PDF-Version

Verfahrensgang

OLG Karlsruhe, Beschl. vom 05.06.2015 – 18 UF 265/14, IPRspr 2015-243

Rechtsgebiete

Zuständigkeit → Zuständigkeit in Ehe- und Kindschaftssachen

Leitsatz

Im Rahmen des Art. 5 I und II KSÜ wird der gewöhnliche Aufenthalt eines Kindes nicht von dem seiner Eltern abgeleitet, sondern ist eigenständig zu bestimmen (im Anschluss an EuGH – C-497/10 PPU). [LS der Redaktion]

Rechtsnormen

EuEheVO 2201/2003 Art. 2; EuEheVO 2201/2003 Art. 8; EuEheVO 2201/2003 Art. 61
FamFG §§ 58 ff.; FamFG § 97
KSÜ Art. 5

Sachverhalt

Der ASt. wendet sich mit der Beschwerde gegen die Zurückweisung seines Antrags auf Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts für die jetzt viereinhalb Jahre alte Tochter. Die AGg. und der ASt. sind die Eltern des Kindes, für das ihnen gemäß Sorgeerklärung die gemeinsame Sorge zusteht. Sie sind jeweils 22 Jahre alt und kennen sich noch aus der Schule. Anfang des Jahres 2010 sind sie eine Beziehung eingegangen; Anfang 2011 wurde ihr Kind geboren. Die AGg. wohnte mit diesem nach der Geburt zunächst bei ihren Eltern. Seit Mai 2011 hatten der ASt. und die AGg. eine später gemeinsam bewohnte Wohnung in Konstanz. Im Januar oder Februar 2013 trennten sich die Eltern; im August 2013 trat die AGg. im Rahmen des Erasmusprogramms ein Auslandsstudienjahr in Dänemark an. Der ASt. stimmte dem Aufenthalt der Tochter in Kopenhagen/Dänemark – dem Studienort der Mutter – bis August 2014 zu. Die Mutter entschloss sich in der Folgezeit, den Aufenthalt in Dänemark für voraussichtlich drei weitere Jahre zu verlängern und teilte dies dem ASt. spätestens im Juni 2014 mit. Über Art und Umfang der Betreuung des Kindes durch die Eltern im Zeitraum von März bis Juli 2013 in Kopenhagen besteht Streit. Seit August 2013 hat der Vater das Kind teils in Kopenhagen, teils in Deutschland jeweils für einzelne Tage gesehen. Nach Einleitung des vorliegenden Verfahrens Mitte Juli 2014 hatte der ASt. lediglich stundenweise und jeweils in Anwesenheit der AGg. in Kopenhagen Umgang mit dem Kind. Die AGg. hatte im Mai/Juni 2014 bei den dänischen Behörden (Statsforvaltningen) ein Verfahren zur Klärung des Wohnsitzes der Tochter anhängig gemacht. Der ASt. machte in Kopenhagen das vorliegende Verfahren auf Übertragung des Rechts zur Aufenthaltsbestimmung für das Kind anhängig. Die daraufhin von der AGg. beim AG Konstanz eingereichte Klage mit dem Ziel, dass ihr die elterliche Sorge im Eilverfahren zugesprochen werde, wurde dem Gericht in Kopenhagen vorgelegt und dort mit Urteil abgewiesen. Mit Beschluss hat das AG die Anträge beider Seiten auf Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts und den Antrag auf Herausgabe des Kindes mangels Zuständigkeit und anderweitiger Rechtshängigkeit zurückgewiesen.

Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]II. Die zulässige, insbes. form- und fristgerecht (§§ 58 ff. FamFG) eingelegte Beschwerde ist in der Sache nicht begründet. Es fehlt an der internationalen Zuständigkeit der deutschen Gerichte zur Entscheidung über das Aufenthaltsbestimmungsrecht.

[2]1. Die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte bestimmt sich vorliegend gemäß § 97 I 1 FamFG nach dem KSÜ, das für Deutschland am 1.1.2011 (vgl. Palandt-Thorn, BGB, 74. Aufl. [2015], Art. 24 EGBGB Rz. 13 ff.) und für Dänemark am 1.10.2011 in Kraft getreten ist (BGBl 2012 II 102).

