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Verfahrensgang

ArbG Düsseldorf, Urt. vom 11.03.2021 – 10 Ca 5972/20
ArbG Düsseldorf, Urt. vom 15.03.2021 – 6 Ca 5965/20
LAG Düsseldorf, Urt. vom 05.04.2022 – 3 Sa 364/21, IPRspr 2022-235
BAG, Sonstige: Vergleich vom 14.05.2024 – 2 AZR 292/22

Rechtsgebiete

Zuständigkeit → Versicherungs-, Verbraucher-, Arbeitsgerichtsstand
Allgemeine Lehren → Rechtswahl
Arbeitsrecht → Individualarbeitsrecht

Leitsatz

Die Derogation eines durch Rechtswahl zur Anwendung berufenen ausländischen Rechts (hier: österreichisches Recht) durch eine nachträgliche Änderung dieser Vereinbarung zugunsten des deutschen Rechts ist möglich. Anhaltspunkte für eine Unwirksamkeit dieser Vereinbarung auf der Grundlage des gewählten deutschen Rechts nach Art. 3 Abs. 5 Rom I-​VO iVm. Art. 10 Abs. 1 Rom I-​VO bestehen nicht. [LS der Redaktion]

Rechtsnormen

ArbGG § 64; ArbGG § 66
EuGVVO 1215/2012 Art. 1; EuGVVO 1215/2012 Art. 20; EuGVVO 1215/2012 Art. 21; EuGVVO 1215/2012 Art. 66
KSchG § 4; KSchG § 7; KSchG § 13
Rom I-VO 593/2008 Art. 3; Rom I-VO 593/2008 Art. 8; Rom I-VO 593/2008 Art. 10; Rom I-VO 593/2008 Art. 12
ZPO § 520

Sachverhalt

Bei der Beklagten zu 1) handelte es sich um ein Flugunternehmen mit Sitz in T. (P.). Alleingesellschafterin war die irische S. Holdings PLC. Die im Jahr 2020 neu gegründete Beklagte zu 2) hat ihren Sitz in N. und ist ebenfalls eine Fluggesellschaft der S. Gruppe. Ihre alleinige Gesellschafterin ist die H. Holding Limited, deren Alleingesellschafterin wiederum die S. Holdings PLC ist. Der am ... 1970 geborene Kläger war bei der Beklagten zu 1) seit 2018 in einem Arbeitsverhältnis beschäftigt, seit dem 2019 als Kapitän (Commander) gegen ein durchschnittliches Monatsbruttogehalt von zuletzt ... EUR an der Basis R. Grundlage des Arbeitsverhältnisses war zunächst der Arbeitsvertrag vom xx.xx.2018 (Blatt 20 f. der Akte). An diesen schloss sich der Vertrag vom xx.xx.2019 an (Anlage K2, Blatt 22 ff. der Akte), der unter anderem unter Ziffer 13 (5) bestimmte, dass das Arbeitsverhältnis ausschließlich österreichischem Recht unterliegt und unter Ziffer 11 (1) den österreichischen Kollektivvertrag der Angestellten der M. GmbH für anwendbar erklärte. Infolge der Ausbreitung der Covid19-​Pandemie setzte die Beklagte zu 1) den Flugverkehr an den deutschen Standorten von Mitte März bis Ende Juni 2020 vollständig aus. Im Mai 2020 nahm die Beklagte zu 1) Tarifverhandlungen mit der Gewerkschaft ver.di auf, welche nach ihren Angaben der Sicherung der Basis in R. dienen sollten. Parallel zu den Verhandlungen mit ver.di forderte die Beklagte zu 1) ihre in R. eingesetzten Piloten per E-​Mail auf, individuell dem "Eckpunktepapier für in Deutschland stationierte Piloten" zuzustimmen, um den Standort R. vor einer Schließung zu bewahren. In dem genannten Eckpunktepapier heißt es: "[...] Ab dem 1. Juli 2020 wird M. das deutsche Arbeitsrecht auf alle in Deutschland direktangestellten Piloten von M. anwenden. [...]" Mit Schreiben vom 10.09.2020 kündigte die Beklagte zu 1) nach Erstattung einer Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit Düsseldorf (Bl. 172 ff. der Akte) die Arbeitsverhältnisse der in Deutschland beschäftigten Mitarbeiter. Ebenfalls mit Schreiben vom 10.09.2020 sprach die Beklagte zu 2) nach Erstattung einer Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit Düsseldorf (Blatt 172 ff. der Akte 6 Ca 5965/20 - ArbG Düsseldorf) Kündigungen gegenüber denjenigen Beschäftigten der Station R. aus. Mit Schreiben der Beklagten zu 1) vom 02.11.2020 (Anlage K 11, Blatt 137 f. der Akte), dem Kläger zugegangen am xx.xx.2020, kündigte diese das Arbeitsverhältnis außerordentlich fristlos mit sofortiger Wirkung. Die Beklagte zu 2) kündigte das Arbeitsverhältnis gleichfalls mit dem Kläger am 02.11.2020 zugegangenem Schreiben vom xx.xx.2020 (Anlage K 13, Blatt 139 f. der Akte 6 Ca 5965/20 - ArbG Düsseldorf) außerordentlich fristlos mit sofortiger Wirkung.

