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Verfahrensgang

BGH, Urt. vom 01.03.2011 – XI ZR 48/10, IPRspr 2011-188

Rechtsgebiete

Zuständigkeit → Besonderer Vertragsgerichtsstand

Leitsatz

Für die Begründung der internationalen Zuständigkeit deutscher Gerichte nach Art. 2 I EuGVO reicht es aus, dass diese erst im Laufe des Rechtsstreits eingetreten ist.

Die danach einmal begründete internationale Zuständigkeit des Gerichts bleibt auch dann erhalten, wenn die sie begründenden Umstände im Laufe des Rechtsstreits wegfallen (perpetuatio fori).

Rechtsnormen

EuEheVO 2201/2003 Art. 8
EUGVVO 44/2001 Art. 1; EUGVVO 44/2001 Art. 2; EUGVVO 44/2001 Art. 3; EUGVVO 44/2001 Art. 5; EUGVVO 44/2001 Art. 15 f.; EUGVVO 44/2001 Art. 16; EUGVVO 44/2001 Art. 22; EUGVVO 44/2001 Art. 24; EUGVVO 44/2001 Art. 26; EUGVVO 44/2001 Art. 26 f.; EUGVVO 44/2001 Art. 27 ff.; EUGVVO 44/2001 Art. 30; EUGVVO 44/2001 Art. 66; EUGVVO 44/2001 Art. 76
ZPO § 253; ZPO § 261; ZPO § 320; ZPO § 557

Sachverhalt

Die Parteien streiten im Rahmen eines Zwischenstreits über die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte. Die Kl. nimmt den Bekl. auf Zahlung von Vorfälligkeitsentschädigung und Rückzahlung mehrerer Darlehen in Anspruch, die sie dem Bekl. gewährt hatte. Der Bekl., der bis dahin in G. gelebt hatte, meldete sich am 3.3.2006 nach D. ab und mietete sodann ab dem 26.5.2006 eine Wohnung in S. (Frankreich) an. Rund einen Monat später hat die Kl. bei dem AG U. Antrag auf Erlass eines Mahnbescheids gegen den Bekl. über eine Geldforderung nebst Zinsen und Kosten gestellt. Nach antragsgemäßem Erlass des Mahnbescheids und Zustellung des darauf gestützten Vollstreckungsbescheides am 12.10.2006 hat der Bekl. mit Schreiben vom 19.10.2006 Einspruch eingelegt und die mangelnde „örtliche Zuständigkeit“ des LG G. gerügt, an das die Sache vom Mahngericht abgegeben worden war. In der Folge hat der Bekl. die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte gerügt, sodann im Dezember 2007 mitgeteilt, er habe seinen Wohnsitz „ab Weihnachten 2006“ wieder nach G. verlegt, und schließlich kurz vor der mündlichen Verhandlung vor dem LG G. mit Schriftsatz vorgetragen, seine ladungsfähige Anschrift befinde sich nunmehr wieder in S. (Frankreich). In der mündlichen Verhandlung vor dem LG G. hat der Bekl. die Rüge der fehlenden internationalen Zuständigkeit aufrechterhalten und hilfsweise zur Sache verhandelt.

Das LG hat den Vollstreckungsbescheid aufgehoben und den Bekl. zur Geldzahlung nebst Zinsen verurteilt; der von ihm erhobenen Widerklage hat es teilweise stattgegeben und im Übrigen Klage und Widerklage abgewiesen. Auf die dagegen von beiden Parteien eingelegte Berufung hat das Berufungsgericht die abgesonderte Verhandlung über die Zulässigkeit der Klage angeordnet und mit dem angefochtenen Zwischenurteil die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte bejaht. Hiergegen wendet sich der Bekl. mit der vom Berufungsgericht zugelassen Revision.

Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]Die zulässige Revision ist unbegründet ...

[2]II. Das Berufungsurteil hält revisionsrechtlicher Überprüfung im Ergebnis stand, sodass die Revision zurückzuweisen ist.

