oder gemischt äthiopisch-eritreischer Abstammung durch die Direktive erheblich. Viele, aber keineswegs alle der noch in Äthiopien verbliebenen eritreisch-stämmigen Äthiopier erhielten ihr Eigentum und ihre zuvor gehaltenen Geschäftslizenzen und Führerscheine zurück, viele eritreisch-stämmige Äthiopier sogar auch wieder ihre ehemaligen Stellen im Staatsdienst, teilweise unter Nachzahlung ihres Gehaltes ab dem Zeitpunkt ihrer Entlassung. Berichte legen auch im Übrigen den Schluss nahe, dass die überwiegende Zahl der noch in Äthiopien verbliebenen Personen eritreischer Abstammung tatsächlich als äthiopische Staatsbürger anerkannt wurde und insbesondere die Kebele-Verwaltungen ihnen wieder die für äthiopische Staatsangehörige vorgesehenen Identitätskarten ausstellten. Insofern wurden das äthStAG und die Direktive auf in Äthiopien wohnhafte Personen eritreischer Abstammung grundsätzlich fair angewandt. Es sind nur Einzelfälle bekannt, in denen die Anwendung dieser Vorschriften verweigert wurde. Allerdings waren die Bestimmungen vielen Betroffenen gar nicht bekannt.
[103]Schröder, Stellungnahme vom 20. August 2019, a. a. O., S. 24 f. (Rn. 101, 104 f.); AA, Auskunft vom 9. Juni 2016 an das VG Schwerin, S. 2; D-A-CH Fact Finding Mission Äthiopien/Somaliland, Bericht von Mai 2010, S. 51; vgl. auch OVG NRW, Beschluss vom 9. Februar 2010, a. a. O., Rn. 14 m. w. N.
[104]aa) Vormals äthiopische Staatsangehörige eritreischer Abstammung, die vom 24. Mai 1993 bis zum 19. Januar 2004 permanent in Äthiopien lebten, haben danach in der Anwendungspraxis der äthiopischen Behörden auf der Grundlage von Art. 4.2 der Direktive ihre äthiopische Staatsangehörigkeit beibehalten, wenn sie im Registrierungsverfahren nach Art. 5.1 der Direktive glaubhaft vortragen und belegen konnten, dass sie die ihnen zuerkannte vorläufige oder endgültige eritreische Staatsangehörigkeit in der Zeit seit dem Erlass der „Eritrean Nationality Proclamation No. 21/1992“ vom 6. April 1992 nicht aktiv ausgeübt hatten. Eine große Zahl von eritreisch-stämmigen Äthiopiern, die weder eine eritreische Identitätskarte angenommen noch sonst eine etwa erworbene eritreische Staatsangehörigkeit ausgeübt hatten, wandte sich zum Zweck der Registrierung an die Registrierungsbüros, die in Addis Abeba und in den Regionen eingerichtet worden waren, um sich ihre äthiopische Staatsangehörigkeit eindeutig bestätigen zu lassen. Die überwältigende Mehrheit derjenigen eritreisch-stämmigen Äthiopier, denen dabei der genannte Nachweis gelang, wurde auch tatsächlich als äthiopische Staatsbürger anerkannt.
[105]Unter Hinweis auf die Schwierigkeit, verlässliche Daten hierzu zu erhalten: Schröder, Stellungnahme vom 20. August 2019, a. a. O., S. 21 (Rn. 89), S. 23 f. (Rn. 97 ff.).
[106]Eine solche Anerkennung einer erwachsenen Person eritreischer Abstammung als äthiopischer Staatsangehöriger im Registrierungsverfahren nach Art. 5.1 der Direktive erstreckten die äthiopischen Behörden grundsätzlich ohne Weiteres auch auf ihre minderjährigen Kinder. Diese Annahme liegt zunächst für die vor dem 24. Mai 1993 geborenen minderjährigen Kinder nahe, weil sie durch ihre Geburt ebenfalls ausschließlich die äthiopische, nicht aber auch die eritreische Staatsangehörigkeit erwerben konnten, sie die Voraussetzung des permanenten Daueraufenthalts in Äthiopien aus Art. 2 der Direktive regelmäßig ebenso erfüllten wie die Eltern oder der Elternteil und darüber hinaus schon wegen ihrer Geschäftsunfähigkeit zu einer aktiven Ausübung von Rechten aus der eritreischen Staatsangehörigkeit außerstande waren. Für jüngere, nach dem 24. Mai 1993 geborene Kinder galt Entsprechendes, weil auf sie zumindest dieser letztgenannte Gesichtspunkt ebenfalls zutraf. Eine solche grundsätzliche Einbeziehung auch minderjähriger Kinder entsprach zudem deren Behandlung im Fall einer Einbürgerung von Ausländern nach Art. 9 äthStAG sowie der Grundannahme der Direktive, dass die von ihr begünstigten Personen eritreischer Abstammung in Anbetracht der historischen Situation durch Heirat mit Äthiopiern und durch die Erziehung von Kindern und Enkelkindern starke Bindungen hergestellt haben ([Ziff.] 3.6, gemeint wohl Bindungen zum äthiopischen Staat). Minderjährige Kinder werden nach Art. 13 Abs. 2 äthStAG in die Identitätskarte der Eltern oder des Elternteils eingetragen.
