Hat sich der Beklagte auf das Verfahren nicht eingelassen und ist ihm das verfahrenseinleitende Schriftstück nicht zugestellt worden, darf eine Entscheidung nur dann für vollstreckbar erklärt werden, wenn das Gericht feststellt, dass der Beklagte die Möglichkeit hatte, im Urteilsstaat einen Rechtsbehelf gegen die Entscheidung einzulegen.
Ob der Beklagte die Möglichkeit hatte, gegen eine ergangene Entscheidung einen Rechtsbehelf einzulegen, richtet sich nach dem Recht des Urteilsstaats. Maßgeblich ist, ob die Gerichte des Urteilsstaats einen vom Beklagten eingelegten Rechtsbehelf nach Maßgabe des von ihnen zu beachtenden Rechts entsprechend der tatsächlichen Auslegung und Anwendung dieses Rechts als zulässig behandelt hätten und dieser eine vollständige Überprüfung der Entscheidung in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht ermöglicht hätte.
[Der vorgehende Beschluss des OLG Hamm vom 13.6.2017 – I-25 W 88/15 – wurde bereits im Band IPRspr. 2017 unter der Nr. 282 abgedruckt.]
Die ASt. begehrt die Vollstreckbarerklärung eines poln. Zahlungsbefehls. Sie macht Provisionsforderungen gegen den in Deutschland wohnhaften AGg. geltend. Zunächst erhob die ASt. Klage beim Amtsgericht in J. G./Polen über einen Teilbetrag. Hierbei gab die ASt. als ladungsfähige Anschrift die Adresse des AGg. in Deutschland an. Der AGg. bestellte in diesem Verfahren einen Zustellungsbevollmächtigten in Polen. In einem weiteren Verfahren zur anderen Hälfte der von ihr verlangten Provisionsforderun ggab die ASt. als ladungsfähige Anschrift des AGg. die poln. Adresse des vom AGg. im ersten Verfahren benannten Zustellungsbevollmächtigten an.
Am 4.4.2013 erließ das Amtsgericht J. G. im zweiten Verfahren einen Zahlungsbefehl, mit dem der AGg. verpflichtet wurde, an die ASt. den geforderten Betrag nebst Zinsen seit dem 22.12.2012 sowie bestimmte Kosten des Prozesses zu bezahlen. Der AGg. hat sich im zweiten Verfahren nicht eingelassen.
Die ASt. hat die Vollstreckbarerklärung des poln. Zahlungsbefehls vom 4.4.2013 in Deutschland nach der EuGVO a.F. beantragt und hierzu beglaubigte und übersetzte Abschriften des Zahlungsbefehls sowie eine entspr. Bescheinigung vorgelegt. Der Vorsitzende einer ZK des LG hat dem Antrag stattgegeben. Die hiergegen gerichtete Beschwerde des AGg. hat das OLG mit Maßgaben zur Höhe der Zinsen zurückgewiesen. Mit seiner Rechtsbeschwerde wendet sich der AGg. weiter gegen die Vollstreckbarerklärung.
II. [4] Die Rechtsbeschwerde ist gemäß Art. 44 EuGVO a.F., § 15 I AVAG, § 574 I 1 Nr. 1 ZPO statthaft und zulässig (§ 574 II ZPO). Sie führt zur Aufhebung der angegriffenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das BeschwG ...
[7] 2. ... [8] a) Auf das Verfahren ist die EuGVO a.F. anzuwenden, weil das Verfahren vor dem 10.1.2015 eingeleitet worden ist (Art. 66 EuGVO). Gemäß Art. 45 I EuGVO a.F. i.V.m. Art. 34 Nr. 2 EuGVO a.F. ist eine Entscheidung nicht anzuerkennen und demgemäß die Vollstreckbarerklärung zu versagen, wenn dem Beklagten, der sich auf das Verfahren nicht eingelassen hat, das verfahrenseinleitende Schriftstück oder ein gleichwertiges Schriftstück nicht so rechtzeitig und in einer Weise zugestellt worden ist, dass er sich verteidigen konnte, es sei denn, der Beklagte hat gegen die Entscheidung keinen Rechtsbehelf eingelegt, obwohl er die Möglichkeit dazu hatte.