[3]Entgegen der Auffassung der Revision hat das Berufungsgericht zu Recht die – auch in der Revisionsinstanz von Amts wegen zu prüfende (BGH, Urteile vom 28.11.2002 – III ZR 102/02 (IPRspr. 2002 Nr. 157), BGHZ 153, 82, 84 ff. und vom 9.3.2010 – XI ZR 93/09 (IPRspr 2010-49b), BGHZ 184, 365 Rz. 17 m.w.N.) – internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte bejaht.

[4]1. Diese richtet sich hier – wovon das Berufungsgericht zutreffend ausgegangen ist – nach der EuGVO, weil die Klage nach deren Inkrafttreten am 1.3.2002 erhoben worden (Art. 76, 66 EuGVO) und weil der sachliche und räumliche Geltungsbereich der Verordnung (Art. 1 I und III EuGVO) im Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zu Frankreich als Mitgliedstaaten eröffnet ist.

[5]2. Danach sind die deutschen Gerichte bereits deshalb zuständig, weil der allgemeine Gerichtsstand des Art. 2 I EuGVO begründet ist. Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben, sind nach dieser Vorschrift, vorbehaltlich hier nicht gegebener Sonderfälle, vor den Gerichten dieses Staats zu verklagen. Wie das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei angenommen hat, hat der Bekl. ab Weihnachten 2006, also zumindest nach Klageerhebung (§§ 253 I, 261 I ZPO) und vor dem Schluss der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung seinen Wohnsitz in G. unterhalten. Dies war zur Begründung der internationalen Zuständigkeit der deutschen Gerichte ausreichend. Die dagegen gerichteten Angriffe der Revision greifen nicht durch.

[6]a) Ohne Erfolg wendet sie ein, der Bekl. habe nicht vorgetragen, seinen Wohnsitz wieder nach Deutschland verlegt zu haben, sondern lediglich – was nicht ausreichend sei – seinen gewöhnlichen Aufenthalt. Diese Rüge geht bereits deshalb fehl, weil es sich bei der von der Revision beanstandeten Feststellung des Berufungsgerichts, der Bekl. habe nach seinen Angaben ab Weihnachten 2006 seinen Wohnsitz wieder nach Deutschland verlegt, um eine tatbestandliche Feststellung handelt. Diese ist auch dem Revisionsverfahren zugrunde zu legen, weil der dagegen erhobene Tatbestandsberichtigungsantrag (§ 320 ZPO) des Bekl. durch das Berufungsgericht als unbegründet zurückgewiesen worden ist. Diese Zurückweisung ist nach § 320 IV 4 ZPO endgültig; sie kann nicht mit der Revision angegriffen (§ 557 II ZPO) und die begehrte Richtigstellung des Tatbestands nicht mit Hilfe einer Verfahrensrüge erreicht werden (vgl. nur BGH, Urt. vom 2.7.2007 – II ZR 111/05, WM 2007, 1932 Rz. 24 m.w.N. sowie Beschl. vom 5.2.2009 – V ZR 159/08, juris Rz. 2).

[7]b) Zutreffend ist auch die Auffassung des Berufungsgerichts, für die Begründung der internationalen Zuständigkeit deutscher Gerichte reiche es aus, dass diese erst im Laufe des Rechtsstreits eingetreten sei.

