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Verfahrensgang

OLG Karlsruhe, Beschl. vom 12.11.2013 – 5 UF 140/11, IPRspr 2013-239

Rechtsgebiete

Zuständigkeit → Zuständigkeit in Ehe- und Kindschaftssachen

Leitsatz

Bei einem nach Verfahrenseinleitung erfolgten Aufenthaltswechsel des Kindes aus einem Mitgliedstaat der EuEheVO in einen Nichtmitgliedstaat, der aber Mitglied im KSÜ ist, kommt eine perpetuatio fori nicht in Betracht. Insoweit besteht gemäß Art. 61 lit. a EuEheVO kein Vorrang von Art. 8 EuEheVO gegenüber Art. 5 KSÜ.

Rechtsnormen

BGB § 1626a
EuEheVO 2201/2003 Art. 2; EuEheVO 2201/2003 Art. 8; EuEheVO 2201/2003 Art. 10; EuEheVO 2201/2003 Art. 60; EuEheVO 2201/2003 Art. 61
FamFG § 76
KSÜ Art. 5; KSÜ Art. 7; KSÜ Art. 52
ZPO § 114

Sachverhalt

[Vgl. das Parallelverfahren -- 5 UF 139/11 -- vom gleichen Tag (IPRspr 2013-238)]


Der ASt. und die AGg. sind die nicht miteinander verheirateten Eltern des Kindes A. Der Kindesvater hat im Oktober 2009 die Vaterschaft anerkannt. Die Kindesmutter ist Inhaberin der alleinigen elterlichen Sorge. Die Eltern lebten zunächst zusammen in einem Haushalt mit zwei weiteren Kindern der Mutter. Nachdem sich die Eltern trennten, verblieb der Kindesvater mit den drei Kindern der Kindesmutter in der ehemals ehelichen Wohnung, die Kindesmutter verließ diese Wohnung spätestens dann, als sie sich in der Schweiz einem neuen Lebenspartner zuwandte, mit diesem zusammenzog und Heiratspläne hatte. Die Kindesmutter teilte dem Kindesvater Anfang 2011 mit, dass sie den Umzug der Kinder in die Schweiz plane.

Daraufhin hat der Kindesvater einen Antrag auf Übertragung der elterlichen Alleinsorge gestellt. Nachdem die Kindesmutter mit den Kindern Anfang März 2011 in die Schweiz gezogen war, beantragte der Kindesvater überdies in einem Parallelverfahren den Erlass einer einstweiligen Anordnung auf Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts und Herausgabe des Kindes A. Mit Beschluss wies das FamG Donaueschingen die Anträge des Kindesvaters zurück, da eine internationale Zuständigkeit nicht gegeben sei. Im Anschluss beantragte der Kindesvater VKH für das Beschwerdeverfahren.

Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]II. Der Antrag des Kindesvaters auf Bewilligung von VKH ist zurückzuweisen, da die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine Aussicht auf Erfolg bietet, § 76 I FamFG i.V.m. § 114 ZPO.

[2]Zu Recht hat das FamG mit dem Beschluss vom 24.5.2011 den Antrag des Kindesvaters auf Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge zurückgewiesen, da dieser mangels internationaler Zuständigkeit unzulässig ist. Auch bei Einlegung des im VKH-Verfahren angezeigten großzügigen Maßstabs ist eine Erfolgsaussicht für ein Rechtsmittel dagegen nicht gegeben ...

[3]Zutreffend hat das FamG im bezeichneten Beschluss darauf hingewiesen, dass sich eine internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte hier lediglich aus Art. 8 I EuEheVO ergeben könnte. Danach sind für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Bei Anwendung dieser Vorschrift wären die deutschen Gerichte zuständig.

