Wechselt ein Kind während eines laufenden Kindschaftsverfahrens seinen gewöhnlichen Aufenthalt aus einem Mitgliedsstaat der EU (hier: Deutschland), in einen Vertragsstaat des KSÜ, der kein Mitgliedsstaat der EU ist (hier: die Schweiz), so bestimmt sich die Zuständigkeit nach dem KSÜ.
Nach Art. 5 Abs. 1 KSÜ sind die Gerichte des Vertragsstaats, in dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, dafür zuständig, Maßnahmen zum Schutz der Person oder des Vermögens des Kindes zu treffen.
Im Gegensatz zu einem Umzug innerhalb der Mitgliedsstaaten der EU, bei dem der Wechsel des Aufenthaltsortes während des laufenden Verfahrens unbeachtlich wäre (Grundsatz der "perpetuatio fori"), sind im Fall eines Umzugs außerhalb der EU (hier: in die Schweiz) die nach Art. 5 Abs. 2 KSÜ zuständigen Gerichte des neuen Staates zur Entscheidung international zuständig.
Eine „perpetuatio fori“ kommt nur in den Fällen des Art. 7 KSÜ bei widerrechtlichem Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes in Betracht. [LS der Redaktion]
Gegenstand des Verfahrens ist eine sorgerechtliche Streitigkeit betreffend die Durchsetzung der in Deutschland geltenden Schulpflicht. Die Kinder leben mit ihren verheirateten Eltern zusammen. … wurde am … in der …, Bezirk …, eingeschult, die sie bis zum Beginn der Corona Pandemie im März 2020 regelmäßig besuchte. Im Anschluss nutzten die Eltern die ihnen bis Ende des Schuljahres 2020/2021 eingeräumte Möglichkeit, das Kind im „Homeschooling“ beschulen zu lassen. … nahm während dieser Zeit ordnungsgemäß am Online-Unterricht teil. Bei der Schulanmeldung von … gaben die Eltern sowohl die Adresse … in … als auch eine weitere Adresse in … an, wo sich eigenen Angaben zufolge ihr Hauptwohnsitz befand. Amtlich gemeldet waren die Eltern und … aber nicht in …, wo der Bruder des Vaters (im Folgenden: Onkel) lebt, sondern zunächst seit dem 01.02.2013 in der Gemeinde ... Nachdem die Gemeinde … dem Wunsch der Eltern, ihre Personalausweise und Reisepässe zu vernichten, keine Folge geleistet hatte, meldete sich die Familie zum 27.10.2015 in … ab und gab als neue Adresse eine fiktive Anschrift in … an. Nachdem seit Beginn des Schuljahres 2021/2022 in den Schulen wieder eine gesetzliche Anwesenheitspflicht der Schüler bestand, erklärten die Eltern der Schule gegenüber, sie würden ihre Tochter … von der Schule abmelden und das Schulverhältnis „kündigen“. … blieb seither der Schule fern.
Aufgrund Anregung der … Grundschule … vom 29.03.2022 leitete das Amtsgericht Überlingen zur Überprüfung einer möglichen Kindeswohlgefährdung des Kindes … ein sorgerechtliches Verfahren ein (
[1]II.
[2]Die zulässige Beschwerde der Eltern ist aufgrund der während des Beschwerdeverfahrens entfallenen Entscheidungszuständigkeit der deutschen Gerichte als unbegründet zurückzuweisen. Für eine Entscheidung in der Sache sind nunmehr ausschließlich die Schweizer Gerichte international zuständig.
[3]1. Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde der Eltern gegen den Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Überlingen vom 4.11.2022 (
[4]2. Aufgrund des - während des Beschwerdeverfahrens erfolgten - dauerhaften Umzugs der Familie in die Schweiz ist seit dem 01.06.2023 gemäß Art. 5 Abs. 2 KSÜ die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte entfallen. Eine inhaltliche Überprüfung der aufgrund Art. 14 KSÜ weiter wirksamen erstinstanzlichen Entscheidung kann im Beschwerdeverfahren durch ein deutsches Gericht nicht mehr erfolgen, hierfür sind nunmehr die Schweizer Gerichte international zuständig, so dass die Beschwerde der Eltern zurückzuweisen ist.