[8]aa) Wie auch die Revision nicht in Abrede stellt, entspricht dies der ganz h.M. in der Lit. (Saenger-Dörner, ZPO, 4. Aufl., EuGVVO Art. 2 Rz. 4; Geimer, IZPR, 6. Aufl., Rz. 1828; MünchKommZPO-Gottwald, 3. Aufl., EuGVO Art. 2 Rz. 20; Wieczorek-Schütze-Hausmann, ZPO, 3. Aufl., Anh. I § 40, EuGVÜ Art. 2 Rz. 26; Musielak-Lackmann, ZPO, 7. Aufl., EuGVVO Art. 2 Rz. 5; Thomas-Putzo-Hüßtege, ZPO, 31. Aufl., EuGVVO Art. 2 Rz. 8; Kropholler, Europäisches Zivilprozeßrecht, 8. Aufl., Vor Art. 2 EuGVO Rz. 13; MünchKommZPO-Patzina aaO § 12 Rz. 80; Stein-Jonas-Roth, ZPO, 22. Aufl., Vor § 12 Rz. 56; Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht, 5. Aufl., Rz. 447; Schlosser, EU-Zivilprozessrecht, 3. Aufl., Art. 2 EuGVVO Rz. 7, jeweils m.w.N.) und in der Rspr. der OLG (siehe etwa OLG Düsseldorf, OLGR Düsseldorf 1997, 66, 67 und OLG Saarbrücken, RIW 1980, 796, 799 zu Art. 5 Nr. 5 EuGVÜ (IPRspr. 1979 Nr. 151b)). Auch der BGH hat – nach Erlass des Berufungsurteils – zu der im Wesentlichen vergleichbaren Regelung des Art. 8 I EuEheVO entschieden, dass der nachträgliche Eintritt der Voraussetzungen für die Begründung der internationalen Zuständigkeit ausreichend ist (BGH, Beschl. vom 17.2.2010 – XII ZB 68/09 (IPRspr 2010-240), BGHZ 184, 269 Rz. 9). Der erkennende Senat schließt sich dem an. Da Art. 8 I EuEheVO – anders als Art. 2 EuGVO – seinem Wortlaut nach für die internationale Zuständigkeit sogar ausdrücklich auf den Zeitpunkt der Antragstellung abstellt (siehe hierzu BGH, Beschl. vom 17.2.2010 aaO), muss der Grundsatz für Art. 2 EuGVO, der eine entspr. Regelung zur Frage des maßgeblichen Zeitpunkts nicht enthält, erst recht gelten. Nur bei einer solchen Sichtweise lässt sich die den Grundsätzen der Prozessökonomie widersprechende Folge vermeiden, dass sich das angerufene Gericht zunächst gemäß Art. 26 I EuGVO für unzuständig erklären müsste, der Kläger aber im Anschluss daran vor demselben Gericht angesichts des nunmehr in dessen Zuständigkeitsbereich wohnenden Beklagten sogleich ein neues Verfahren einleiten könnte (ebenso BGH, Beschl. vom 17.2.2010 aaO).

[9]bb) Anders als die Revision meint, steht dies auch nicht in Widerspruch zu den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben der Verordnung. Dabei kann die von der Revisionserwiderung aufgeworfene Frage dahinstehen, ob die EuGVO – wie die Revision geltend macht – gerade auch in der hier interessierenden Frage, an welcher Sach- und Rechtslage sich das Gericht bei der Entscheidung über die internationale Zuständigkeit in zeitlicher Hinsicht zu orientieren hat, autonom auszulegen ist, obwohl die Verordnung für die Entscheidung, woran sich die internationale Zuständigkeit in zeitlicher Hinsicht zu orientieren hat, keine unmittelbar einschlägige Regelung enthält (vgl. hierzu etwa MünchKommZPO-Gottwald aaO Rz. 19; Kropholler aaO Rz. 12 und 19; Musielak-Lackmann aaO). Auch bei autonomer Auslegung der Begriffe der Verordnung stehen die in ihr enthaltenen Gerichtsstandsbestimmungen der Berücksichtigung eines nach Klageerhebung begründeten Wohnsitzes nicht entgegen, sodass keine Gefahr besteht, entgegen den Vorgaben des EuGH könnten die Gleichheit und Einheitlichkeit der sich aus der Verordnung für die Vertragsstaaten und die betroffenen Personen ergebenden Rechte und Pflichten beeinträchtigt werden (vgl. EuGH, Urt. vom 15.11.1983 – Duijnstee: Ferdinand M.J.J. Duijnstee / Lodewijk Goderbauer, Rs C-288/82, Slg. 1983, 03663 Rz. 13 f.).