Mit seiner im Oktober 2020 bei dem Arbeitsgericht Düsseldorf eingegangenen und mit am xx.11.2020 bei Gericht eingegangenem Schriftsatz vom selben Tage hinsichtlich der außerordentlichen Kündigung erweiterten Klage hat sich der Kläger gegen die Kündigungen der Beklagten zu 1) vom 10.09. und 02.11.2020 gewandt. Mit einer ebenfalls im Oktober 2020 bei dem Arbeitsgericht Düsseldorf eingegangenen und der Beklagten zu 2) am xx.10.2020 zugestellten sowie gleichfalls mit am xx.11.2020 bei Gericht eingegangenem Schriftsatz vom selben Tage hinsichtlich der außerordentlichen Kündigung erweiterten Klage hat sich der Kläger gegen die Kündigungen der Beklagten zu 2) vom 10.09. und 02.11.2020 gewandt (- 6 Ca 5965/20 -). Der Kläger beantragt in den jeweiligen Prozessen unter anderem festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen ihm und der Beklagten zu 1) bzw. der Beklagten zu 2) durch die außerordentliche Kündigung vom 02.11.2020, zugegangen am 05.11.2020, und durch die ordentliche Kündigung vom 10.09.2020 mit Ablauf des 31.12.2020 nicht aufgelöst worden ist. Mit Urteil vom 11.03.2021 hat das Arbeitsgericht im Rechtsstreit 10 Ca 5972/20 der gegen die Beklagte zu 1) gerichteten Klage zum Klageantrag Ziffer 1 stattgegeben und sie im Übrigen abgewiesen. Gegen das beiden Parteien zugestellte Urteil hat der Kläger am im April 2021 Berufung eingelegt und diese begründet. Die Berufungsbegründung ist der Beklagten zu 1) zugestellt worden. Nach erfolgter Verlängerung der Berufungserwiderungsfrist hat sie mit beim Landesarbeitsgericht am 27.08.2021 eingegangenem Schriftsatz Anschlussberufung eingelegt und diese zugleich begründet. Mit Urteil vom 15.03.2021 hat das Arbeitsgericht im Rechtsstreit 6 Ca 5965/20 der gegen die Beklagte zu 2) gerichteten Klage zum Klageantrag Ziffer 1 stattgegeben und sie im Übrigen abgewiesen. Gegen das Urteil hat der Kläger im Mai 2021 Berufung eingelegt und diese begründet. Die Berufungsbegründung ist der Beklagten zu 2) zugestellt worden. Nach erfolgter Verlängerung der Berufungserwiderungsfrist hat sie mit beim Landesarbeitsgericht am 16.09.2021 eingegangenem Schriftsatz Anschlussberufung eingelegt und diese zugleich begründet.

Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]A.