[9] b) Der AGg. hat sich auf das Verfahren vor dem polnischen Gericht nicht eingelassen. Das BeschwG hat weiter festgestellt, dass dem AGg. die das Verfahren einleitende Klageschrift nicht zugestellt worden ist. Maßgeblich sind die Zustellungsregeln, die der Urteilsstaat im Verhältnis zum Wohnsitzstaat des Schuldners zu beachten hat (BGH, Beschl. vom 21.9.2017 – IX ZB 83/16 (IPRspr 2017-272b), WM 2017, 2031 Rz. 17 m.w.N.). Dies richtet sich gegenüber den Mitgliedstaaten der EU nach den Bestimmungen der EuZVO, sofern der Empfänger eines gerichtlichen Schriftstücks im Ausland ansässig ist (EuGH, Urt. vom 19.12.2012 – Krystyna Alder u. Ewald Alder ./. Sabina Orlowska u. Czeslaw Orlowski, Rs C-325/11, IPRax 2013, 157 Rz. 25). Die Zustellung an einen Dritten genügt den Anforderungen der Art. 4 ff., 12 ff. EuZVO auch dann nicht, wenn der Beklagte diesen Dritten in einem früheren Verfahren zwischen den Parteien zu seinem Zustellungsbevollmächtigten bestellt hatte. Das BeschwG hat auch nicht feststellen können, dass der AGg. die Schriftstücke tatsächlich erhalten hat.
[10] c) Hingegen hält die Annahme des BeschwG, der AGg. habe die Möglichkeit gehabt, einen Rechtsbehelf gegen die polnische Entscheidung einzulegen, rechtlicher Überprüfung nicht stand. Das BeschwG ist insoweit von falschen Voraussetzungen ausgegangen und hat – wie die Beschwerde mit Recht rügt – die rechtlichen Anforderungen für die Feststellung des anzuwendenden polnischen Rechts verkannt.
[11] aa) Ob es dem Beklagten möglich ist, gegen die ergangene Entscheidung einen Rechtsbehelf einzulegen, richtet sich nach dem Recht des Urteilsstaats. Im Streitfall ist daher entscheidend, zu welchem Zeitpunkt der AGg. nach dem maßgeblichen polnischen Recht noch gegen den Zahlungsbefehl einen Rechtsbehelf in Polen einlegen konnte. Das BeschwG hat sich keine ausreichenden Informationen über das polnische Recht verschafft, um dieses Recht auslegen und anwenden zu können.
[12] Das BeschwG hat das ausländische Recht von Amts wegen zu ermitteln (§ 293 ZPO). Dabei hat der deutsche Richter das ausländische Recht so anzuwenden, wie es der Richter des betreffenden Lands auslegt und anwendet (BGH, Urt. vom 14.1.2014 – II ZR 192/13 (IPRspr 2014-276), NJW 2014, 1244 Rz. 15; vom 7.6.2016 – KZR 6/15 (IPRspr 2016-311), BGHZ 210, 292 Rz. 70; Beschl. vom 13.9.2016 – VI ZB 21/15 (IPRspr 2016-281), BGHZ 212, 1 Rz. 55 m.w.N.). Wie der Tatrichter sich diese Kenntnis verschafft, liegt in seinem pflichtgemäßen Ermessen. Jedoch darf sich die Ermittlung des fremden Rechts nicht auf die Heranziehung der Rechtsquellen beschränken, sondern muss auch die konkrete Ausgestaltung des Rechts in der ausländischen Rechtspraxis, insbes. die ausländische Rspr., berücksichtigen. Der Tatrichter ist gehalten, das Recht als Ganzes zu ermitteln, wie es sich in Lehre und Rspr. entwickelt hat. Er muss dabei die ihm zugänglichen Erkenntnisquellen ausschöpfen (BGH, Urt. vom 14.1.2014 aaO m.w.N.). Vom Rechtsbeschwerdegericht wird insoweit lediglich überprüft, ob der Tatrichter sein Ermessen rechtsfehlerfrei ausgeübt, insbes. sich anbietende Erkenntnisquellen unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls hinreichend ausgeschöpft hat (vgl. BGH, Urt. vom 14.1.2014 aaO m.w.N.).
[13] bb) Diesen Maßstäben hält die angefochtene Entscheidung nicht stand.
