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Verfahrensgang

BGH, Beschl. vom 17.02.2010 – XII ZB 68/09, IPRspr 2010-240

Rechtsgebiete

Zuständigkeit → Zuständigkeit in Ehe- und Kindschaftssachen

Leitsatz

Gemäß Art. 8 EuEheVO sind die deutschen Gerichte für eine die elterliche Verantwortung betreffende Entscheidung selbst dann zuständig, wenn der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes im Inland zwar erst nach der Antragstellung begründet, aber kein ausländisches Gericht in derselben Rechtssache zuvor angerufen wurde. [LS der Redaktion]

Rechtsnormen

EuEheVO 2201/2003 Art. 8; EuEheVO 2201/2003 Art. 9 f.; EuEheVO 2201/2003 Art. 12; EuEheVO 2201/2003 Art. 13; EuEheVO 2201/2003 Art. 17

Sachverhalt

Die Beteiligte zu 1) ist die Mutter des am 11.12.2000 nichtehelich geborenen Kindes. Sie lebte zunächst mit dem Kind im Haus ihrer Eltern. Nachdem es innerhalb der Familie zu Auseinandersetzungen gekommen war, wandte sich die Mutter Anfang 2007 an das beteiligte Jugendamt. Ab November 2007 wechselte die Mutter gemeinsam mit ihrem Kind mehrfach ihren Aufenthaltsort, wobei sie sich abwechselnd in A. und M. aufhielt. Das Kind besuchte in dieser Zeit die Grundschule am jeweiligen Aufenthaltsort. Ab dem 19.12.2007 blieb das Kind dem Schulunterricht unentschuldigt fern. Jedenfalls in der Zeit vom 27.12.2007 bis zum 3.1.2008 hielt sich die Mutter mit dem Kind in Österreich auf. In der Folgezeit reiste sie mit dem Kind nach Bolivien.

Auf eine Anregung des Jugendamts vom 20.12.2007 hat das FamG der Mutter mit Beschluss vom 21.12.2007 das Aufenthaltsbestimmungsrecht, das Recht zur Heilfürsorge und das Recht zur Beantragung von Leistungen nach dem SGB VIII vorläufig entzogen. Diesen Beschluss hat das FamG am 10.1.2008 um einen Herausgabebeschluss und am 11.1.2008 um einen Durchsuchungsbeschluss erweitert. Mit Beschluss vom 1.4.2008 hat das FamG die einstweilige Anordnung „in der Hauptsache bestätigt“. Aufgrund des Beschlusses vom 1.4.2008 hat das Jugendamt das Kind am 12.4.2008 nach der Rückkehr aus Bolivien in Obhut genommen. Auf die Beschwerde der Mutter hat das BeschwG den Beschluss des AG vom 1.4.2008 aufgehoben. Mit der Rechtsbeschwerde begehrt das Jugendamt die Aufhebung des Beschlusses und die Zurückverweisung der Sache an das OLG.

Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]B. Die Rechtsbeschwerde des Jugendamts ist begründet und führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das OLG.

[2]I. Das BeschwG hat seine internationale Zuständigkeit bejaht. Dies begegnet im Ergebnis keinen rechtlichen Bedenken.

[3]Die – in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfende – internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte richtet sich nach der EuEheVO (vgl. EuGH, FamRZ 2008, 125, 126). Nach Art. 8 EuEheVO sind – vorbehaltlich der Art. 9, 10 und 12 EuEheVO – für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Kann der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes nicht festgestellt werden, sind vorbehaltlich Art. 12 EuEheVO gemäß Art. 13 I EuEheVO die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem sich das Kind befindet. Danach war die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte jedenfalls im Zeitpunkt der Entscheidung des OLG gegeben.

[4]Hierbei kann offen bleiben, ob, wie die Mutter geltend macht, am 20.12.2007 noch vor Eingang der Anregung des Jugendamts ein neuer gewöhnlicher Aufenthalt des Kindes in Österreich begründet war oder sich das Kind zumindest – nach Aufgabe des gewöhnlichen Aufenthalts in Deutschland – dort befand. Denn das Kind hält sich seit Mitte April 2008 wieder in Deutschland auf und ist dort familiär und sozial integriert (vgl. insoweit EuGH, FamRZ 2009, 843, 845; Senatsbeschl. vom 18.6.1997 – XII ZB 156/95 (IPRspr. 1997 Nr. 99), FamRZ 1997, 1070). Jedenfalls im Zeitpunkt der Entscheidung des OLG war daher ein gewöhnlicher Aufenthalt in Deutschland gegeben. Auch ein erst während des Verfahrens begründeter gewöhnlicher Aufenthalt führt indes zur Zuständigkeit des angerufenen Gerichts nach Art. 8 I EuEheVO, wenn nicht zuvor ein ausländisches Gericht in derselben Rechtssache angerufen wurde. Dass Art. 8 I EuEheVO auf den Zeitpunkt der Antragstellung abstellt, hat lediglich die Bedeutung, dass ein einmal angerufenes Gericht international zuständig bleibt, auch wenn das Kind während des Verfahrens in einem anderen als dem angerufenen Staat einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt erwirbt (perpetuatio fori). Im umgekehrten Fall eines erst im Verlauf des Verfahrens erworbenen gewöhnlichen Aufenthalts im Staat des angerufenen Gerichts verbleibt es hingegen bei dem allgemeinen Grundsatz, wonach die Zuständigkeitsvoraussetzungen im Zeitpunkt der Entscheidung vorliegen müssen. Eine andere Sichtweise hätte die der Prozessökonomie widersprechende Folge, dass sich das Gericht zunächst gemäß Art. 17 EuEheVO für unzuständig erklären müsste, aber im Anschluss angesichts des nunmehr bestehenden inländischen Aufenthalts sogleich ein neues Verfahren einleiten könnte (Geimer-Schütze-Dilger, Internationaler Rechtsverkehr in Zivil- und Handelssachen, Bd. II [Erg-Lfg. 29], B Vor I 15 b Art. 8 EheVO Rz. 7 und ebda Vor Art. 3 EheVO Rz. 66; HK-ZPO-Dörner, 3. Aufl., Art. 8 EheGVVO Rz. 7; Rauscher, Europäisches Zivilprozessrecht, 2. Aufl., Bd. 1, Art. 8 Brüssel IIa-VO Rz. 5; Solomon, FamRZ 2004, 1409, 1411).

Fundstellen

LS und Gründe

BGHZ, 184, 269
Europ. Leg. Forum, 2010, I-158
Europ. Leg. Forum, 2010, II-75
FamRZ, 2010, 720, mit Anm.Stößer
JAmt, 2010, 321
MDR, 2010, 630
NJW, 2010, 1351, mit Anm. Peschel-Gutzeit
JR, 2011, 254, mit Anm. Probst

nur Leitsatz

FF, 2010, 263
FuR, 2010, 406
JuS, 2010, 819, mit Anm. Wellenhofer

Permalink

https://iprspr.mpipriv.de/2010-240

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