[5]a) Die internationale Zuständigkeit ist als Verfahrensvoraussetzung von Amts wegen auch im Beschwerdeverfahren zu prüfen (OLG Karlsruhe vom 22.03.2017 -
[6]b) Im Ergebnis zutreffend hat das Amtsgericht Überlingen seine internationale Zuständigkeit bejaht, da die beiden Kinder zum Zeitpunkt der erstinstanzlichen Entscheidung am 14.11.2022 ihren gewöhnlichen Aufenthalt in … hatten, Art. 8 Abs. 1 Brüssel IIa-VO, Art. 7 Abs. 1 Brüssel IIb-VO.
[7]aa) Da das sorgerechtliche Verfahren vor dem 01.08.2022 eingeleitet wurde, richtet sich die internationale Zuständigkeit in Bezug auf … aufgrund Art. 100 Abs. 2 Brüssel IIb-Verordnung (VO EU Nr. 2019/1111 vom 25.06.2019) nach Art. 8 Abs. 1 Brüssel IIa-VO (VO EG Nr. 2201/2003 vom 27.11.2003). Im Hinblick auf das hinzu verbundene Verfahren betreffend …, welches am 28.09.2022 eingeleitet wurde (früher
[8]bb) Der gewöhnliche Aufenthalt eines Kindes ist nicht von dem seiner Eltern abgeleitet, sondern eigenständig zu bestimmen, auch wenn Kinder in der Regel den gewöhnlichen Aufenthalt ihrer Eltern teilen werden. Unter dem gewöhnlichen Aufenthalt eines Kindes ist der Ort zu verstehen, an dem eine gewisse Integration des Kindes in ein soziales und familiäres Umfeld zu erkennen ist. Dieser Ort ist unter Berücksichtigung aller tatsächlichen Umstände des Einzelfalls festzustellen (vgl. EuGH vom 22.12.2010 - C-497/10, juris Rn. 47; EuGH vom 28.06.2018 - C-512/17, juris Rn. 40 ff.; OLG Karlsruhe vom 05.06.2015 -
[9]Zwar unterscheidet sich der gewöhnliche Aufenthalt von einer bloßen vorübergehenden Anwesenheit dadurch, dass er grundsätzlich von gewisser Dauer sein muss, damit ihm ausreichende Beständigkeit innewohnt. Bei einer Aufenthaltsdauer von sechs Monaten ist regelmäßig von einem gewöhnlichen Aufenthalt auszugehen (OLG Karlsruhe vom 05.06.2015 -
[10]cc) Zum Zeitpunkt der Einleitung des sorgerechtlichen Verfahrens im Hinblick auf … im Februar 2022 hatten die Kinder ihren gewöhnlichen Aufenthalt in …. Soweit die Eltern vortragen, die Familie sei eine „fahrende Sippe … des Stammes Ephraim“ und habe viele Wohnsitze, sie sei mit dem Wohnwagen unterwegs und lebe in Ungarn, entspricht dies nicht der Lebenswirklichkeit. Es gibt vielmehr ausreichend Hinweise darauf, dass die Familie ihren Lebensmittelpunkt in … hatte und dort auch familiär verwurzelt war: Die Eltern waren beide über längere Zeit in … selbständig beruflich tätig, der Vater betreibt dort immer noch seinen Betrieb. Sie sind Eigentümer eines im Ort gelegenen Hauses, … besuchte bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie regelmäßig die örtliche Grundschule. In der Nachbarschaft lebt bis zum heutigen Tag die Großmutter der Kinder, um die sich die Eltern kümmern. Auch wurde von Zeugen geschildert, dass die Familie in … einkaufen ging. Von Nachbarn wurde sie bei alltäglichen Verrichtungen gesehen. Schließlich wirkte das Haus bei dem unangekündigten Hausbesuch des Jugendamtes im Mai 2022 bewohnt, im Flur standen Kinderschuhe. Soweit sich auf dem Briefkasten der Name „Verein …“ befindet und sich die Firma „…“ für die Eltern gemeldet hat, ist dies als Teil der Bemühungen der Eltern zu würdigen, den gewöhnlichen Aufenthalt der Familie in … zu verschleiern.
[11]dd) Die internationale Zuständigkeit des Amtsgerichts Überlingen ist auch nicht am 01.07.2022 durch den Abschluss eines Mietvertrages mit dem Onkel der Kinder für die Wohnung in … Schweiz entfallen, da dort kein gewöhnlicher Aufenthalt begründet wurde.