[10](1) Zu Unrecht beruft sich die Revision für ihre entgegenstehende Auffassung auf den Schutzzweck der Wohnsitzanknüpfung in Art. 2 EuGVO. Wie sie zutreffend sieht, besteht dieser nach der Rspr. des EuGH darin, dem Beklagten als dem in der Regel schwächeren Vertragspartner die gerichtliche Wahrnehmung seiner Rechte zu erleichtern; er soll sich möglichst vor dem für ihn am leichtesten zugänglichen Gericht gegen die Klage verteidigen dürfen (vgl. EuGH, Urt. vom 13.7.2000 – Group Josi: Group Josi Reinsurance Company SA / Universal General Insurance Company (UGIC), Rs C-412/98, Slg. 2000, I-05925 Rz. 34 f. zu Art. 2 Satz 1 EuGVÜ; ebenso Saenger-Dörner aaO Rz. 1; Staudinger-Hausmann, BGB, Bearb. 2002, Anh. II zu Art. 27-37 EGBGB Rz. 18). Wie die Revisionserwiderung zutreffend geltend macht, spricht dieser Schutzzweck für die Auffassung des Berufungsgerichts, die nachträglich eingetretene internationale Zuständigkeit zu berücksichtigen, und dagegen, für die internationale Zuständigkeit des angerufenen Gerichts abschließend auf den Zeitpunkt der Klageerhebung abzustellen. Das für den Beklagten nach Klageerhebung am leichtesten zugängliche Prozessgericht ist nämlich für gewöhnlich das örtlich zuständige Gericht seines aktuellen Wohnsitzes, nicht hingegen das Gericht seines früheren Wohnsitzes. Jedenfalls nachdem der Bekl. seinen Wohnsitz wieder nach G. verlegt hatte, war es für ihn leichter, sich vor dem dortigen LG zu verteidigen als vor den Gerichten eines anderen Staats. Ein schützenswertes Interesse des Bekl., sich vor dem Gericht seines früheren Wohnsitzes gegen die – dort noch nicht erhobene – Klage zu verteidigen, ist hingegen nicht ersichtlich und wird auch von der Revision nicht aufgezeigt.

[11](2) Entgegen der Auffassung der Revision steht die hier vertretene Auffassung auch in Übereinstimmung mit der Rspr. des EuGH, nach welcher die Auslegung der für die Gerichtsstandsbestimmung maßgeblichen Vorschriften nicht zu einer Zuständigkeit führen darf, die von ungewissen Umständen abhängt und damit dem Ziel der Verordnung zuwiderliefe, den Rechtsschutz der in der Gemeinschaft ansässigen Personen dadurch zu stärken, dass ein Kläger ohne Schwierigkeiten festzustellen vermag, welches Gericht er anrufen kann, und dass für einen verständigen Beklagten erkennbar ist, vor welchem Gericht er verklagt werden kann (EuGH, Urt. vom 5.2.2004 – DFDS Torline: Danmarks Rederiforening, handelnd für DFDS Torline A/S / LO Landsorganisationen i Sverige, handelnd für SEKO Sjöfolk Facket för Service och Kommunikation, Rs C-18/02, Slg. 2004, I-01417 Rz. 36 und Urt. vom 13.7.2006 – Reisch Montage: Reisch Montage AG / Kiesel Baumaschinen Handels GmbH, Rs C-103/05, Slg. 2006, I-06827 Rz. 25, jeweils m.w.N.). Ein nach Klageerhebung eintretender Wohnsitzwechsel des Beklagten ist als tatsachenabhängige Sachurteilsvoraussetzung feststellbar und begründet gemäß Art. 27 ff. EuGVO nur dann nachträglich die internationale Zuständigkeit des angerufenen Gerichts, wenn nicht bereits zuvor wegen desselben Anspruchs eine Klage vor dem bis zu dem Wohnsitzwechsel des Bekl. international zuständigen Gericht eines anderen Mitgliedstaats angebracht wurde (BGH, Beschl. vom 17.2.2010 aaO). Soweit in einem solchen Fall voneinander abweichende nationale Prozessordnungen aufeinandertreffen, gelten hierfür nach Art. 30 EuGVO klare Regeln, die einem strikten Prioritätsprinzip folgen (Musielak-Lackmann aaO Art. 30 Rz. 1). Unklarheiten über den nach Art. 2 I, 16 II EuGVO maßgeblichen Gerichtsstand des Bekl. können demzufolge nicht entstehen.