[2]Die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte folgt aus Art. 66 Abs. 1, 20 Abs. 1, 21 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 (EUGVVO). Es handelt sich bei den arbeitsgerichtlichen Klagen um zivilrechtliche Streitigkeiten iSv. Art. 1 Abs. 1 Satz 1 EUGVVO (BAG 07.05.2020 - 2 AZR 692/19 (IPRspr 2020-142) - juris RN 16). Der für die Anwendung der EUGVVO erforderliche Auslandsbezug besteht, weil die Beklagten ihren Sitz in einem anderen Mitgliedstaat haben. Als Arbeitgeber mit Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats können sie in einem anderen Mitgliedstaat vor dem Gericht des Ortes, an dem oder von dem aus ihr Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet oder zuletzt gewöhnlich verrichtet hat, verklagt werden (Art. 20 Abs. 1, 21 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i EUGVVO). Der Kläger hat seine Arbeit für die Beklagte zu 1) von R. aus verrichtet. Er hat von dort aus seine Flugdienste regelmäßig begonnen und dort wieder beendet. Entsprechendes sollte auch für seine Arbeit bei der Beklagten zu 2) gelten. Da er für diese noch keine Arbeit verrichtet hat, sind bereits aus diesem Grund die Voraussetzungen des Art. 21 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i EUGVVO erfüllt (EuGH 25.02.2021 - C-​804/19 [Markt24] - RN 39 ff.).

[3]B.

[4]Die Berufungen des Klägers sind zulässig, insbesondere bereits vor der Verbindung der Rechtsstreite unter Beachtung der Vorgaben der §§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG in Verbindung mit § 520 ZPO form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Gleichfalls zulässig, weil form- und fristgerecht innerhalb der Berufungserwiderungsfrist eingelegt und begründet worden sind die Anschlussberufungen beider Beklagten.

[5]C.

[6]Die nach der Verbindung nunmehr einheitliche Berufung ist auch in der Sache begründet, wohingegen die Anschlussberufungen unbegründet sind. Die zulässigen und form- und fristgerecht im Sinne der §§ 13, 4, 7 KSchG erhobenen Klagen sind insgesamt begründet, weil die außerordentlichen Kündigungen der Beklagten vom 02.11.2020 mangels hinreichenden Kündigungsgrundes und die ordentlichen Kündigungen vom 10.09.2020 mangels hinreichender Bestimmtheit unwirksam sind.

[7]1. Auf die Arbeitsverhältnisse des Klägers zu den Beklagten findet aufgrund der von ihnen getroffenen Rechtswahl gemäß Art. 3 Abs. 1, 8 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 593/2008 (Rom I-​VO) deutsches Recht Anwendung. Gemäß Art. 12 Abs. 1 lit. d Rom I-​VO folgen die Regelungen über das Erlöschen von Verpflichtungen aus einem Vertrag und somit auch das Recht seiner Kündigung einschließlich des allgemeinen Kündigungsschutzes grundsätzlich dem Recht des Staates, das auf den Arbeitsvertrag Anwendung findet (BAG 24.08.1989 - 2 AZR 3/89 (IPRspr. 1989 Nr. 72) -).