[4]Diese Zuständigkeit wird im vorliegenden Fall jedoch verdrängt durch die Vorschrift des Art. 5 I KSÜ, nach der die Gerichte des Vertragsstaats zuständig sind, in dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, so dass gemäß Abs. 2 bei einem Wechsel des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes in einen anderen Vertragsstaat (nur) die Gerichte des Staats des neuen gewöhnlichen Aufenthalts zuständig sind (dazu im Folgenden unter 2.). Jedenfalls zum Zeitpunkt der Beantragung von VKH für das vorliegende Beschwerdeverfahren Ende Juni 2011 ist ohne jeden Zweifel von einem Aufenthaltswechsel des Kindes in die Schweiz auszugehen (dazu im Folgenden unter 3.).

[5]1. Zunächst besteht keine gemäß Art. 5 II KSÜ bzw. Art. 8 II EuEheVO vorrangige Zuständigkeit nach Art. 7 KSÜ bzw. Art. 10 EuEheVO, da kein widerrechtliches Verbringen des Kindes vorliegt. Zu Recht hat das AG insoweit im angefochtenen Beschluss darauf hingewiesen, dass es nach den entspr. Legaldefinitionen in Art. 7 II KSÜ bzw. Art. 2 Nr. 11 EuEheVO auf das Verletzen eines Sorgerechts ankommt. Das Sorgerecht stand jedoch der Kindesmutter allein zu. Allein die Möglichkeit für den Kindesvater, wegen der verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die damalige Vorschrift des § 1626a BGB eine entspr. Abänderung erreichen zu können, führte noch nicht dazu, dass im Sinne dieser Vorschriften eine gemeinsame Sorge oder gar Alleinsorge des Kindesvaters angenommen werden könnte.

[6]2. Ein in der Schweiz begründeter Aufenthalt des Kindes führt zu einer dortigen Zuständigkeit gemäß Art. 5 KSÜ. Art. 8 EuEheVO ist dann nicht (mehr) anwendbar.

[7]Gemäß Art. 61 lit. a EuEheVO besteht ein Vorrang der EuEheVO gegenüber dem KSÜ nur dann, wenn das betreffende Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat. Dabei kommt es auf den Aufenthalt im Zeitpunkt der Sachentscheidung an, so dass nach einem Aufenthaltswechsel aus einem Mitgliedstaat der EuEheVO in einen Nichtmitgliedstaat, der aber Mitglied im KSÜ ist, eine perpetuatio fori nicht in Betracht kommt. Nur dann wird der Vorrang der nunmehr gemäß Art. 5 KSÜ bestehenden internationalen Zuständigkeit gewahrt.

[8]Dieser Vorrang des internationalen Abkommens vor der europäischen Verordnung entspricht im Verhältnis zwischen MSA und EuEheVO ganz allgemeiner Meinung, da auch dort durch völkerrechtskonforme Auslegung der Kollisionsnorm des Art. 60 lit. a EuEheVO ein Konflikt mit dem MSA vermieden werden soll (vgl. OLG Stuttgart, Beschl. vom 12.4.2012 – 17 UF 22/12 (IPRspr 2012-244), juris Rz. 9; OLG Karlsruhe, Beschl. vom 17.2.2011 – 18 UF 6/11, S. 5; Staudinger-Henrich, BGB, Bearb. 2008, Art. 21 EGBGB Rz. 159; Heidel-Hüßtege-Mansel-Noack-Gruber, BGB, 2. Aufl., Bd. 1; Art. 60 EuEheVO Rz. 6; Hausmann, Internationales und Europäisches Ehescheidungsrecht, 2013, Kap. B Rz. 76).