[12](3) Aus den weiteren Bestimmungen der Verordnung ergibt sich entgegen der Auffassung der Revision ebenfalls nichts, das gegen die Berücksichtigung eines nach Klageerhebung begründeten Wohnsitzes spricht.

[13](a) Soweit es dort in verschiedenen Regelungen heißt, dass Personen vor einem bestimmten Gericht ‚zu verklagen’ sind (Art. 2 I EuGVO) bzw. ‚verklagt werden’ können (Art. 3 I EuGVO), wird hierdurch ersichtlich nur der tatsächliche Vorgang bezeichnet; eine Aussage über den Zeitpunkt, in welchem die Zuständigkeitsvoraussetzungen vorliegen müssen, enthalten die Vorschriften der Verordnung nach a.A. nicht (Geimer-Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht, 3. Aufl., Art. 2 EuGVVO Rz. 137; MünchKommZPO-Gottwald aaO; Kropholler aaO Rz. 12; Musielak-Lackmann aaO Art. 2 Rz. 5; Schlosser aaO).

[14](b) Aus Art. 26, 27 EuGVO, wonach sich das angerufene Gericht unter bestimmten Voraussetzungen für unzuständig zu erklären hat, kann die Revision ebenfalls nichts für ihre Auffassung herleiten. Das Gericht hat sich nach diesen Vorschriften nur dann für unzuständig zu erklären bzw. das Verfahren auszusetzen, wenn die dafür erforderlichen Voraussetzungen zu dem jeweils maßgeblichen Zeitpunkt gegeben sind. Dass maßgeblicher und – wie die Revision geltend macht – im Interesse einer schnellen Entscheidung abschließender Zeitpunkt zwingend derjenige der Verfahrenseinleitung sein müsste, lässt sich den Vorschriften nicht entnehmen. Das Gegenteil ist vielmehr der Fall, wie schon daraus folgt, dass sich der Beklagte – außer in den vorliegend nicht einschlägigen Fällen eines ausschließlichen Gerichtsstands im Sinne des Art. 22 EuGVO – gemäß Art. 24 Satz 1 EuGVO rügelos zur Sache einlassen kann. Das ist ihm naturgemäß erst im Prozessverfahren möglich (vgl. MünchKommZPO-Gottwald aaO Art. 26 Rz. 2 f.).