[3]Nach Art. 5  I und II KSÜ sind für die Entscheidung über das Aufenthaltsbestimmungsrecht die Behörden des Vertragsstaats zuständig, in dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Dies ist vorliegend Dänemark. Dort hat das Kind gegenwärtig, hatte aber auch schon zum Zeitpunkt der Antragstellung im vorliegenden Verfahren (17.7.2014) seinen gewöhnlichen Aufenthalt.

[4]Die EuEheVO (sog. Brüssel IIa-Verordnung) ist daher im vorliegenden Fall nicht einschlägig, weil das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht in einem Mitgliedstaat im Sinne von Art. 2 Nr. 3 der Verordnung hat. Nach Art. 61 EuEheVO kommt dem KSÜ deshalb der Vorrang zu (vgl. Teixeira De Sousa, FamRZ 2005, 1612 m.w.N.).

[5]2. Bei einem – wie hier – zum Zeitpunkt des Aufenthaltswechsels rund zweieinhalb Jahre alten Kind ist regelmäßig nach eine Aufenthaltsdauer von etwa sechs Monaten von einem gewöhnlichen Aufenthalt am neuen Wohnort auszugehen.

[6]a) Nach der Rspr. des EuGH setzt ein gewöhnlicher Aufenthalt voraus, dass der Aufenthalt Ausdruck einer gewissen sozialen und familiären Integration des Kindes ist und es sich nicht nur um eine vorübergehende oder gelegentliche Anwesenheit handelt. Zu berücksichtigen sind insbes. Dauer, Regelmäßigkeit und die Umstände des Aufenthalts sowie die Gründe für den Aufenthalt und den Umzug der Familie in den betreffenden Staat, die Staatsangehörigkeit des Kindes, Ort und Umstände seiner Einschulung, seine Sprachkenntnisse sowie die familiären und sozialen Bindungen des Kindes im betreffenden Staat (vgl. EuGH, Urt. vom 2.4.2009 – Korkein hallinto-oikeus / Finnland, Rs C-523/07, Slg. 2009 I-2805, FamRZ 2009, 483, Nr. 44 zu Art. 8  I EuEheVO; Johannsen-Henrich, Familienrecht, 6. Aufl. [2015], § 99 Rz. 10). Im Fall eines zum Zeitpunkt der Entscheidung etwa 16 Monate alten Kleinkinds hat der EuGH bekräftigt, dass ein gewöhnlicher Aufenthalt besteht, wo eine ‚gewisse Integration in ein soziales und familiäres Umfeld’ zu erkennen sei; dafür seien Dauer, Regelmäßigkeit, Umstände und Gründe für den Aufenthalt bzw. einen Umzug zu berücksichtigen, bei einem Säugling die geografische und familiäre Herkunft der Mutter sowie die familiären und sozialen Bindungen von Mutter und Kind im betreffenden Mitgliedstaat (EuGH, Urt. vom 22.12.2010 – Barbara Mercredi ./. Richard Chaffe, Rs C-497/10, Slg. 2010 I-14309, FamRZ 2011, 617, Nr. 56).

[7]b) Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts nach Art. 61, 8 EuEheVO ist zwar europarechtsautonom und unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls auszulegen, stimmt aber mit dem für das deutsche Verfahrensrecht entwickelten Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts im Wesentlichen überein (vgl. Palandt-Thorn aaO Art. 5 EGBGB Rz. 10 f., 13; Prütting-Helms, FamFG, 3. Aufl. [2014], § 122 Rz. 4). Die höchstrichterliche und obergerichtliche Rspr. stellt für den gewöhnlichen Aufenthalt unter Heranziehung von Kriterien, die den vom EuGH verwendeten Maßstäben im Wesentlichen entsprechen, v.a. darauf ab, wo sich der ‚Daseinsmittelpunkt’ und der Schwerpunkt der Bindungen des Minderjährigen befindet (BGH, Beschl. vom 5.6.2002 – XII ZB 74/00 (IPRspr. 2002 Nr. 100), FamRZ 2002, 1182, juris Rz. 5 u. Verw. auf BGH, Beschl. vom 29.10.1980 – IVb ZB 586/80 (IPRspr. 1980 Nr. 94), FamRZ 1981, 135; Johannsen-Henrich aaO Art. 21 EGBGB Rz. 5).