[9]Dies gilt aber in gleicher Weise auch für das Verhältnis der EuEheVO zum KSÜ (im Ergebnis ebenso OLG Karlsruhe aaO; MünchKommFamFG-Rauscher, 2. Aufl., § 99 Rz. 38; Prütting-Hau, FamFG, 3. Aufl., Vor §§ 98-106 Rz. 12; Hausmann aaO Rz. 260; Staudinger-Henrich aaO Rz. 160a; a.A. ohne nähere Begründung: Staudinger-Spellenberg aaO [Bearb. 2005] Art. 61 EheGVO Rz. 3). Mit der Vorschrift des Art. 61 lit. a EuEheVO soll ein Konflikt mit der Zuständigkeit nach Art. 5 KSÜ eines Staats vermieden werden, für den die EuEheVO nicht gilt. Diese Vorschrift in der EuEheVO aus dem Jahre 2003 beruht darauf, dass sich bei Abschluss des KSÜ im Jahre 1996 die Vertragsstaaten in Art. 52 II bis IV KSÜ verpflichtet haben, in künftigen zwischenstaatlichen Vereinbarungen oder regionalem Einheitsrecht den Vorrang des KSÜ gegenüber Drittstaaten zu wahren. Zum hier relevanten Zeitpunkt der Beantragung von VKH für das Beschwerdeverfahren bestand aber gemäß Art. 5 KSÜ eine internationale Zuständigkeit der Schweiz, auch wenn diese erst nach Einleitung des inländischen deutschen Verfahrens entstanden ist. Ein solcher Übergang der Zuständigkeit auf den Staat des neuen Aufenthalts ist in Art. 5 II KSÜ ausdrücklich vorgesehen, anders als in Art. 8 EuEheVO. Ein Konflikt mit der hier nunmehr bestehenden Zuständigkeit der Schweiz gemäß Art. 5 II KSÜ kann nur dann vermieden werden, wenn Art. 8 EuEheVO mit seiner dem KSÜ fremden perpetuatio fori gemäß Art. 61 lit. a EuEheVO nicht gilt, weil kein gewöhnlicher Aufenthalt in einem Mitgliedstaat im Sinne von Art. 2 Nr. 3 EuEheVO (mehr) besteht.

[10]Soweit ganz vereinzelt in der Literatur vertreten wird, im Bereich der internationalen Zuständigkeit sei wegen des anderen Wortlauts in Art. 61 EuEheVO gegenüber Art. 60 EuEheVO (in ersterem fehlen die Worte ‚im Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten’) das MSA weitergehend vorrangig gegenüber der EuEheVO als das KSÜ zur EuEheVO (so Heidel-Hüßtege-Mansel-Noack-Gruber aaO Art. 61 EuEheVO Rz. 4), überzeugt dies nicht. Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass diese etwas andere Formulierung auf einer sachlichen Entscheidung des Verordnungsgebers beruht (so auch Gruber selbst aaO Art. 60 EuEheVO Rz. 5). In den ersten Entwürfen zur EuEheVO war das KSÜ auch noch als weiterer Buchstabe im heutigen Art. 60 EuEheVO aufgeführt (vgl. KOM [2002] 222 endg., S. 51), obwohl deutlich war, dass gegenüber dem KSÜ der Vorrang der EuEheVO weniger weit geht. Die Kommission hielt zunächst eine ausdrückliche Beschränkung des Vorrangs der Verordnung auf Kinder, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in einem Mitgliedsstaat haben, nicht für erforderlich, weil dies ihrer Ansicht nach unmittelbar aus Art. 52 KSÜ folge (aaO S. 20 f.). In einem weiteren Zwischenschritt war dann überlegt worden, an den entspr. Buchstaben für das KSÜ im heutigen Art. 60 eine textliche Klarstellung anzufügen (vgl. Rat, Vermerk des Vorsitzes vom 30.4.2003, Nr. 8281/03 S. 31). Die dann erfolgte Ausgliederung des KSÜ aus der heutigen Vorschrift des Art. 60 EuEheVO in einen eigenen Art. 61 EuEheVO war – soweit ersichtlich – jedenfalls im Bereich der internationalen Zuständigkeit nicht mit einer Erweiterung des Vorrangs der EuEheVO verbunden, vielmehr sollte dieser Vorrang eingeschränkt werden.