[15](c) Ohne Erfolg bleibt schließlich auch der Hinweis der Revision auf Art. 30 EuGVO. Nach dieser Vorschrift ist in Fällen doppelter Rechtshängigkeit einer Rechtssache bei verschiedenen Gerichten der Mitgliedstaaten für die Frage, welches Gericht im Sinne der Art. 27 ff. EuGVO zuerst angerufen worden ist, grunds. auf den Zeitpunkt abzustellen, zu dem der verfahrenseinleitende Schriftsatz bei der für die Zustellung zuständigen Stelle eingereicht worden ist. Auch das steht der Berücksichtigung eines nach Klageerhebung begründeten Wohnsitzes nicht entgegen. Soweit in der Lit. die Auffassung vertreten wird, im Grundsatz solle der in Art. 30 EuGVO geregelte Prüfzeitpunkt auch für die Gerichtsstandsbestimmung des Art. 2 I EuGVO gelten (Zöller-Geimer, ZPO, 28. Aufl., Anh. I Art. 2 EuGVVO Rz. 27; MünchKommZPO-Gottwald aaO Art. 2 Rz. 19; Musielak-Lackmann aaO; Schlosser aaO), soll dies erklärtermaßen nicht ausschließen, dass das angerufene – zunächst nicht zuständige – Gericht durch eine Wohnsitzverlegung des Beklagten während des Prozesses (ex nunc) international zuständig wird (MünchKommZPO-Gottwald aaO Rz. 20; Schlosser aaO; für die nachträgliche Wohnsitzverlegung aus einem Nicht-Mitgliedstaat ebenso Zöller-Geimer aaO Rz. 18; Musielak-Lackmann aaO). Darüber hinaus fehlt es wegen der ausdrücklichen Begrenzung im Wortlaut des Art. 30 EuGVO auf die Art. 27 ff. EuGVO auch an einem normativen Anknüpfungspunkt dafür, den in Art. 30 EuGVO geregelten Prüfzeitpunkt auch auf Art. 2 EuGVO zu erstrecken (Löser, Zuständigkeitsbestimmender Zeitpunkt und perpetuatio fori im internationalen Zivilprozess, 2009, 114).

[16]c) Zu Recht hat das Berufungsgericht angenommen, dass die einmal begründete internationale Zuständigkeit durch den während des Rechtsstreits erfolgten erneuten Wegzug des Bekl. nach Frankreich nicht nachträglich wieder weggefallen ist.

[17]aa) Der im deutschen Prozessrecht gemäß § 261 III Nr. 2 ZPO geltende Grundsatz (BGH, Urt. vom 26.4.2001 – IX ZR 53/00, WM 2001, 1078, 1079 m.w.N.), dass eine einmal begründete Zuständigkeit des Gerichts auch dann erhalten bleibt, wenn die sie begründenden Umstände im Laufe des Rechtsstreits wegfallen (perpetuatio fori), ist nach ganz h.M. in Rspr. u. Lit. (vgl. OLG Köln, Urt. vom 16.12.2008 – 9 U 47/07, juris Rz. 68; LAG Düsseldorf, EuZW 2008, 740 (IPRspr 2008-126), 742; Saenger-Dörner aaO Rz. 4; Zöller-Geimer aaO Rz. 17; Geimer-Schütze aaO; MünchKommZPO-Gottwald aaO; Thomas-Putzo-Hüßtege aaO; Kropholler aaO Rz. 14 und Art. 16 EuGVO Rz. 2; Musielak-Lackmann aaO; Stein-Jonas-Roth aaO; Schack aaO Rz. 451; Schlosser aaO) auch auf die internationale Zuständigkeit anwendbar.

[18]bb) Wie die Revisionserwiderung zu Recht ausführt, ist er auch auf die hier in Rede stehende Zuständigkeit nach Art. 2 I EuGVO anzuwenden. Von der Geltung des Grundsatzes ist nach der Rspr. des EuGH für gemeinschaftsrechtliche Gerichtstandsbestimmungen auszugehen, wenn deren Ziele der Vorhersehbarkeit, Effizienz und Rechtssicherheit andernfalls – d.h. bei einem Wechsel der Zuständigkeit vom zuerst befassten Gericht zu einem Gericht eines anderen Mitgliedstaats – verfehlt würden (EuGH, DFDS Torline aaO Rz. 35 ff. und Urt. vom 17.1.2006 – Staubnitz-Schreiber, Rs C-1/04, Slg. 2006, I-00701 Rz. 24 ff. zu Art. 3 I EuInsVO; für eine Anwendbarkeit des Grundsatzes auch BGH, Beschlüsse vom 2.9.2009 – XII ZB 50/06 (IPRsprs. 2009 Nr. 248), BGHZ 182, 204 Rz. 16 zu Art. 4, 7 HUÜ und vom 17.2.2010 aaO). Wie der EuGH entschieden hat, muss es bei der Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts in Fällen bleiben, in denen die Gerichtsstandsbestimmung der Verbesserung der Effizienz grenzüberschreitender Verfahren dient (EuGH Staubnitz-Schreiber aaO), da man andernfalls den Gläubiger zwingen würde, gegen den Schuldner immer wieder dort vorzugehen, wo dieser sich gerade für kürzere oder längere Zeit niederlasse, und dadurch in der Praxis häufig eine Verlängerung des Verfahrens drohe (EuGH Staubnitz-Schreiber aaO).