[12](1) Wechselt ein Kind während eines laufenden Kindschaftsverfahrens seinen gewöhnlichen Aufenthalt aus einem Mitgliedsstaat der EU, hier Deutschland, in einen Vertragsstaat des Haager Übereinkommens über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern vom 19.10.1996 (KSÜ), der kein Mitgliedsstaat der EU ist, hier die Schweiz, so bestimmt sich die Zuständigkeit nach dem KSÜ. Nach dem dann anwendbaren Art. 5 Abs. 1 KSÜ sind die Gerichte des Vertragsstaats, in dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, dafür zuständig, Maßnahmen zum Schutz der Person oder des Vermögens des Kindes zu treffen. Im Gegensatz zu einem Umzug innerhalb der Mitgliedsstaaten der EU, bei dem - wie vom Amtsgericht Überlingen ausgeführt - der Wechsel des Aufenthaltsortes während des laufenden Verfahrens unbeachtlich wäre (Grundsatz der perpetuatio fori, EuGH vom 01.10.2014 - C-436/13, juris Rn. 38), sind im Fall eines Umzugs in die Schweiz die nach Art. 5 Abs. 2 KSÜ zuständigen Gerichte des neuen Staates zur Entscheidung international zuständig (EuGH vom 14.07.2022 - C-572/21, juris Rn. 44; OLG Karlsruhe vom 22.03.2017 -
[13](2) Obwohl die Eltern beim Onkel der Kinder in der grenznahen Schweiz im Juni 2022 zwei Zimmer in dessen Wohnung als Untermieter gemietet hatten, haben die Kinder dort keinen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des Art. 5 KSÜ begründet.
[14]Es gibt zwar Indizien, die dafür sprechen, dass die Eltern während des laufenden erstinstanzlichen Verfahrens beabsichtigten, mit den Kindern einen dauerhaften Wohnsitz in der Schweiz zu begründen. So hatte die Mutter ihr Gewerbe abgemeldet und die Eltern sprachen am 01.07.2022 bei der Gemeinde … vor, um sich dort anzumelden. Weiter hatte die Mutter für die ganze Familie zum 01.08.2022 Verträge über eine private Schweizer Krankenversicherung abgeschlossen. Auch haben die Eltern Anmeldungen der Kinder zum Turnverein in … vorgelegt, die allerdings undatiert und nicht unterschrieben sind. Schließlich führten die Kinder mit der Verfahrensbeiständin eine virtuelle Wohnungsführung durch.
[15]Gleichwohl geht der Senat in Übereinstimmung mit dem Amtsgericht Überlingen davon aus, dass kein gewöhnlicher Aufenthalt der Kinder in der Schweiz begründet wurde. Es bestehen bereits in tatsächlicher Hinsicht Zweifel, ob die Kinder sich für einen längeren Zeitraum in … aufhielten, da zwei Zimmer für eine vierköpfige Familie auf Dauer keine geeignete Unterkunft darstellen dürften. In diesem Zusammenhang ist auch die Vorgeschichte zu berücksichtigen, bei der die Eltern den Behörden gegenüber eine nicht existente Adresse in … angaben, um ihre gewünschten melderechtlichen Ziele zu erreichen. Es ist in Anbetracht des zeitlichen Zusammenhangs mit den Ladungen zu den Anhörungen im Rahmen des erstinstanzlichen Verfahrens vielmehr naheliegend, dass der Untermietvertrag nur zum Schein und mit dem Ziel der Irreführung der deutschen Behörden und Gerichte abgeschlossen wurde. Hierfür spricht auch, dass die Firma „…“ dem Gericht schon zeitlich vor Abschluss des Untermietvertrages mitgeteilt hat, die Familie sei in die Schweiz verzogen. Zudem wurden beide Eltern auch zu späteren Zeitpunkten noch von Zeugen häufiger in … gesehen und die Gemeinde … erklärte, es gebe keine Anhaltspunkte für einen tatsächlichen Aufenthalt der Familie im dortigen Bezirk. Im Rahmen der angeordneten Vorführung und Durchsuchung Anfang November 2022 wurden die Eltern darüber hinaus in ihrem Anwesen in … angetroffen. Bei der Suche nach der Mutter, die sich in der Sauna versteckt hatte, konnte der Gerichtsvollzieher sich einen Eindruck vom Inneren des Hauses verschaffen und beschrieb dieses als bewohnt, das Kinderzimmer sei unaufgeräumt gewesen und es hätten Spielsachen herumgelegen. Dies legt nahe, dass die Kinder nach Juni 2022 ihren Lebensmittelpunkt weiterhin in … hatten.