[107]Zunächst einmal verloren hatten die äthiopische Staatsangehörigkeit durch den Erwerb der eritreischen Staatsangehörigkeit in der Anwendungspraxis der äthiopischen Behörden auf der Grundlage von Art. 4.1 der Direktive hingegen diejenigen Personen eritreischer Abstammung mit dauerhaftem Wohnsitz in Äthiopien zwischen dem 24. Mai 1993 und dem 19. Januar 2004, die von dort aus in der Zeit seit dem Erlass der „Eritrean Nationality Proclamation No. 21/1992“ am 6. April 1992 etwa am eritreischen Unabhängigkeitsreferendum vom 23. bis 25. April 1993 teilgenommen und sich zuvor hierfür eine eritreische Identitätskarte hatten ausstellen lassen. Dasselbe galt für Personen, die sich unabhängig von einer Teilnahme am Unabhängigkeitsreferendum eine solche Identitätskarte hatten ausstellen lassen oder andere eritreische Dokumente besaßen oder Dienste für den eritreischen Staat geleistet hatten, die eritreischen Staatsangehörigen vorbehalten waren. Die Anwendungspraxis der äthiopischen Registrierungsbehörden knüpfte hier an den sehr weit gefassten Begriff des Beginns der Ausübung von Rechten aus einer ohne eigenes Dazutun erworbenen ausländischen Staatsangehörigkeit aus Art. 20 Abs. 3 Buchstabe a) äthStAG an, der den äthiopischen Ausführungsorganen einen großen Interpretationsspielraum eröffnete. So wurden im Registrierungsverfahren nach Art. 5.1 der Direktive auch viele eritreisch-stämmige Äthiopier, die keine eritreische Identitätskarte hatten, als eritreische Staatsbürger eingestuft und ihnen damit die ursprünglich erworbene äthiopische Staatsangehörigkeit zunächst aberkannt, obwohl diese Aberkennung möglicherweise mit dem verfassungsrechtlichen Entziehungsverbot in Art. 33 Abs. 1 Satz 1 äthVerf sowie mit Art. 17 äthStAG schwer in Einklang zu bringen gewesen sein mag.
[108]Schröder, Stellungnahme vom 20. August 2019, a. a. O., S. 21 f. (Rn. 90), S. 24 (Rn. 101).
[109]Diese aus Sicht der äthiopischen Registrierungsbehörden nunmehr zunächst ausschließlich eritreischen Staatsangehörigen hatten jedoch nach Art. 4.3 der Direktive das Recht, im Registrierungsverfahren nach Art. 5.1 der Direktive den Wiedererwerb der äthiopischen Staatsangehörigkeit auf der Grundlage des Art. 22 Abs. 1 äthStAG zu beantragen. Nach dieser Vorschrift wird zur äthiopischen Staatsangehörigkeit wieder zugelassen, wer äthiopischer Staatsangehöriger war und eine fremde Staatsangehörigkeit auf rechtlichem Wege angenommen hat, wenn er seinen Wohnsitz wieder in Äthiopien nimmt (Buchstabe a)), auf seine fremde Staatsangehörigkeit verzichtet (Buchstabe b)), und bei der Behörde seine Wiedereinbürgerung beantragt (Buchstabe c)). Jedenfalls in Addis Abeba hat nach einem Bericht der staatlichen Nachrichtenagentur die Mehrheit der danach zunächst als eritreische Staatsangehörige eingestuften Personen, die sich registrierten, auch den Wiedererwerb der äthiopischen Staatsangehörigkeit beantragt und ab Mai 2004 erhalten.
[110]Schröder, Stellungnahme vom 20. August 2019, a. a. O., S. 23 f. (Rn. 98).
[111]Sowohl den im Registrierungsverfahren nach Art. 4.2, Art. 5.1 der Direktive unmittelbar als äthiopische Staatsangehörige anerkannten als auch den nach Art. 22 Abs. 1 äthStAG, Art. 4.3 der Direktive wiedereingebürgerten Personen stellten ihre Kebele-Verwaltungen äthiopische Identitätskarten aus, in denen man in die Rubrik „ethnische Zugehörigkeit“ „eritreisch“ oder „eritreisch-tigrinisch“ eintrug. Auch die Ergebnisse der Volkszählung 2007 belegen, dass der größte Teil der weiterhin in Äthiopien lebenden Menschen eritreischer Abstammung zu diesem Zeitpunkt wieder äthiopische Staatsbürger waren. Nach diesem Zensus lebten 2007 nur noch 9.734 eritreische Staatsbürger in Äthiopien, während die Zahl der äthiopischen Staatsangehörigen eritreischer Abstammung wohl nahe bei 100.000 Personen lag.
[112]Schröder, Stellungnahme vom 20. August 2019, a. a. O., S. 25 f. (Rn. 105 f.).