[19]So ist es hier. Das im Erwgr. 11 der Verordnung zum Ausdruck gebrachte Ziel, im Interesse der Parteien Kompetenzkonflikte zu vermeiden, also die Frage, welches Gericht bei grenzüberschreitenden Sachverhalten für die Entscheidung zuständig ist, möglichst schnell zu beenden, würde in sein Gegenteil verkehrt, wenn ein Kläger gehalten wäre, gegen den Beklagten immer wieder dort aufs Neue vorzugehen, wo dieser gerade für kürzere oder längere Zeit seinen Wohnsitz genommen hat (vgl. EuGH Staubnitz-Schreiber aaO Rz. 26; Stein-Jonas-Roth aaO; Schack aaO).

[20]cc) Soweit die Revision für ihren gegenteiligen Standpunkt auf den Beschluss des XII. Zivilsenats des BGH vom 22.6.2005 (XII ZB 186/03 (IPRspr 2006-174), BGHZ 163, 248, 259 ff.) verweist, bleibt dies schon deshalb ohne Erfolg, weil der XII. Zivilsenat – anders als die Revision meint – mit dieser Entscheidung, die durch Besonderheiten des eine Kindesentführung betreffenden Falls gekennzeichnet war, den Grundsatz der perpetuatio fori für die internationale Zuständigkeit keineswegs generell ausgeschlossen hat; dies belegen schon die späteren Beschlüsse des selben Senats vom 2.9.2009 (aaO) und vom 17.2.2010 (aaO). Für den Streitfall kommt – worauf die Revisionserwiderung zutreffend hinweist – insbes. dem letztgenannten Beschluss Bedeutung zu, mit dem die Geltung des Perpetuatio-fori-Grundsatzes für eine dem Art. 2 I EuGVO vergleichbare Zuständigkeitsregel (Art. 8 I EuEheVO) bejaht wurde.

[21]dd) Die Anwendung des Grundsatzes der perpetuatio fori steht entgegen der Auffassung der Revision auch nicht im Widerspruch dazu, dass aus den dargelegten Gründen die zuständigkeitsbegründende Verlegung des Wohnsitzes nach Einleitung des Verfahrens zu berücksichtigen ist. Perpetuiert wird nur die Zuständigkeit, nicht die Unzuständigkeit. Die nachträgliche Zuständigkeitsbegründung des angerufenen Gerichts ist durch den Zuzug des Beklagten daher nur möglich, wenn nicht zuvor das bis zu diesem Zeitpunkt international zuständige Gericht eines anderen Vertragsstaats wegen desselben Anspruchs angerufen wurde (vgl. BGH, Beschl. vom 17.2.2010 aaO; Kropholler aaO Rz. 15; Staudinger-Pirrung aaO Bearb. 2009, C. ESGVO Art. 8 Rz. C 55 f.).

[22]3. Aus Rechtsgründen ist schließlich auch nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte bejaht hat, ohne zu klären, ob der Bekl. Verbraucher im Sinne der Art. 15, 16 II EuGVO ist. Auch in diesem Fall besteht nach dem Voranstehenden die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte, da die für Verbraucher geltende Sonderregelung des Art. 16 II EuGVO – ebenso wie Art. 2 I EuGVO – auf den Wohnsitz des Verbrauchers abstellt und lediglich dort für die Klage gegen einen Verbraucher einen ausschließlichen Gerichtsstand vorsieht (vgl. Saenger-Dörner aaO Art. 16 Rz. 5). An der zutreffenden Beurteilung des Berufungsgerichts, dass der die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte – ggf. nach Art. 16 II EuGVO ausschließlich – begründende Wohnsitz des Bekl. sich innerhalb des hierfür relevanten Zeitraums vorübergehend in G. befand, ändert dies nichts.