[14] (1) Dem angegriffenen Beschluss lässt sich schon nicht entnehmen, ob und auf welche Weise das BeschwG seiner Pflicht nachgekommen ist, den Inhalt des polnischen Rechts zu ermitteln. Im Gegenteil hat das BeschwG im Hinweisbeschluss vom 28.6.2016 darauf hingewiesen, dass es derzeit über keine hinreichenden Kenntnisse zum polnischen Recht verfüge. Soweit das BeschwG im angefochtenen Beschluss davon ausgeht, dass gegen den polnischen Zahlungsbefehl ein Einspruch gegeben sei, die zweiwöchige Einspruchsfrist gemäß Art. 502 des poln. Zivilverfahrensgesetzbuchs vom 17.11. 1964 (Dz.U. Nr. 43, Pos. 296; fortan: ZVGB) mangels Zustellung nicht zu laufen begonnen habe und der AGg. noch Einspruch habe einlegen können, hat es sich dabei ausschließlich auf den von der ASt. mit einer Übersetzung vorgelegten Text vereinzelter Bestimmungen des ZVGB gestützt. Seine weitere Annahme, dass nur eine Auslandszustellung nach der EuZVO die Frist habe in Lauf setzen können, enthebt das BeschwG nicht seiner Pflicht, den Inhalt des polnischen Rechts zu ermitteln.
[15] (2) Das BeschwG wählt im Hinblick auf die für Art. 34 Nr. 2 EuGVO a.F. maßgebliche Frage, ob der Beklagte die Möglichkeit hatte, einen Rechtsbehelf gegen die Entscheidung einzulegen, den falschen Ausgangspunkt. Art. 34 Nr. 2 EuGVO a.F. erfordert die tatsächliche Wahrung der Verteidigungsrechte (EuGH, Urt. vom 14.12.2006 – ASML Netherlands BV ./. Semiconductor Industry Services GmbH (SEMIS), Rs C-283/05, IPRax 2008, 519 Rz. 20; vom 7.7.2016 – Emmanuel Lebek ./. Janusz Domino, Rs C-70/15, RIW 2016, 593 Rz. 38). Nach st. Rspr. des EuGH darf das Ziel, die Anerkennung und Vollstreckbarerklärung einer Entscheidung zu erleichtern, nicht dadurch erreicht werden, dass der Anspruch auf rechtliches Gehör in irgendeiner Weise beeinträchtigt wird (EuGH, Urt. vom 11.6.1985 – Leon Emile Gaston Carlos Debaecker u. Berthe Plouvier ./. Cornelis Gerrit Bouwman, Rs C-49/84, RIW 1985, 967 Rz. 10; vom 3.7.1990 – Isabelle Lancray S.A. ./. Peters und Sickert KG, Rs C-305/88, IPRax 1991, 177, 178; vom 28.3.2000 – Dieter Krombach ./. André Bamberski, Rs C-7/98, IPRax 2000, 406 Rz. 43; vom 6.9.2012 – Trade Agency Ltd. ./. Seramico Investments Ltd., Rs C-619/10, IPRax 2013, 427 Rz. 41 f.; vom 7.7.2016 aaO Rz. 34; vgl. auch EuGH, Urt. vom 19.12.2012 aaO Rz. 35).
[16] Soweit dem Beklagten, der sich auf das Verfahren nicht eingelassen hat, das verfahrenseinleitende Schriftstück – wie im Streitfall – nicht zugestellt worden ist, kommt eine Anerkennung der Entscheidung nur in Betracht, wenn ihm noch im Urteilsstaat ein effektiver Weg tatsächlich zur Verfügung stand, seine Rechte geltend zu machen. Dies bedingt, dass die Rechtsbehelfe eine vollständige Überprüfung der Entscheidung in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht ermöglichen müssen (vgl. EuGH, Urt. vom 17.12.2015 – Imtech Marine Belgium N.V. ./. Radio Hellenic S.A., Rs C-300/14, IPRax 2016, 598 Rz. 38 zu Art. 19 EuVTVO). Es kommt darauf an, ob der Beklagte seine Rechte wirksam vor dem Gericht des Ursprungsstaats hätte geltend machen können (EuGH, Urt. vom 14.12.2006 aaO Rz. 48). Ausschlaggebend ist dabei, ob diese Möglichkeit tatsächlich bestand (vgl. EuGH, Urt. vom 7.7.2016 aaO Rz. 47 f.). Dies hat das BeschwG im Rahmen der Vollstreckbarkeitserklärung festzustellen.