[113]Für diese Personen war mit den Registrierungen nach Art. 4.2, Art. 5.1 der Direktive oder den Wiedereinbürgerungen nach Art. 22 Abs. 1 äthStAG, Art. 4.3 der Direktive aus der maßgeblichen Sicht der äthiopischen Behörden auch der seit dem 24. Mai 1993 entstandene Konflikt mit dem Prinzip der Vermeidung doppelter und mehrfacher Staatsangehörigkeit im äthiopischen Staatsangehörigkeitsrecht ausgeräumt. Denn die wiedereingebürgerten Personen hatten im Zusammenhang mit ihrer Wiedereinbürgerung auf ihre eritreische Staatsangehörigkeit verzichtet (Art. 22 Abs. 1 Buchstabe b) äthStAG). Die auf der Grundlage von Art. 4.2 der Direktive unmittelbar als äthiopische Staatsangehörige anerkannten Personen hatten ihre aus der Sicht Eritreas etwa erworbene eritreische Staatsangehörigkeit nicht aktiv ausgeübt, lebten in Äthiopien, und hatten sich mit ihrer Registrierung ausdrücklich für die äthiopische Staatsangehörigkeit entschieden, so dass man sich auch Eritrea gegenüber als berechtigt ansah, sie als ausschließlich äthiopische Staatsangehörige zu behandeln. Die äthiopischen Behörden stellten dabei die für diesen Kreis von Personen eher theoretische Frage zurück, ob auch Eritrea sie für sich als Staatsangehörige in Anspruch nahm, ob sie also nach eritreischem Staatsangehörigkeitsrecht und aus der Sicht der eritreischen Behörden zugleich auch eritreische Staatsangehörige waren.
[114]Nur diejenigen in Äthiopien lebenden eritreisch-stämmigen Personen, die sich nicht im Verlauf des Jahres 2004 registrieren ließen, sah die Anwendungspraxis der äthiopischen Behörden als ausschließlich eritreische Staatsangehörige ohne Wiedereinbürgerungsrecht nach Art. 4.3 der Direktive an. Sie wurden als Gesetzesbrecher und illegale Ausländer behandelt und verpflichtet, ihren Aufenthalt in einem der Flüchtlingslager für Eritreer in Nordäthiopien zu nehmen, z. B. im Lager Shimelba, welches sich direkt an der äthiopisch-eritreischen Grenze befindet. An einer Fortsetzung der Praxis der Deportationen nach Eritrea aus den Jahren zwischen 1998 und 2002 sah man sich durch internationales Recht gehindert.
[115]Schröder, Stellungnahme vom 20. August 2019, a. a. O., S. 23 (Rn. 96), S. 24 f. (Rn. 103); BFM, Focus Äthiopien/Eritrea vom 19. Februar 2010, S. 10.
[116]Der Aufenthalt eines seit dem 24. Mai 1993 in Äthiopien lebenden, vormals äthiopischen Staatsangehörigen eritreischer Abstammung in einem Flüchtlingslager für Eritreer in den Jahren nach 2004 ist hiernach regelmäßig ein Indiz dafür, dass die äthiopischen Behörden in ihm einen ausschließlich eritreischen Staatsangehörigen sehen, der seine äthiopische Staatsangehörigkeit auf der Grundlage von Art. 4.1 der Direktive durch Erwerb der eritreischen Staatsangehörigkeit verloren und sich entgegen Art. 5.1 der Direktive nicht oder nicht rechtzeitig als Ausländer hat registrieren lassen. Entsprechendes gilt für einen Bewohner eines solchen Flüchtlingslagers, der nach Ausbruch des Grenzkrieges im Mai 1998 aus Eritrea nach Äthiopien geflohen ist.
[117]Minderjährige Kinder eritreischer Abstammung, die sich ohne Eltern in Äthiopien aufhielten, hatten mangels Geschäftsfähigkeit keine Möglichkeit, ihren staatsangehörigkeitsrechtlichen Status im Registrierungsverfahren nach Art. 5.1 der Direktive einer verbindlichen Klärung zuzuführen. Sie konnten dies allenfalls nachträglich bei Erreichen der Volljährigkeit mit Vollendung des 18. Lebensjahres nachholen.
[118]Schröder, Stellungnahme vom 20. August 2019, a. a. O., S. 33 (Rn. 148).
[119]Mit diesen tatsächlichen Feststellungen unvereinbar ist die abweichende Auffassung des Verwaltungsgerichts, die Bestimmungen der Direktive seien, soweit Personen eritreischer Abstammung eine etwa erworbene eritreische Staatsangehörigkeit aus der Sicht der äthiopischen Behörden nicht aktiv ausgeübt haben und daher auf der Grundlage des Art. 4.2 der Direktive von der äthiopischen Regierung weiterhin als äthiopische Staatsangehörige betrachtet werden, „für das erkennende Gericht … als deutsches staatliches Gericht im Rahmen der Prüfung der Staatsangehörigkeit nicht verbindlich“, weil sie „im Widerspruch zur (höherrangigen) äthiopischen Gesetzeslage (bis 23. Dezember 2003: StAG 1930; danach StAG 2003)“ stünden.
[120]VG Münster , Urteil vom 22. Juli 2015, a. a. O., Rn. 86.
