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Verfahrensgang

BAG, Urt. vom 20.12.2012 – 2 AZR 481/11, IPRspr 2012-201

Rechtsgebiete

Zuständigkeit → Besonderer Vertragsgerichtsstand

Leitsatz

Der gewöhnliche Arbeitsort einer Flugzeugkapitänin im Sinne von Art. 19 Nr. 2 lit. a EuGVO befindet sich an einer vom Arbeitgeber eingerichteten „Crew-Base“, wenn sie dort an einem eingerichteten Arbeitsplatz die Vor- und Nachbereitung der von ihr durchgeführten Flüge vornimmt, die ihre Tätigkeit betreffenden Weisungen entgegennimmt und ihre Flüge durchführt und beendet. [LS der Redaktion]

Rechtsnormen

AEUV Art. 267
EUGVVO 44/2001 Art. 1; EUGVVO 44/2001 Art. 5; EUGVVO 44/2001 Art. 18; EUGVVO 44/2001 Art. 18 f.; EUGVVO 44/2001 Art. 18 ff.; EUGVVO 44/2001 Art. 19; EUGVVO 44/2001 Art. 21; EUGVVO 44/2001 Art. 23; EUGVVO 44/2001 Art. 60
EuGVÜ Art. 5

Sachverhalt

[Das vorgehende Urteil des Sächsischen LAG vom 16.12.2010 – 6 Sa 359/10 – wurde bereits in IPRspr. 2010 unter der Nr. 208 abgedruckt.]


Die Parteien streiten im Rahmen eines Kündigungsschutzverfahrens über die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichtsbarkeit. Die Kl. war bei der Bekl. und deren Rechtsvorgängerin (nachfolgend EAT), seit Januar 2008 als Flugkapitänin beschäftigt. Bei EAT handelte es sich um eine Gesellschaft belgischen Rechts mit Sitz in Z./Belgien. Sie führte Charterflüge für andere Luftfrachtgesellschaften durch. Mit Eintragung vom 26.3.2010 wurde sie auf die Bekl. verschmolzen. Zwischen der Kl. und EAT wurde 2007 ein Arbeitsvertrag in flämischer Sprache mit englischer Übersetzung geschlossen, welcher eine Gerichtsstandsvereinbarung zugunsten der Gerichte am Betriebssitz des Arbeitgebers enthielt. Eine entspr. Klausel enthielt auch das zwischen EAT und der Kl. 2008 geschlossene „Addendum“ zum Arbeitsvertrag. Ursprünglich wickelte EAT den Charterverkehr mit in Belgien registrierten Flugzeugen vom Flughafen Br. aus ab. Seit April 2008 betrieb sie eine sog. Crew Base am Flughafen L. Sie richtete dort Büroräumlichkeiten mit Computerarbeitsplätzen für die Piloten ein, in denen diese die Dienstvorbereitungen treffen und Nachbereitungen durchführen konnten. Die Kl. kam dort ihren Dokumentationspflichten nach, führte dort das Briefing mit dem Copiloten durch, prüfte die Wetterlage, entschied über die Betankung des Flugzeugs und traf alle erforderlichen Flugvorbereitungen. Sie führte von L. aus Flüge zu Zielflughäfen überwiegend in Europa durch. Die Flugzeiten betrugen täglich regelmäßig zwei bis vier Stunden. Die Einsätze endeten jeweils in L. Dort hielt sich die Kl. auch während ihrer Bereitschaftsdienstzeiten auf. Im Jahr 2009 kündigte EAT das Arbeitsverhältnis mit der Kl. außerordentlich. Mit ihrer vor dem ArbG erhobenen Klage ging die Kl. gegen die Kündigung vor und begehrte die Feststellung des Fortbestehens des Arbeitsverhältnisses. Die Bekl. hat die internationale Unzuständigkeit der deutschen Gerichte gerügt.

Das ArbG hat mit Zwischenurteil auf die Zulässigkeit der Klage erkannt. Das LAG hat die dagegen gerichtete Berufung der Bekl. zurückgewiesen. Mit ihrer vom Senat zugelassenen Revision verfolgt die Bekl. den Antrag weiter, die Klage abzuweisen.

Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]Die Revision ist unbegründet. Das LAG hat die Klage im Ergebnis zu Recht als zulässig angesehen. Die deutschen Gerichte sind international zuständig. Dies kann der Senat ohne Anrufung des EuGH nach Art. 267 AEUV entscheiden ...

[2]III. Ob sich der Wohnsitzgerichtsstand nach Art. 19 Nr. 1 EuGVO allein nach den Verhältnissen bei Klageerhebung richtet, wie die Bekl. meint, oder ob Veränderungen der maßgeblichen Umstände noch später zuständigkeitsbegründend wirken können, bedarf keiner abschließenden Klärung. Die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte folgt jedenfalls aus Art. 19 Nr. 2 lit. a EuGVO (1.). Es bedarf deshalb keiner Entscheidung, ob im Streitfall auch der Gerichtsstand der Niederlassung nach Art. 5 Nr. 5 i.V.m. Art. 18 I EuGVO zur internationalen Zuständigkeit der deutschen Gerichte führte. Die Vereinbarung der Parteien über eine ausschließliche Zuständigkeit belgischer Gerichte ist gemäß Art. 23 V EuGVO unwirksam (2.).

[3]1. Die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte folgt aus dem Gerichtsstand des gewöhnlichen Arbeitsorts der Kl. im Sinne von Art. 19 Nr. 2 lit. a EuGVO. Für diese Beurteilung bedarf es keines Vorabentscheidungsersuchens an den EuGH nach Art. 267 AEUV. Die Auslegung des Begriffs des ‚Ortes, an dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet’, ist durch Entscheidungen des EuGH geklärt. Die Anwendung einer Bestimmung des Unionsrechts auf den konkreten Rechtsstreit obliegt dem nationalen Gericht (vgl. EuGH, 15.12.2011 – Voogsgeerd: Jan Voogsgeerd ./. Navimer S.A., Rs C-384/10 Rz. 30, SEzA EG-Vertrag 1999 Verordnung 593/2008 Nr. 2).

[4]a) Die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte richtet sich im Streitfall nach der EuGVO. Diese ist seit ihrem Inkrafttreten am 1.3.2002 in allen ihren Teilen verbindlich, gilt unmittelbar und geht nationalem Recht im Rang vor (BAG, 27.1.2011 – 2 AZR 646/09 (IPRspr 2011-185) Rz. 14 f., BAGE 137, 71; 24.9.2009 – 8 AZR 306/08 (IPRspr 2009-184) Rz. 26 m.w.N., BAGE 132, 182). Gemäß ihrem Art. 1 ist sie mit Ausnahme einiger ausdrücklich angegebener Rechtsbereiche auf alle Rechtsstreitigkeiten in Zivil- und Handelssachen anzuwenden. Die Bekl. unterfällt ihren Bestimmungen, weil sie ihren Sitz in der Bundesrepublik Deutschland und damit in einem EU-Mitgliedstaat hat. Nach Art. 60 I EuGVO haben Gesellschaften und juristische Personen ihren Wohnsitz an dem Ort, an dem sich ihr satzungsmäßiger Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung befindet. Das ist hier L. Käme es, wie die Bekl. meint, auf den Sitz ihrer Rechtsvorgängerin bei Klageerhebung an, änderte sich an der Anwendbarkeit der EuGVO nichts. Diese hatte ihren Sitz im EU-Mitgliedstaat Belgien.

[5]b) Da Gegenstand des Verfahrens Ansprüche sind, die aus einem individuellen Arbeitsvertrag abgeleitet werden, bestimmt sich die internationale Zuständigkeit nach Kap. II Abschn. 5 der EuGVO. Maßgebend sind danach Art. 18 ff., soweit darin nicht auf andere Vorschriften der EuGVO verwiesen wird (EuGH, 19.7.2012 – Mahamdia: Ahmed Mahamdia ./. République algérienne démocratique et polpulaire, Rs C-154/11 Rz. 38, EzA EG-Vertrag 1999 Verordnung 44/2001 Nr. 7; 22.5.2008 – Glaxosmithkline: Glaxosmithkline u. Laboratoires Glaxosmithkline ./. Jean-Pierre Rouard, Rs C-462/06 Rz. 19, Slg. 2008, I-03965; BAG, 27.1.2011 aaO Rz. 17).