[8]aa) Bei einem Wechsel des Aufenthaltsorts bedarf es für die Annahme eines neuen gewöhnlichen Aufenthalts nicht notwendig einer bestimmten Zeitdauer. Ein gewöhnlicher Aufenthalt kann vielmehr bei entspr. deutlichen Indizien (endgültige Aufgabe des bisherigen Aufenthalts, dauerhafte Perspektive für längerfristiges Verbleiben am neuen Aufenthaltsort, Wechsel oder gar Rückkehr an einen Ort mit bereits bestehenden familiären, sozialen oder beruflichen Bindungen etc.) bereits nach kurzer Zeit vorliegen (vgl. den Sachverhalt EuGH, Urt. vom 22.12.2010 aaO; BGH, NJW 1993, 2047 (IPRspr. 1993 Nr. 65); BayObLG, FamRZ 2001, 1543 (IPRspr. 2000 Nr. 77); OLG Karlsruhe, Beschl. vom 5.3.2012 – 18 UF 274/11 (IPRspr 2012-242), FamRZ 2012, 1955 juris Rz. 20 für den Fall eines etwa 16 Jahren alten unbegleiteten Flüchtlings).

[9]Umgekehrt wird – jedenfalls bei Minderjährigen – nach einer Aufenthaltsdauer von sechs Monaten (vgl. Prütting-Helms aaO Rz. 15 f., 18) regelmäßig von einem gewöhnlichen Aufenthalt auszugehen sein (vgl. BGH, Beschl. vom 5.6.2002 aaO Rz. 11; OLG Karlsruhe, Beschl. vom 18.3.2010 – 2 UF 179/09 (IPRspr 2010-119a), FamRZ 2010, 1577 juris Rz. 42 f.; OLG Karlsruhe, Beschl. vom 14.8.2008 – 2 UF 4/08 (IPRspr 2008-79), FamRZ 2008, 2223, juris Rz. 15;OLG Karlsruhe, Beschl. vom 12.11.2013 – 5 UF 140/11 (IPRspr 2013-239), FamRZ 2014, 1565 Rz. 31, geht u. Hinw. auf das Ziel effektiven Kindesschutzes nach Ablauf von sechs Monaten von einer – widerlegbaren – Vermutung für die Begründung eines neuen gewöhnlichen Aufenthalts aus; vgl. auch Rahm-Künkel-Breuer, Hb. Familien- und Familienverfahrensrecht, 5. Aufl. [2010], Lfg. 03.2015, B. Materielles Recht Rz. 115; Erman-Hohloch, BGB, 14. Aufl. [2014], Anh Art. 24 Rz. 18 a.E.).

[10]bb) Eines Willens, den Aufenthaltsort zum Mittelpunkt oder Schwerpunkt der Lebensverhältnisse zu machen, bedarf es für die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts anders als für die Begründung eines Wohnsitzes nicht notwendig; es handelt sich beim gewöhnlichen Aufenthalt um einen ‚faktischen’ Wohnsitz.

[11]Wenn sich der Wille zum Aufenthaltswechsel allerdings in äußerlich erkennbaren Umständen, etwa in wachsender sozialer Integration oder dem Entstehen eines Daseinsmittelpunkts manifestiert, kann er gleichwohl Ausdruck der Begründung eines neuen gewöhnlichen Aufenthalts sein (vgl. EuGH, Urt. vom 2.4.2009 aaO und vom 22.12.2010; Palandt-Thorn aaO Rz. 13; Rahm-Künkel-Breuer aaO Rz. 116). Maßgeblich ist dann aber nicht ein rechtsgeschäftlicher Wille, sondern der durch äußere Indizien belegte (natürliche) Wille der betroffenen Person (vgl. EuGH, Urt. vom 22.12.2010 aaO Nr. 51; Palandt-Thorn aaO).

[12]Gerade bei jüngeren Kindern wird es auf den Willen im Regelfall nicht ankommen können, da diese einen auf ihren gewöhnlichen Aufenthalt gebildeten Willen selbst noch nicht ausprägen können. Der Wille ihrer Eltern wiederum wird gerade in den streitigen Fällen auf unterschiedliche Orte für den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes gerichtet sein (vgl. die Schlussanträge von Generalanwältin Kokott vom 29.1.2009 in der Rs C-523, EuGH, Celex-Nr. 62007CC0523: ‚Jedenfalls bei jüngeren Kindern ist der eigene Wille jedoch nicht ausschlaggebend, sondern der Wille der Eltern, denen als Teil des Sorgerechts auch das Recht auf Bestimmung des Aufenthaltsorts des Kindes zukommt. Gerade im Rahmen von Sorgerechtsstreitigkeiten fallen die Vorstellungen der sorgeberechtigten Personen darüber, wo sich das Kind aufhalten soll, aber möglicherweise auseinander. Daher kann die Absicht des Vaters und/oder der Mutter, sich mit dem Kind an einem bestimmten Ort niederzulassen, nur ein Indiz für dessen gewöhnlichen Aufenthalt sein, aber keine alleinentscheidende Voraussetzung.’)