[121]Auch diese Auffassung beruht nach dem oben unter a) Ausgeführten auf der methodisch unzutreffenden Prämisse, als deutsches Verwaltungsgericht zu einer eigenen Auslegung des äthiopischen Staatsangehörigkeitsrechts unter Heranziehung der im deutschen Recht gebräuchlichen Auslegungsmethoden berechtigt zu sein und von diesem Ausgangspunkt aus die äthiopische Direktive vom 19. Januar 2004 wie eine deutsche Verwaltungsvorschrift („Erlass der äthiopischen Behörden“) am „höherrangigen“ äthiopischen Gesetzesrecht des äthStAG messen zu dürfen. Diese Rechtsprechung ist auch im Ergebnis zu beanstanden, weil sie die betroffenen Personen aus Rechtsgründen als eritreische Staatsangehörige einstuft, obwohl die maßgebliche Anwendungspraxis der äthiopischen Behörden sie als äthiopische Staatsangehörige behandelt.
[122]bb) Äthiopische Staatsangehörige eritreischer Abstammung, die am 19. Januar 2004 in Äthiopien lebten, aber dort keinen fortgesetzten Daueraufenthalt seit dem 24. Mai 1993 hatten, sondern erst später aus dem Ausland zugezogen oder zurückgekehrt waren, haben in der Anwendungspraxis der äthiopischen Behörden ihre äthiopische Staatsangehörigkeit ebenfalls beibehalten, wenn sie zu keinem Zeitpunkt seit dem Erlass der „Eritrean Nationality Proclamation No. 21/1992“ vom 6. April 1992 mit der Ausübung von Rechten aus der ihnen zuerkannten vorläufigen oder endgültigen eritreischen Staatsangehörigkeit begonnen hatten. Auf sie fand die Direktive keine Anwendung, weil diesen Personen der in Art. 2 der Direktive vorausgesetzte fortgesetzte Daueraufenthalt in Äthiopien in der Zeit zwischen dem 24. Mai 1993 und dem 19. Januar 2004 fehlte. Stattdessen legten die äthiopischen Behörden der staatsangehörigkeitsrechtlichen Einordnung dieses Personenkreises außerhalb einer Anwendung der Direktive als Abgrenzungskriterium ebenfalls die am Begriff des Beginns der Ausübung von Rechten aus der ausländischen Staatsangehörigkeit aus Art. 20 Abs. 3 Buchstabe a) äthStAG orientierte Annahme zugrunde, dass die genannten Personen ihre frühere äthiopische Staatsangehörigkeit verloren hatten, wenn sie begonnen hatten, die ihnen zuerkannte eritreische Staatsangehörigkeit aktiv auszuüben (z. B. indem sie sich eine eritreische Identitätskarte ausstellen ließen). Bei Personen, die während des genannten Zeitraums aus Eritrea zugezogen oder zurückgekehrt waren, sah man schon allein in dem vorangegangenen Aufenthalt in Eritrea eine zum Staatsangehörigkeitsverlust führende aktive Ausübung von Rechten aus der eritreischen Staatsangehörigkeit (s. bereits oben b)).
[123]Schröder, Stellungnahme vom 20. August 2019, a. a. O., S. 26 f. (Rn. 107 ff.), S. 34 (Rn. 156).
[124]Hatte ein verheirateter Äthiopier eritreischer Abstammung seine äthiopische Staatsangehörigkeit nach diesem Abgrenzungskriterium verloren, hatte dieser Verlust nach Art. 21 äthStAG keine Auswirkung auf Ehegatten und Kinder.
[125]cc) Äthiopische Staatsangehörige eritreischer Abstammung, die am 19. Januar 2004 in Eritrea lebten, behandelte die Anwendungspraxis der äthiopischen Behörden als ausschließlich eritreische Staatsangehörige. Auch auf diese Personen fand die Direktive aus den oben zu bb) genannten Gründen keine Anwendung. Für diesen Personenkreis kam eine Anwendung der Direktive auch in der Praxis schon von vornherein deshalb nicht in Betracht, weil Art. 5.1 der Direktive eine Registrierung nur in Addis Abeba und in den Regionen Äthiopiens vorsah, nicht aber auch im Ausland. Dementsprechend äußerten sich auch führende Staatsbeamte der äthiopischen Innenverwaltung dahin, dass aus irgendeinem Land nach Äthiopien kommende Eritreer nicht in den Genuss der Direktive kommen könnten.
[126]Schröder, Stellungnahme vom 20. August 2019, a. a. O., S. 26 (Rn. 107); BFM, Focus Äthiopien/Eritrea vom 19. Februar 2010, S. 7.
[127]Der staatsangehörigkeitsrechtlichen Einordnung auch dieses Personenkreises legte die äthiopische Anwendungspraxis das bereits beschriebene, aus Art. 20 Abs. 3 Buchstabe a) äthStAG abgeleitete Abgrenzungskriterium einer aktiven Ausübung der ihnen zuerkannten eritreischen Staatsangehörigkeit zugrunde. Bei den in Eritrea lebenden Personen sahen die äthiopischen Behörden eine solche aktive Ausübung schon allein durch ihren dortigen Aufenthalt als erfüllt an und nahmen bei ihnen dementsprechend einen Verlust der äthiopischen Staatsangehörigkeit an. zu diesem Personenkreis gehörten insbesondere alle diejenigen, die in den Jahren von 1998 bis 2002 nach Eritrea deportiert oder unter im Wege einer sog. „freiwilligen Repatriierung“ dorthin übergesiedelt waren. In Bezug auf die Deportierten hielt die äthiopische Regierung auch 2004 noch ihren politischen Standpunkt aufrecht, sie seien eine Bedrohung für die nationale Sicherheit des Landes.
