Beabsichtigen Eltern auf Dauer mit ihren Kindern aus dem Ausland (hier: Kanada) nach Deutschland überzusiedeln, so wird bereits mit dem Umzug der gewöhnliche Aufenthalt der Kinder im Sinne von Art. 4 des Haager Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführungen vom 25.10.1980 (BGBl. 1990 II 206) in Deutschland begründet.
Stimmt der mitsorgeberechtigte Ehepartner der Übersiedlung zu, so kann er sich im Hinblick auf eine nach der Übersiedlung erfolgte Trennung nicht einseitig von der Vereinbarung der Übersiedlung lossagen, wenn er infolge der Trennung nicht nach Deutschland umzieht.
Der ASt. begehrt die Herausgabe zweier Kinder nach den Vorschriften des HKiEntÜ zur Rückführung nach Kanada.
Die Parteien haben in Kanada geheiratet. Der ASt. ist kanadischer Staatsangehöriger, die AGg. ist Französin. Beide haben durch die Eheschließung jeweils zusätzlich die Staatsangehörigkeit ihres Ehepartners erlangt. Aus der Ehe sind die Kinder M., geb. 2001, und L., geb. 2002, hervorgegangen. Die Kinder teilen die Staatsangehörigkeit ihrer Eltern.
Die Parteien lebten seit 1996 zusammen in der Provinz Q. in Kanada. Ab dem Winter 2005/2006 überlegten die Parteien die Möglichkeit, mit der Familie nach Europa umzuziehen. Nach Zusage einer Stelle für die AGg. in Deutschland beschlossen die Parteien die Übersiedlung dorthin. Da der ASt. noch bis November 2007 in Kanada beruflich gebunden war, beschlossen die Parteien, dass die AGg. mit den Kindern vorab allein nach Deutschland umziehen solle, was diese mit den beiden gemeinsamen Kindern auch tat.
In der Folge erklärte die AGg. dem ASt., dass sie allein mit den Kindern in Deutschland bleiben wolle. Der ASt. hat daraufhin beim AG Karlsruhe die Herausgabe der Kinder zur Rückführung nach Kanada beantragt. Das AG hat den Antrag zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich der ASt. mit der sofortigen Beschwerde.
[1]II. Die nach §§ 40 II IntFamRVG, 22 FGG zulässige sofortige Beschwerde ist unbegründet. Das AG hat zu Recht die Anordnung der Herausgabe der Kinder gemäß Art. 12 I HKiEntÜ abgelehnt. Die Kinder werden von der AGg. nicht widerrechtlich in der Bundesrepublik Deutschland zurückgehalten.
[2]1. Das HKiEntÜ ist für Deutschland und Kanada zum 1.12.1990 in Kraft getreten. Es ist nach Art. 4 HKiEntÜ anwendbar, weil die Kinder ihren gewöhnlichen Aufenthalt in einem Vertragsstaat haben und das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet haben.
[3]Die Voraussetzungen für eine Rückgabeanordnung nach Art. 12 I HKiEntÜ liegen nicht vor, weil die Kinder nicht im Sinne von Art. 3 HKiEntÜ widerrechtlich in der Bundesrepublik Deutschland zurückgehalten werden. Nach Art. 3 I HKiEntÜ gilt das Zurückhalten eines Kindes als widerrechtlich, wenn dadurch das nach dem Recht des Staats seines gewöhnlichen Aufenthalts bestehende und tatsächlich ausgeübte Sorgerecht verletzt wird. Hier hatten die Kinder im Oktober 2007, als der ASt. nach eigenem Vortrag erstmals ihre Rückführung nach Kanada verlangt hat, ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland. Nach dem damit anwendbaren deutschen Recht (Art. 21 EGBGB) steht die elterliche Sorge beiden Elternteilen gemeinsam zu; aber auch nach Art. 599 f. Cc von Q. sind die Parteien gemeinsam sorgeberechtigt. Das gemeinsame Sorgerecht hat die AGg. durch ihre Weigerung, die Kinder nach Kanada zurückzuführen, nicht verletzt. Die Kinder werden von ihr nicht widerrechtlich zurückgehalten. Denn der Aufenthalt der Kinder in Deutschland beruht auf der gemeinsamen Absprache der Parteien.