[11]3. Schließlich besteht jedenfalls zum Zeitpunkt der Beantragung von VKH für die Beschwerde Ende Juni 2011 kein gewöhnlicher Aufenthalt des Kindes in Deutschland mehr.

[12]Unter dem Begriff ‚gewöhnlicher Aufenthalt’ eines Kindes ist der Ort zu verstehen, an dem eine gewisse Integration des Kindes in ein soziales und familiäres Umfeld zu erkennen ist. Dieser Ort ist unter Berücksichtigung aller tatsächlichen Umstände des Einzelfalls festzustellen (vgl. EuGH, Urt. vom 22.12.2010 – Barbara Mercredi ./. Richard Chaffe, Rs C-497/10 PPU, Slg. 2010 I-14309; juris Rz. 47 m.w.N.). Dabei kann die Absicht des betreffenden Elternteils, sich mit dem Kind in einem anderen Mitgliedstaat niederzulassen, die sich in bestimmten äußeren Umständen wie dem Erwerb oder der Anmietung einer Wohnung im Aufnahmemitgliedstaat manifestiert, ein Indiz für die Verlagerung des gewöhnlichen Aufenthalts sein (EuGH aaO Rz. 50). Zwar ist zur Unterscheidung des gewöhnlichen Aufenthalts von einer bloßen vorübergehenden Anwesenheit festzustellen, dass der gewöhnliche Aufenthalt grundsätzlich von gewisser Dauer sein muss, damit ihm ausreichende Beständigkeit innewohnt. Allerdings ist dabei keine Mindestdauer erforderlich. Maßgebend für die Verlagerung des gewöhnlichen Aufenthalts in den Aufnahmestaat ist nämlich v.a. der Wille des betreffenden Elternteils, dort den ständigen oder gewöhnlichen Mittelpunkt seiner Interessen in der Absicht zu begründen, ihm Beständigkeit zu verleihen. Die Dauer eines Aufenthalts kann daher nur als Indiz im Rahmen der Beurteilung seiner Beständigkeit dienen, die im Lichte aller besonderen tatsächlichen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen ist (EuGH aaO Rz. 51; das Kind befand sich z.Z. der Anrufung des Gerichts erst seit vier Tagen im Ausland, aaO Rz. 43). So kommt die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts im Zielstaat auch nach kurzer Zeit dann in Betracht, wenn der Aufenthalt von vornherein auf Dauer angelegt und die auf Dauer angelegte Ausreise rechtmäßig erfolgt ist (BGH, FamRZ 2011, 542, 545 (IPRspr 2011-274), Rz. 35; OLG Karlsruhe, FamRZ 2009, 239 (IPRspr 2008-76)). Der von der KOM herausgegebene ‚Leitfaden zur Anwendung der neuen Verordnung Brüssel II’ hält daher für möglich, dass ein Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt am Tag seiner Ankunft in einem Mitgliedstaat erwirbt (S. 15).

[13]Zu Recht hat das FamG im angefochtenen Beschluss darauf hingewiesen, dass angesichts der mindestens seit Januar 2011 dokumentierten Planungen und Vorbereitungen der Kindesmutter und der tatsächlich erfolgten sofortigen Integration des Kindes und seiner Geschwister in die dortigen Lebensverhältnisse (Aufenthaltserlaubnis und Kindergartenbesuch) ein unmittelbar mit Umzug erfolgter Wechsel des gewöhnlichen Aufenthalts vorliegt. Jedenfalls zum Zeitpunkt der Beantragung von VKH für die Beschwerde Ende Juni 2011 kann der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes in der Schweiz nicht mehr in Zweifel gezogen werden.

Fundstellen

nur Leitsatz

FamRB, 2014, 208, mit Anm. Stockmann
NJW-Spezial, 2014, 166

LS und Gründe

FamRZ, 2014, 1565
NJOZ, 2014, 1211
ZKJ, 2014, 335, mit Anm. Gottschalk

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