[128]Schröder, Stellungnahme vom 20. August 2019, a. a. O., S. 21 (Rn. 88), S. 26 (Rn. 107 ff.), S. 33 (Rn. 143 f.).
[129]In den häufigen Fällen, in denen die Deportation nur einen Teil einer Familie betroffen hatte, meistens den in erster Linie als „Sicherheitsrisiko“ betrachteten Ehemann und Vater, während die Ehefrau mit den minderjährigen Kindern in Äthiopien zurückgeblieben war, wirkte sich der dadurch eingetretene Verlust der äthiopischen Staatsangehörigkeit auch aus der nachträglichen Sicht der äthiopischen Behörden in den Jahren seit 2004 nur auf den oder die nach Eritrea deportierten, nicht aber auch auf die in Äthiopien verbliebenen Familienangehörigen aus (Art. 21 äthStAG). Meist waren aber während des Grenzkrieges und in den Jahren danach bis März 2002 auch die zunächst verschonten Familienmitglieder nachträglich aufgegriffen und ebenfalls nach Eritrea deportiert worden. In diesem Fall hatten auch die nachträglich deportierten Familienmitglieder ihre äthiopische Staatsangehörigkeit aus der nachträglichen Sicht der äthiopischen Behörden verloren.
[130]Schröder, Stellungnahme vom 20. August 2019, a. a. O., S. 12 (Rn. 45).
[131]Zum genannten Personenkreis der aus äthiopischer Sicht ausschließlich eritreischen Staatsangehörigen gehören auch diejenigen Personen eritreischer Abstammung, die nach der Unabhängigkeit des Staates Eritrea am 24. Mai 1993 auf dessen Staatsgebiet geboren sind. Diese Personen konnten mit ihrer Geburt die äthiopische Staatsangehörigkeit schon nicht mehr durch einen Abstammungserwerb nach Art. 1 äthStAG 1930 oder Art. 3 Abs. 1 äthStAG erwerben, weil ihre Eltern eine zuvor etwa bestehende äthiopische Staatsangehörigkeit durch ihren Aufenthalt in Eritrea und ein damit verbundenes aktives Ausüben der eritreischen Staatsangehörigkeit verloren hatten. Erst recht gilt dies für nach dem 24. Mai 1993 in Eritrea geborene Kinder eines Elternteils, den der Staat Eritrea etwa für den Militärdienst zwangsrekrutiert hat.
[132]AA, Stellungnahme an das VG Potsdam vom 19. September 2018, S. 2 f.
[133]Eine Fortsetzung der früheren staatsangehörigkeitsrechtlichen Einordnung in Eritrea lebender vormals äthiopischer Staatsangehöriger kommt in der äthiopischen Anwendungspraxis nur ausnahmsweise für solche Personen in Betracht, die äthiopischer Abstammung sind, von den eritreischen Behörden als ausschließlich äthiopische Staatsangehörige angesehen werden und die dementsprechend im Status von äthiopischen Ausländern in Eritrea leben.
[134]Dazu VG Düsseldorf, Urteil vom 21. März 2019
[135]Deren Anzahl ist seit der Unabhängigkeit Eritreas immer geringer geworden. Im Verlauf des Grenzkrieges zwischen Mai 1998 bis zum Inkrafttreten des Waffenstillstands am 18. Juni 2000 ließ die eritreische Regierung die im Land lebenden Äthiopier internieren und ausweisen, teils aus Gründen der nationalen Sicherheit, teils als Vergeltungsmaßnahme für die Deportation von Eritreern aus Äthiopien. In der Zeit nach dem Grenzkrieg bis Ende 2009 organisierte das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (ICRC) vereinzelt Rückführungen äthiopischer und eritreischer Staatsangehöriger zur Familienzusammenführung. Seitdem waren diese Rückführungen ausgesetzt, da sowohl Äthiopien als auch Eritrea ihre Mitwirkung verweigerten. Die in Eritrea verbliebenen Äthiopier werden zwar nicht aktiv verfolgt, müssen aber bisweilen mit Diskriminierung und Schwierigkeiten im Alltag rechnen (z. B. bei der Erteilung von Arbeitserlaubnissen oder der Zuteilung von subventionierten Lebensmitteln).
[136]AA, Lagebericht Eritrea vom 27. Januar 2020, S. 11 f.; Lagebericht Eritrea vom 25. Februar 2018, S. 10.
[137]In der Zeit der vorübergehenden Grenzöffnung in der Zeit zwischen dem 11. September 2018 und April 2019 hat sich die Anzahl der als äthiopische Ausländer in Eritrea lebenden Personen weiter reduziert, weil in dieser Zeit viele das Land ungehindert verlassen konnten. In dieser Zeit konnten lange getrennte Familien wieder zusammenfinden. Die vorübergehende Grenzöffnung hat zu einer verstärkten Migrationsbewegung von Eritrea nach Äthiopien geführt.