[4]a) Nach h.M. ist der ‚gewöhnliche Aufenthalt’ einer Person der Ort des tatsächlichen Mittelpunkts der Lebensführung, d.h. derjenige Ort, an dem eine Person in beruflicher, familiärer und gesellschaftlicher Hinsicht den Schwerpunkt ihrer Bindungen hat (BGH, NJW 2002, 2955 (IPRspr. 2002 Nr. 100); Senat, Kind-Prax 2005, 69; Palandt-Heldrich, BGB, 67. Aufl., Anh Art. 24 EGBGB Rz. 10). Dabei wird im Sinne einer Faustregel im Allgemeinen vom Erwerb eines gewöhnlichen Aufenthalts ausgegangen, wenn der Aufenthalt sechs Monate angedauert hat. Ein Aufenthalt wird aber dann schon früher zum gewöhnlichen Aufenthalt, wenn er von vornherein auf Dauer angelegt ist (BGH, NJW 1981, 520 (IPRspr. 1980 Nr. 94); Senat aaO m.w.N.; OLG Rostock, FamRZ 2001, 642 (IPRspr. 2000 Nr. 85); Baetge, Zum gewöhnlichen Aufenthalt bei Kindesentführungen, IPRax 2001, 573, 576).
[5]Damit haben die Kinder M. und L. im September 2007 ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland begründet. Es ist unstreitig, dass sie zu diesem Zeitpunkt die von den Parteien gemeinsam angemietete Wohnung in E. bezogen haben und den Besuch der von den Eltern ausgesuchten Schule begonnen haben. Auch nach dem Vorbringen des ASt. war der Aufenthalt der Kinder in Deutschland von vornherein auf Dauer angelegt.
[6]b) Der ASt. macht allerdings geltend, im Hinblick auf die einseitig von der AGg. gewünschte Trennung der Parteien sei er an seine Zustimmung zur Übersiedlung nach Deutschland nicht mehr gebunden. Dieser Einwand bleibt jedoch ohne Erfolg. Nachdem sich die Eltern auf die Übersiedlung nach Deutschland und die Begründung des Aufenthalts hier für die Kinder geeinigt haben und v.a. dieses Vorhaben auch in die Tat umgesetzt haben, kann sich der ASt. nicht einseitig von der Vereinbarung lossagen (vgl. Senat, Kind-Prax aaO; OLG Rostock aaO; OLG Frankfurt, FamRZ 1997, 1100 (IPRspr. 1997 Nr. 94); OLG Hamburg, FamRZ 1996, 685 (IPRspr. 1996 Nr. 88a); OLG Stuttgart, FamRZ 1996, 688 (IPRspr. 1996 Nr. 86)). Der Verbleib der Kinder in der Bundesrepublik wird nicht dadurch nachträglich rechtswidrig, dass der ASt. nicht – wie zunächst vorgesehen – hierher zur Familie nachzieht.
[7]aa) Dass die Zustimmung des ASt. zur Übersiedlung nach Deutschland von vornherein unter der Bedingung der Fortführung der ehelichen Lebensgemeinschaft mit der AGg. gestanden hat oder für diesen Zeitraum befristet gewesen wäre, kann auch nach dem Vortrag des ASt. nicht angenommen werden. Er behauptet selbst nicht, dass dieses Thema mit der AGg. vor der Übersiedlung erörtert worden wäre, sondern meint, diese Bedingung sei stillschweigend vereinbart gewesen, seine Zustimmung habe selbstverständlich unter der immanenten Bedingung eines gemeinsamen und zeitgleichen Aufenthalts der Familie an einem Wohnsitz gestanden.