[16]Aus dem Umstand, dass die Kinder seit August 2022 die „…“ besuchen, können keinerlei Rückschlüsse auf den tatsächlichen Aufenthaltsort der Kinder geschlossen werden, da es sich hierbei um eine vollständig digitale Lerneinrichtung handelt, die von den Kindern an jedem Ort mit Internetempfang - auch in Deutschland - genutzt werden kann.
[17]Zudem konnten die Kinder einen auf Dauer ausgerichteten Lebensmittelpunkt in ... schon aus rechtlichen Gründen nicht begründen. Da eine melderechtliche Anmeldung in … durch die Behörden verweigert wurde, war es der Familie nach ihrem eigenen Vorbringen nicht möglich, dort länger als 90 Tage zu wohnen. Sie mussten dann jeweils die Schweiz verlassen und sich an einem anderen Ort niederlassen. Die für einen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des Art. 5 KSÜ erforderliche Dauerhaftigkeit wird hierdurch nicht erfüllt. Der bisherige gewöhnliche Aufenthalt in … blieb damit bestehen.
[18]c) Die kurz nach Erlass der erstinstanzlichen Entscheidung - und vor Beschwerdeerhebung - erfolgte Anmietung der Wohnung in Österreich durch die Firma „…“ zur Wohnnutzung durch die Familie ließ die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte nicht entfallen, da insoweit - wie bereits dargelegt - gemäß Art. 8 Abs. 1 Brüssel IIa-VO und Art. 7 Abs. 1 Brüssel IIb-VO die in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union geltenden Grundsätze der „perpetuatio fori“ Anwendung finden. Es bedarf daher keiner weiteren Überprüfung, in welchem Umfang die Kinder tatsächlich in … aufhältig waren und ob dort angesichts der Pläne, in die Schweiz auszuwandern, nach dem Willen der Eltern wirklich ein dauerhafter Lebensmittelpunkt begründet werden sollte.
[19]d) Während des laufenden Beschwerdeverfahrens haben die Kinder jedoch am 01.06.2023 einen auf Dauer angelegten gewöhnlichen Aufenthalt in der Schweiz begründet, so dass zu diesem Zeitpunkt gemäß Art. 5 Abs. 2 KSÜ die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte entfallen ist. Die Eltern haben am 01.06.2023 für vier Personen einen Mietvertrag für eine 4,5 Zimmerwohnung zu einem monatlichen Mietzins einschließlich Nebenkosten von 1.565 CHF abgeschlossen. Als Mietbeginn wurde der 01.06.2023 festgelegt und eine dreimonatige Kündigungsfrist vereinbart, wobei der Vertrag erstmals auf den 30.06.2024 kündbar ist. Als Sicherheitsleistung wurde ein Mietzinsdepot von 4.700 CHF vereinbart. Diese erheblichen und langfristigen finanziellen Verpflichtungen sowie die erfolgreiche Abmeldung in … und die Anmeldung in … sowie die Anmeldung der beiden Kinder zu Gruppen-Reitstunden in … mit einer Monatspauschale von 225 CHF ab 01.06.2023 belegen, dass zum 01.06.2023 ein auf Dauer angelegter Wohnsitzwechsel von Deutschland in die Schweiz vorgenommen wurde.
[20]e) Da zum Zeitpunkt der erstinstanzlichen Entscheidung eine internationale Zuständigkeit bestand und diese im Laufe des Beschwerdeverfahrens entfallen ist, bleibt gemäß Art. 14 KSÜ die erstinstanzliche Entscheidung bestehen. Diese Regelung soll gewährleisten, dass nicht durch ein Entfallen der Schutzmaßnahmen des alten Zuständigkeitsstaates eine Schutzlücke entsteht, bis die Behörden des neuen Zuständigkeitsstaates aktiv geworden sind. Erstinstanzliche Maßnahmen sind in diesem Sinne auch dann als getroffen anzusehen, wenn sie noch einem Rechtsmittel unterliegen. Entscheidend ist nach dem Sinn und Zweck des Art. 14 KSÜ, ob sie - wie hier - wirksam geworden sind. An die Stelle der Überprüfung im Beschwerdeverfahren tritt die Möglichkeit der Beteiligten, durch geeignete Antragstellung im Staat des nunmehr gewöhnlichen Aufenthalts gemäß Art. 15 Abs. 3 KSÜ eine diese ändernde, ersetzende oder aufhebende Maßnahme zu erwirken (OLG Karlsruhe vom 22.03.2017 –
[21]3. ...