[138]AA, Lagebericht Eritrea vom 27. Januar 2020, S. 8, 11 f.; Schweizerisches Staatssekretariat für Migration, a. a. O., S. 13 ff.
[139]dd) Äthiopische Staatsangehörige eritreischer Abstammung, die am 19. Januar 2004 bereits in Drittländer übergesiedelt waren (wie die Kläger zu 1. und 2., die nach ihren Angaben zu diesem Zeitpunkt bereits von Addis Abeba in den Sudan geflüchtet waren), haben in der Anwendungspraxis der äthiopischen Behörden ihre äthiopische Staatsangehörigkeit ebenfalls beibehalten, wenn sie zu keinem Zeitpunkt seit dem Erlass der „Eritrean Nationality Proclamation No. 21/1992“ vom 6. April 1992 mit der Ausübung von Rechten aus der ihnen zuerkannten vorläufigen oder endgültigen eritreischen Staatsangehörigkeit begonnen haben. Auch auf diese Personen findet die Direktive aus den oben zu bb) genannten Gründen keine Anwendung und scheidet eine solche auch in der Praxis aus den oben zu cc) genannten Gründen aus.
[140]Schröder, Stellungnahme vom 20. August 2019, a. a. O., S. 26 (Rn. 107: „Those Eritreans coming from any country to Ethiopia either couldn't benefit from the directive …“); BFM, Focus Äthiopien/Eritrea vom 19. Februar 2010, S. 7, 12.
[141]Auch Personen eritreischer Abstammung, welche sich bereits vor der Unabhängigkeit Eritreas im Ausland aufgehalten haben, werden von den äthiopischen Behörden weiterhin als äthiopische Staatsangehörige angesehen, sofern sie keine Rechte aus der ihnen zuerkannten eritreischen Staatsangehörigkeit aktiv ausgeübt haben.
[142]D-A-CH Fact Finding Mission Äthiopien/Somaliland, Bericht von Mai 2010, S. 51.
[143]In Drittländer übergesiedelte äthiopische Staatsangehörige eritreischer Abstammung werden in der Praxis der äthiopischen Auslandsvertretungen auch nach 2004 weiterhin als äthiopische Staatsangehörige angesehen und behandelt, wenn sie keine andere Staatsangehörigkeit angenommen haben und ihre Identität und ihre Abstammung von Eltern äthiopischer Staatsangehörigkeit durch entsprechende Dokumente nachweisen. Personen eritreischer Abstammung, denen die äthiopische Staatsangehörigkeit während der Kriegsjahre nicht entzogen wurde, haben heute keinen Verlust ihrer Staatsangehörigkeit mehr zu befürchten. Seit spätestens Ende 2006 hatte die damalige äthiopische Regierung einen Politikwandel hin zu einer wohlwollenden Haltung auch gegenüber den äthiopischen Staatsangehörigen eritreischer Abstammung vollzogen, den sie im eigenen Land propagandistisch gegen die eritreische Regierung auswerten konnte. Dadurch hat sich auch die Bereitschaft der äthiopischen Auslandsvertretungen in Europa, Personen eritreischer Abstammung als äthiopische Staatsangehörige anzuerkennen und ihnen Reisedokumente auszustellen, zum Besseren gewendet.
[144]AA, Lagebericht vom 18. Dezember 2012, S. 26; Auskunft vom 4. Dezember 2006 an das VG Magdeburg, S. 1; BFM, Focus Äthiopien/Eritrea vom 19. Februar 2010, S. 11; GIGA Institut für Afrika-Studien, Auskunft an VG Sigmaringen vom 13. August 2009, S. 2 f.
[145]Dieser Feststellung steht die zum Teil auch deutlich nach 2006 noch anzutreffende Würdigung nicht entgegen, äthiopische Staatsangehörige eritreischer oder halberitreischer Abstammung seien mit administrativen Hindernissen konfrontiert, um ihre Staatsangehörigkeit anerkannt zu erhalten.
[146]Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), „Äthiopien: Gemischt eritreisch-äthiopische Herkunft“, Auskunft vom 29. Januar 2013, S. 3; UNHCR, Eligibility Guidelines for Assessing the International Protection Needs of Asylum-Seekers from Eritrea, 20. April 2011, S. 8 („administrative obstacles“); Schröder, Stellungnahme vom 2. August 2011, S. 36 f.; vgl. auch VG Düsseldorf, Urteil vom 9. November 2017, a. a. O., Rn. 91; zur Praxis während des Grenzkrieges und in den Jahren danach Hess. VGH, Urteil vom 19. Februar 2003
[147]Denn diese Auskünfte schreiben lediglich Erkenntnisse aus der Zeit vor Ende 2006 fort, in der die äthiopischen Vertretungen im Ausland während des genannten Grenzkrieges und in den Jahren danach konsularische Dienste auch gegenüber solchen Personen verweigert haben, welche zu keinem Zeitpunkt in irgendeiner Weise die eritreische Staatsangehörigkeit angenommen und ausgeübt hatten.