[8]Eine derart stillschweigend vereinbarte Bedingung oder Befristung kann hier jedoch nicht angenommen werden. Auch wenn man auf die Vereinbarung zur Übersiedlung die für Rechtsgeschäfte geltenden Regelungen der §§ 133, 157 BGB anwenden wollte, so kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Vereinbarung den Parteien unter dem Vorbehalt des weiteren Zusammenlebens gestanden hätte. Hiergegen spricht, dass jedenfalls für den Zeitraum von Juli bis November 2007 ein gemeinsames Zusammenleben mit dem ASt. in der Bundesrepublik Deutschland schon deshalb nicht möglich war, weil er so lange noch in Kanada beruflich gebunden war. Allerdings sind die Parteien im Sommer 2007 davon ausgegangen, dass der ASt. später dann der Familie nachfolgen sollte. Gleichwohl kann diese Vorstellung nach Treu und Glauben nicht als (selbstverständliche) Bedingung für die vereinbarte Übersiedlung angesehen werden. Es muss Eheleuten klar sein, dass der Fortbestand der ehelichen Lebensgemeinschaft keineswegs als sicher vorausgesetzt werden kann. Das Risiko, dass sich nach der Übersiedlung die eheliche Lebensgemeinschaft nicht wie vorgestellt fortsetzen würde, muss von der gesamten Familie getragen werden. Es rechtfertigt nicht, die Zustimmung unter eine immanente Bedingung zu stellen. Auch die erforderliche Planungssicherheit im Hinblick auf die Kinder spricht dagegen, eine Übersiedlung von Kanada nach Deutschland an nachträglich zu beurteilende Kriterien zu knüpfen. Nachdem die Kinder mit der AGg. in der Bundesrepublik ihren auf Dauer angelegten Wohnsitz gefunden haben und der ASt. ursprünglich der dauerhaften Wohnsitzänderung zugestimmt hatte, ist es nicht gerechtfertigt, wegen der Trennung der Eltern oder des Scheiterns der Ehe die Kinder zur Aufgabe ihres neuen sozialen Umfelds zu zwingen.
[9]bb) Eine andere Beurteilung wäre nur dann gerechtfertigt, wenn die AGg. tatsächlich die Zustimmung zur Übersiedlung nach Deutschland vom ASt. erschlichen hätte und schon damals die Absicht gehabt hätte, sich nach der Übersiedlung vom ASt. zu trennen. Diesen Verdacht hat der ASt. mit der Einführung einer außerehelichen Beziehung der AGg. zu einem Arbeitskollegen in die Verhandlung vor dem AG eingeführt; er wiederholt diesen Gesichtspunkt auch im Beschwerdeverfahren.
[10]Das AG hat jedoch zutreffend festgestellt, dass es für diese Vermutung des ASt. keine stichhaltigen Anhaltspunkte gibt. Das Vorbringen des Beschwf. rechtfertigt insoweit keine andere Beurteilung. Selbst wenn zutrifft, dass die AGg. noch bis Oktober 2006 eine Beziehung zu einem S.-Mitarbeiter aus W. unterhalten hat (und nicht nur bis April 2006, wie die AGg. vorträgt), so war diese Beziehung doch jedenfalls zum Zeitpunkt des Umzugs im Sommer 2007 unstreitig beendet. Es spricht daher nichts für die Annahme, die AGg. könne wegen dieser Beziehung nach Deutschland umgezogen sein. Es mag zutreffen, dass der ASt. bei Kenntnis der außerehelichen Beziehung der Ehefrau eventuell nicht mit einem Umzug der Familie nach Europa einverstanden gewesen wäre. Andererseits sieht der Senat auch keine Verpflichtung der AGg., dem ASt. von sich aus vor dem Umzug die bereits beendete Beziehung zu offenbaren. Eine solche Verpflichtung der Ehefrau ist auch deshalb abzulehnen, weil nach den Angaben des ASt. im Senatstermin die Ehe in Kanada bis zum Umzug harmonisch und problemlos verlaufen ist.