[17] Maßgeblich ist allein, ob der AGg. nach dem Inhalt des polnischen Rechts, so wie es der polnische Richter auch im Hinblick auf die unmittelbar geltenden Vorschriften des europäischen Rechts auslegt und anwendet, tatsächlich in der Lage gewesen ist, gegen den Zahlungsbefehl noch einen zulässigen Einspruch oder einen anderen zulässigen Rechtsbehelf einzulegen, und dieser Rechtsbehelf eine vollständige Überprüfung der Entscheidung in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht ermöglicht hätte. Mithin hat das BeschwG festzustellen, wie ein polnisches Gericht über einen vom AGg. gegen den Zahlungsbefehl erhobenen Einspruch nach Maßgabe des vom polnischen Gericht zu beachtenden Rechts entspr. der tatsächlichen Auslegung und Anwendung dieses Rechts durch die polnischen Gerichte entschieden hätte. Solche Feststellungen fehlen. Tatsächlich hat das BeschwG nicht den Inhalt des polnischen Rechts in seiner tatsächlichen Auslegung und Anwendung ermittelt, sondern hat die in Polen unter der Adresse des früheren Zustellungsbevollmächtigten des AGg. erfolgte Zustellung aufgrund einer eigenen Auslegung aus europarechtlichen Gründen für unwirksam gehalten und daraus den Schluss gezogen, dass deshalb auch für einen polnischen Richter die Einspruchsfrist nicht zu laufen begonnen habe. Dies führt dazu, dass die tatsächliche Möglichkeit eines Rechtsbehelfs sich nicht nach dem Maßstab der tatsächlichen Auslegung und Anwendung des Rechts durch die polnischen Gerichte richtet, sondern nach Maßstäben, die das BeschwG für richtig hält. Dies ist für die Beurteilung, ob dem AGg. ein Rechtsbehelf in Polen noch möglich gewesen ist, unergiebig.
[18] Soweit das BeschwG davon ausgeht, dass die Zustellung nach polnischem Recht keine Wirkungen entfalte, hat es den Inhalt des polnischen Rechts nicht aufgeklärt. Offen ist insbesondere, wie die polnischen Gerichte über die Wirksamkeit der Zustellung entscheiden und ob für den Einspruch nach polnischem Recht eine Höchstfrist besteht oder ein eingelegter Rechtsbehelf aus anderen Gründen nicht mehr zulässig ist. So erklärt das BeschwG nicht, warum die von der ASt. vorgelegte Bescheinigung des polnischen Amtsgerichts J. G. vom 2.11.2015, wonach der Zahlungsbefehl dem AGg. wirksam zugestellt worden sein soll, nach polnischem Recht ohne Bedeutung ist. Das BeschwG geht auch nicht – wie die Rechtsbeschwerde rügt – auf die Feststellung im Beschluss des Amtsgerichts J. G. vom 9.7.2013 ein, wonach der Zahlungsbefehl rechtskräftig sei, obwohl das BeschwG diesen Beschluss im anderen Zusammenhang – nämlich hins. der Vollstreckbarkeit des Zahlungsbefehls – als zutreffende Darstellung des polnischen Rechts behandelt.
[19] (3) Darüber hinaus lässt die Verfahrensweise des BeschwG – wie die Rechtsbeschwerde zu Recht rügt – befürchten, dass das BeschwG bei der Ermittlung des ausländischen Rechts gemäß § 293 ZPO eine Darlegungslast der Parteien annimmt. Die Ermittlung hat jedoch von Amts wegen zu erfolgen (BGH, Urt. vom 15.7.2008 – VI ZR 105/07 (IPRspr 2008-44), BGHZ 177, 237 Rz. 7 m.w.N.; Beschl. vom 30.4.2013 – VII ZB 22/12 (IPRspr. 2013 Nr. 286), WM 2013, 1225 Rz. 39). Dies gilt auch für die Frage, ob der AGg., nachdem ihm der Zahlungsbefehl im Rahmen des Verfahrens über die Vollstreckbarerklärung zugestellt wurde, nach den einschlägigen Vorschriften des polnischen Verfahrensrechts (noch) die rechtliche Möglichkeit hatte, einen statthaften Rechtsbehelf gegen den Zahlungsbefehl des Amtsgericht J. G. einzulegen. Dies ist nicht nach den Grundsätzen der Darlegungs- und Beweislast zu beurteilen, weil ausländische Rechtsnormen Rechtssätze und keine Tatsachen sind. Sie sind deshalb nach st. Rspr. von Amts wegen zu ermitteln (vgl. BGH, Beschl. vom 12.12.2007 – XII ZB 240/05 (IPRspr 2007-204), EuZW 2008, 251 Rz. 37). Eine prozessuale Beweisführungslast einer Partei für den Inhalt des ausländischen Rechts besteht im Rahmen des § 293 ZPO nicht. Nur der Umfang der Ermittlungspflicht kann durch den Vortrag der Parteien beeinflusst werden (BGH, Urt. vom 25.1.2005 – XI ZR 78/04 (IPRspr 2005-12), ZIP 2005, 478, 480 unter II.1.b m.w.N.).