[148]UNHCR, a. a. O., S. 8 mit dem Verweis in Fn. 39 auf Louise Thomas, Refugees and Asylum Seekers from mixed Eritrean-Ethiopian Families in Cairo, Juni 2006, http://schools.aucegypt.edu/GAPP/cmrs/reports/Documents/Mixedfamilies.pdf (zuletzt abgerufen am 26. Juni 2020).
[149]Mit der nach Erkenntnissen sowohl des Auswärtigen Amtes als auch anderer europäischer Behörden jedenfalls bei den äthiopischen Auslandsvertretungen in Europa seit etwa dieser Zeit festzustellenden deutlich erhöhten Bereitschaft zur Ausstellung von Reisepapieren an eritreisch-stämmige Staatsbürger setzen sich diese Auskünfte nicht auseinander. Abgesehen davon entsprechen diese Auskünfte spätestens seit der Einleitung des Versöhnungsprozesses zwischen Äthiopien und Eritrea im Sommer 2018 nicht mehr der aktuellen Erkenntnislage.
[150]Ebenso Bay. VGH, Beschluss vom 4. Juli 2019
[151]Von den äthiopischen Behörden weiterhin als äthiopische Staatsangehörige angesehen werden danach insbesondere auch die in die nördlich angrenzende Republik Sudan geflohenen vormals äthiopischen Staatsangehörigen eritreischer Abstammung, wenn sie zu der großen Zahl der ohne Registrierung in den Städten lebenden Flüchtlingen gehören, denen der UNHCR und die Sudanesische Commission of Refugees (COR) auch keine Identitätsdokumente für ausländische Flüchtlinge ausgestellt haben. Dasselbe liegt nahe, wenn die genannten Organisationen sie als Flüchtlinge aus Äthiopien registriert und ihnen ein solches Dokument mit äthiopischem Nationalitäteneintrag ausgestellt haben. Haben die genannten Organisationen den Betreffenden hingegen als Flüchtling aus Eritrea registriert und ihm eine Identitätskarte für Flüchtlinge mit eritreischem Nationalitäteneintrag ausgestellt, kommt je nach den Umständen des Einzelfalls in Betracht, dass die äthiopischen Behörden in dieser Registrierung ein aktives Ausüben der eritreischen Staatsangehörigkeit sehen, welche zum Verlust der äthiopischen Staatsangehörigkeit geführt hat. Denn der Nationalitäteneintrag dokumentiert bei der großen Zahl von Flüchtlingen, die ohne Papiere in einem Flüchtlingscamp im Sudan eintreffen, den Abreiseort, der sich aus den Umständen der Ankunft ergibt, und aus dem sich die Staatsangehörigkeit des Betroffenen allenfalls vermutungsweise rückschließen lässt.
[152]UNHCR, Auskunft vom 18. Januar 2017 an VG Schwerin, S. 2 f.; VG Düsseldorf, Urteil vom 30. August 2017
[153]Dokumentiert der Nationalitäteneintrag einen Abreiseort in Eritrea, kann es aus der Sicht der äthiopischen Behörden für die Frage eines aktiven Ausübens der eritreischen Staatsangehörigkeit darauf ankommen, ob dieser Ort nur Durchreisestation oder Ort eines längeren Aufenthalts war. Im letztgenannten Fall kommt in Betracht, dass die äthiopischen Behörden in der Registrierung ein aktives Ausüben der eritreischen Staatsangehörigkeit sehen, der zum Verlust der äthiopischen Staatsangehörigkeit geführt hat.
[154]Schröder, Stellungnahme vom 3. April 2019, a. a. O., S. 34 (Rn. 153 f.).
[155]ee) Mit den vorstehend zu aa) bis dd) getroffenen tatsächlichen Feststellungen unvereinbar ist die abweichende Auffassung erstinstanzlicher Verwaltungsgerichte, die Staatsangehörigkeit der äthiopischen Staatsangehörigen eritreischer Abstammung sei durch eine aktive Ausübung der eritreischen Staatsangehörigkeit in der Zeit zwischen Mai 1998 und dem 23. Dezember 2003 schon deshalb unberührt geblieben, weil die Verlusttatbestände in den Art. 19 ff. äthStAG nur auf solche Tatsachen und Vorgänge gestützt werden könnten, die nach dem 23. Dezember 2003 eingetreten seien. Das folge schon daraus, dass sich das äthStAG keine Rückwirkung beimesse und ohne Übergangsregelung gelte. „Die vorbezeichnete Auslegung“ erschließe sich ferner auch deshalb, da Art. 26 äthStAG bestimme, dass derjenige, der bis zum Inkrafttreten des äthStAG gemäß dem äthStAG 1930 die äthiopische Staatsangehörigkeit innegehabt habe, auch weiterhin äthiopischer Staatsangehöriger bleibe.