[13]Dies gilt auch für Fälle, in denen die Frage nach dem gewöhnlichen Aufenthalt bei einem Aufenthaltswechsel, wie etwa bei einem Auslandsstudium, vom Vorhandensein oder Fehlen eines Rückkehrwillens geprägt wird. Für den Studierenden vermag das Studium im Ausland zwar regelmäßig keinen Wohnsitz, wohl aber – abhängig von der Dauer und dem Vorhandensein, der Intensität und dem Schwerpunkt der am bisherigen und am neuen Studienort vorhandenen Bindungen und bestehenden Rückkehroptionen an den Ort des bisherigen gewöhnlichen Aufenthalts – einen neuen Daseinsmittelpunkt und damit einen gewöhnlichen Aufenthalt am ausländischen Studienort zu begründen (vgl. OLG Hamm, Beschl. vom 2.5.2001 – 8 WF 27/01 (IPRspr. 2001 Nr. 80), FamRZ 2002, 54; Prütting-Helms aaO Rz. 14; vgl. auch OLG Hamm, Beschl. vom 13.3.1989 – 10 WF 76/89 (IPRspr. 1989 Nr. 113), FamRZ 1989, 1331 mit Anm. Henrich, IPRax 90, 59; Palandt-Thorn aaO). Für den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes als maßgeblichem Kriterium von Art. 61 EuEheVO treten die vom Willen der Eltern geprägten Elemente der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts jedoch auch in dieser Situation hinter die objektiven, den Daseinsmittelpunkt des Kindes bestimmenden Gesichtspunkte zurück.

[14]cc) Trotz der notwendig engen Verbindung des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes mit dem seiner Eltern ist der gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes nicht von dem seiner Eltern abgeleitet, sondern eigenständig zu bestimmen, auch wenn Kinder in der Regel den gewöhnlichen Aufenthalt eines Elternteils teilen werden (EuGH, Urt. vom 22.12.2010 aaO Rz. 56; Palandt-Thorn aaO Rz. 10 m.w.N.).

[15]dd) Als ‚rein faktisch geprägter Vorgang’ ist die Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts eines Kindes nicht nur unabhängig vom Aufenthaltsstatus des oder der Sorgeberechtigten zu bestimmen, sondern insbes. auch unabhängig von der Rechtmäßigkeit oder etwaigen Rechtswidrigkeit eines Aufenthaltswechsels (BGH, Beschl. vom 22.6.2005 – XII ZB 186/03 (IPRspr 2005-174), FamRZ 2005, 1540 juris Rz. 18 m.w.N.; Rahm-Künkel-Breuer aaO Rz. 120). Selbst im Fall einer Entführung ist deshalb nach Ablauf einer gewissen Zeit von einem Wechsel des gewöhnlichen Aufenthalts auszugehen (vgl. BGH, Beschl. vom 22.6.2005 aaO für den Fall der Entführung eines kleineren Kindes nach Ablauf von 15 Monaten). Auf den vom ASt. erhobenen Vorwurf der Widerrechtlichkeit des Zurückhaltens des Kindes kommt es deshalb für die Bestimmung von dessen gewöhnlichem Aufenthalt nicht entscheidend an. Vielmehr wird regelmäßig nach Ablauf einer Aufenthaltsdauer von sechs Monaten von der Begründung eines neuen gewöhnlichen Aufenthalts auszugehen sein.

Fundstellen

LS und Gründe

MDR, 2015, 1425
NJW-RR, 2015, 1415

nur Leitsatz

FamRZ, 2016, 248

Permalink

https://iprspr.mpipriv.de/2015-243

Lizenz

Copyright (c) 2024 Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht
Creative-Commons-Lizenz Dieses Werk steht unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
<% if Mpi.live? %> <% end %>