[8]Im Eckpunktepapier haben der Kläger und die Beklagte zu 1) Anfang Juli 2020 die in ihrem ursprünglichen Arbeitsvertrag vereinbarte Anwendung österreichischen Rechts zugunsten des deutschen Rechts derogiert. Im Eckpunktepapier ist u. a. vereinbart, dass die Beklagte zu 1) ab dem 01.07.2020 das deutsche Arbeitsrecht auf alle ihre in Deutschland direkt angestellten Piloten anwendet. Zudem wurde in den Anfang Juli 2020 zwischen dem Kläger und der Beklagten zu 1) gewechselten E-​Mails vereinbart, dass das Eckpunktepapier ab dem 01.07.2020 die bisherigen Bedingungen und Konditionen ersetzt bzw. an deren Stelle tritt. Art. 3 Abs. 2 Satz 1 Rom I-​VO gestattet es den Parteien, eine einmal getroffene Rechtswahl jederzeit wieder abzuändern (MüKoBGB/Martiny, 8. Aufl. 2021, Rom I-​VO Art. 3 RN 77; BeckOGK/Wendland, Stand 01.09.2021, Rom I-​VO Art. 3 RN 202). Anhaltspunkte für eine Unwirksamkeit dieser ändernden Rechtswahlvereinbarung auf der Grundlage des gewählten deutschen Rechts (Art. 3 Abs. 5 Rom I-​VO iVm. Art. 10 Abs. 1 Rom I-​VO; s.a. BeckOGK/Wendland, Stand 01.09.2021, Rom I-​VO Art. 3 RN 209) bestehen nicht, wobei im Hinblick auf den gewöhnlichen Aufenthaltsort des Klägers in Deutschland davon gemäß Art. 10 Abs. 2 Rom I-​VO keine Abweichung veranlasst ist. Das deutsche Recht sieht im Übrigen für abändernde Rechtswahlklauseln keine Form vor (BGH 22.01.1997 - VII ZR 339/95 - RN 31; BeckOK/Spickhoff, Stand 01.08.2021 VO (EG) 593/2008 Art. 3 RN 33). Die Rechtswahl entspricht dabei im Hinblick auf den vereinbarten Einsatzort des Klägers in R. außerdem der objektiven Anknüpfung gemäß Art. 8 Abs. 2 ROM I-​VO (in diesem Sinne wohl BAG 20.12.2012 - 2 AZR 481/11 (IPRspr 2012-201) -; EuGH 14.09.2017 - C-​168/16 -; HWK/Tillmanns 9. Aufl. Rom I-​VO Art. 9 RN 19 mwN). Eine gesonderte Klauselkontrolle für vorformulierte Rechtswahlklauseln kommt nicht in Betracht. Insoweit wird über Art. 8 I Rom I-​VO ein spezifisch kollisionsrechtlicher Schutz vor den Folgen einer Rechtswahl verwirklicht (ErfK/Schlachter, 22. Aufl. 2022, Art. 3, 8, 9 VO (EG) 593/2008 RN 6).

[9]Auch die Wirksamkeit der Kündigungen der Beklagten zu 2) beurteilt sich nach deutschem Recht. Insoweit gilt im Ergebnis nichts anderes als für die Kündigungen der Beklagten zu 1). Der Kläger und die Beklagte zu 2) haben auf der Grundlage des Schreibens vom 20.08.2020 ein Arbeitsverhältnis zu denselben Bedingungen und Konditionen vereinbart, wie sie in dem Arbeitsverhältnis mit der Beklagten zu 1) bestanden. Dazu gehört auch die im Eckpunktepapier getroffene Rechtswahl. Demgemäß gilt deutsches Recht auch im Verhältnis des Klägers zur Beklagten zu 2).

[10]Unabhängig von Vorstehendem gehen die Parteien in beiden Tatsacheninstanzen in den von ihnen angeführten Rechtsgrundlagen übereinstimmend von der Anwendbarkeit deutschen Rechts aus (vgl. zu einer - gemäß Art. 3 Abs. 2 Rom I-​VO auch nachträglich möglichen - Rechtswahl BGH 19.01.2000 - VIII ZR 275/98 (IPRspr. 2000 Nr. 20) - RN 28; BGH 09.06.2004 - I ZR 266/00 (IPRspr 2004-44) - RN 36 mwN; BeckOGK/Wendland, Stand 01.09.2021, Rom I-​VO Art. 3 RN 131 ff; 179 ff.; zur stillschweigenden nachträglichen Rechtswahl Ferrari, Internationales Vertragsrecht, 3. Aufl. 2018, VO (EG) 593/2008 Art. 3 RN 43). Hiermit ist im Übrigen auch ein etwaiges Schriftformerfordernis für den Wechsel aus dem österreichischen Vertrag stillschweigend abbedungen (vgl. dazu BeckOGK/Wendland Stand 01.09.2021, Rom I-​VI Art. 3 RN 210; sogar für eine mögliche Heilung ursprünglicher Formnichtigkeit durch Statutenwechsel Ferrari, Internationales Vertragsrecht, 3. Aufl. 2018, VO (EG) 593/2008 Art. 3 RN 46; MüKoBGB/Martiny, 8. Aufl. 2021, Rom I-​VO Art. 3 RN 81).

[11]2. ...

Fundstellen

Bericht

Eufinger, GWR, 2023, 145

nur Leitsatz

NZA-RR, 2023, 195

Permalink

https://iprspr.mpipriv.de/2022-235

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