[156]VG Arnsberg, Urteil vom 24. Oktober 2014, a. a. O., Rn. 98 ff; vgl. auch das bei Sächs. OVG, a. a. O., Rn. 15, wiedergegebene Urteil des VG Chemnitz vom 23. März 2018
[157]Auch diese Auffassung beruht auf der oben schon mehrfach angesprochenen methodisch unzutreffenden Prämisse, als deutsches Verwaltungsgericht zu einer eigenen Auslegung der Art. 19 ff. äthStAG unter Heranziehung von im deutschen Recht gebräuchlichen Auslegungsmethoden berechtigt zu sein. Sie lässt zudem die Direktive vom 19. Januar 2004 sowie die oben getroffenen Feststellungen zur Handhabung des Verlusttatbestandes in Art. 20 Abs. 3 äthStAG in der Praxis unberücksichtigt. Diese Anwendungspraxis war, wie ausgeführt, gerade auf eine rückwirkende staatsangehörigkeitsrechtliche Bewertung des Verhaltens des jeweils betroffenen Personenkreises in Bezug auf die eritreische Staatsangehörigkeit in der Zeit zwischen dem Erlass der „Eritrean Nationality Proclamation No. 21/1992“ vom 6. April 1992 und dem 19. Januar 2004 gerichtet. Ebenso wie die oben zu aa) angesprochene abweichende Rechtsprechung ist auch diese abweichende Auffassung nicht nur methodisch, sondern auch im Ergebnis zu beanstanden. Denn sie stuft die betroffenen Personen aus Rechtsgründen als äthiopische Staatsangehörige ein, obwohl die maßgebliche Anwendungspraxis der äthiopischen Behörden sie als ausschließlich eritreische Staatsangehörige behandelt, die durch die aktive Ausübung der eritreischen Staatsangehörigkeit ihre äthiopische Staatsangehörigkeit verloren haben.
[158]ff) Am Maßstab der oben zu dd) getroffenen generalisierenden Tatsachenfeststellungen haben die Kläger zu 1. und 2. ihre durch Geburt erworbene äthiopische Staatsangehörigkeit weder durch ihre Ausreise in den Sudan in den Jahren 1998 und 2001 noch in den Jahren danach verloren. Insoweit folgt der Senat im Ergebnis der Feststellung des Verwaltungsgerichts im angefochtenen Urteil betreffend diese beiden Kläger (juris, Rn. 69), sie hätten sich weder aktiv für den Erwerb der eritreischen Staatsangehörigkeit eingesetzt, noch hätten sie in der Folgezeit Rechte aus dieser Staatsangehörigkeit ausgeübt. Da sie das Gebiet des späteren unabhängigen Staates Eritrea nach ihren Angaben schon 1988 (Klägerin zu 2.) und 1992 (Kläger zu 1.), also vor der Unabhängigkeit am 24. Mai 1993 verlassen hatten, gab es bei ihnen insbesondere keinen vorangegangenen Aufenthalt im neu entstandenen unabhängigen Staat Eritrea, den die äthiopischen Behörden auf der Grundlage des Art. 20 Abs. 3 Buchstabe a) äthStAG als eine zum Verlust ihrer äthiopischen Staatsangehörigkeit führende aktive Ausübung von Rechten aus der eritreischen Staatsangehörigkeit hätten werten können.
[159]3. Besitzen die Kläger zu 1. und 2. hiernach die äthiopische Staatsangehörigkeit, ist für alle Streitgegenstände des vorliegenden Rechtsstreits unerheblich, ob ihre Behauptung zutrifft, daneben auch die eritreische Staatsangehörigkeit zu besitzen.
[160]Das gilt zunächst für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG. Personen, die zwei oder mehr Staatsangehörigkeiten besitzen, kann die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt werden, wenn sie den Schutz eines der Länder ihrer Staatsangehörigkeit in Anspruch nehmen können. Das ergibt sich aus dem Grundsatz der Subsidiarität des internationalen Flüchtlingsschutzes, der den einschlägigen Normen sowohl der RL 2011/95/EU als auch des AsylG zugrunde liegt.
[161]BVerwG, Beschlüsse vom 18. Dezember 2019, a. a. O., Rn. 13, und vom 14. Juni 2005
[162]Dasselbe gilt auch für die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG.
[163]Sächs. OVG, a. a. O., Rn. 18.
[164]Für das Begehren der Kläger zu 1. und 2. auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5, 7 Satz 1 und 3 AufenthG hinsichtlich des Staates Eritrea besteht aus den eingangs schon näher ausgeführten Gründen kein Rechtsschutzbedürfnis.
[165]4. Auch der am XX. Dezember 2016 in N1. geborene Kläger zu 3. hat durch seine Geburt von äthiopischen Eltern die äthiopische Staatsangehörigkeit erworben. Rechtsgrundlage dieses Erwerbs war Art. 3 Abs. 1 äthStAG, wonach äthiopischer Staatsangehöriger durch Abstammung ist, wessen beide Eltern oder wessen ein Elternteil äthiopischer Staatsangehöriger ist. Diese Voraussetzungen lagen nach dem oben Ausgeführten im Zeitpunkt seiner Geburt vor. Die Ausführungen zu oben 3. zur Subsidiarität des Flüchtlingsschutzes und zum Fehlen eines Rechtsschutzbedürfnisses für die Feststellung nationaler Abschiebungsverbote in Bezug auf Eritrea gelten unter diesen Umständen auch für den Kläger zu 3.
[166]II. ...
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