[23]4. Ob sich, wie das Berufungsgericht – von der Revision unbeanstandet – angenommen hat, die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte im Streitfall zusätzlich aus Art. 5 Nr. 1 EuGVO (Gerichtsstand des Erfüllungsorts) ergibt, kann offen bleiben. An der internationalen Zuständigkeit der deutschen Gerichte am Wohnsitz des Bekl. ändert dies nichts. Sofern die Sonderregelungen für Verbrauchersachen keine Anwendung finden, kann die Kl. – wie das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat – zwischen dem nach Art. 2 I EuGVO am Wohnsitz des Bekl. eröffneten allgemeinen Gerichtsstand in Deutschland und einem besonderen Gerichtsstand nach Art. 5 Nr. 1 EuGVO frei wählen (vgl. nur Zöller-Geimer aaO Art. 3 EuGVVO Rz. 4; MünchKommZPO-Gottwald aaO Art. 2 Rz. 5 und Art. 3 Rz. 1). Sind hingegen die für Verbrauchersachen geltenden Regelungen anwendbar, verdrängen sie gemäß Art. 15 I, 16 II EuGVO einen nach Art. 5 Nr. 1 EuGVO am Erfüllungsort begründeten Gerichtsstand zugunsten des am Wohnsitz des Bekl. eröffneten Gerichtsstands (vgl. EuGH, Urt. vom 20.1.2005 – Engler: Petra Engler / Janus Versand GmbH, Rs C-27/02, Slg. 2005, I-00481 Rz. 32; OLG Frankfurt, WM 2009, 718, 719 (IPRspr 2008-138); Mankowski, RIW 1996, 1001, 1004).

[24]5. Die Auslegung der Art. 2 I, 16 II EuGVO erfordert entgegen der Anregung der Revision keine Vorlage an den EuGH zur Vorabentscheidung. Dies folgt zur Frage der Geltung des Perpetuatio-fori-Grundsatzes bereits daraus, dass die betreffende Rechtsfrage vom EuGH grunds. beantwortet ist und der erkennende Senat sich der Rspr. des EuGH anschließt (EuGH, Urt. vom 6.10.1982 – Cilfit u.a.: Srl CILFIT und Lanificio di Gavardo SpA / Ministero della Sanità, Rs C-283/81, Slg. 1982, 03415 Rz. 13 f. und 21). Hinsichtlich des maßgeblichen Prüfzeitpunkts für die nach Art. 2 I EuGVO zu beurteilende internationale Zuständigkeit ist die richtige Auslegung der Richtlinie aus den genannten Gründen derart offenkundig, dass für vernünftige Zweifel kein Raum bleibt (vgl. EuGH Cilfit u.a. aaO Rz. 16, 21; BVerfG, NJW 1988, 1456; BGH, Urteile vom 28.11.2002 aaO 82, 92 und vom 23.2.2010 – XI ZR 186/09, WM 2010, 647 Rz. 35 m.w.N.).

Fundstellen

LS und Gründe

BGHZ, 188, 373
MDR, 2011, 686
NJW, 2011, 2515
RIW, 2011, 481
WM, 2011, 745
WuB, 2011, mit Anm. Geimer, VII B. Art. 2 EuGVVO – Nr. 1.11
ZIP, 2011, 833
I.L.Pr., 2012, 3, 217
JR, 2012, 192, mit Anm. Looschelders
VersR, 2012, 1274

nur Leitsatz

BB, 2011, 1090
EWiR, 2011, 311, mit Anm. Geimer
FamRZ, 2011, 884
GWR, 2011, 216, mit Anm. Frobenius

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https://iprspr.mpipriv.de/2011-188

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