[6]c) Die in den Vorschriften der EuGVO über die Zuständigkeit für Arbeitsverträge enthaltenen Begriffe sind in Übereinstimmung mit den Kriterien auszulegen, die der EuGH zu den gleichlautenden Begriffen im EuGVÜ entwickelt hat (vgl. EuGH 19.7.2012 aaO Rz. 47). Für die Bestimmung des nach Art. 19 Nr. 2 lit. a EuGVO maßgebenden Orts, ‚an dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet’, ist damit auf das Verständnis des identischen Begriffs in Art. 5 Nr. 1 EuGVÜ (BAG 27.1.2011 aaO Rz. 21). Für dieses Verständnis wiederum ist das Ziel der Regelung zu berücksichtigen, dem Arbeitnehmer als der schwächeren Vertragspartei einen angemessenen Schutz zu gewährleisten (vgl. EuGH 19.7.2012 aaO Rz. 46 m.w.N.). Ein solcher Schutz ist größer, wenn Streitigkeiten aus einem Arbeitsvertrag in die Zuständigkeit der Gerichte des Orts fallen, an dem der Arbeitnehmer seine Verpflichtungen gegenüber dem Arbeitgeber faktisch erfüllt. An diesem Ort kann sich der Arbeitnehmer mit dem geringsten Kostenaufwand aktiv an die Gerichte wenden oder sich vor ihnen als Beklagter zur Wehr setzen (EuGH, 13.7.1993 – Mulox IBC: Mulox IBC Ltd. ./. Hendrick Geels, Rs C-125/92 Rz. 19, Slg. 1993, I-04075).

[7]aa) Unter dem Ort, an dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet, ist der Ort zu verstehen, an dem er die mit seinem Arbeitgeber vereinbarten Tätigkeiten tatsächlich ausübt (EuGH, 10.4.2003 – Pugliese: Giulia Pugliese ./. Finmeccanica S.p.A., Rs C-437/00 Rz. 19 m.w.N., Slg. 2003, I-03573). Erfüllt er die Verpflichtungen aus seinem Arbeitsvertrag in mehreren Mitgliedstaaten, ist dies der Ort, an dem oder von dem aus er unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls den wesentlichen Teil seiner Verpflichtungen gegenüber seinem Arbeitgeber tatsächlich erfüllt (EuGH 10.4.2003 aaO; 27.2.2002 – Weber: Herbert Weber ./. Universal Ogden Services Ltd., Rs C-37/00 Rz. 58, Slg. 2002, I-02013; 9.1.1997 – Rutten: Petrus Wilhemus Rutten ./. Cross Medical Ltd., Rs C-383/95 Rz. 23, Slg. 1997, I-00057; 13.7.1993 aaO Rz. 26).

[8]bb) Eine hiervon abweichende Regelung für Flugzeugführer oder Flugzeugpersonal gibt es nicht. Insbesondere enthält die VO (EG) Nr. 1008/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates über gemeinsame Vorschriften für die Durchführung von Luftverkehrsdiensten in der Gemeinschaft vom 24.9.2008 (ABl. Nr. L 293/3) keine Regelungen zur Bestimmung des gewöhnlichen Arbeitsorts von Flugpersonal.

[9]d) Bei Anwendung dieser Grundsätze war im Streitfall die ‚Crew Base’ in L. der gewöhnliche Arbeitsort der Kl. im Sinne von Art. 19 Nr. 2 lit. a EuGVO. Dort bzw. von dort aus hat sie den wesentlichen Teil ihrer Verpflichtungen gegenüber der EAT tatsächlich erfüllt.

[10]aa) Die Kl. hat ihre Tätigkeit in mehreren Mitgliedstaaten ausgeübt. Zu ihren wesentlichen Aufgaben als Flugkapitänin gehörten neben dem Fliegen auch die Vor- und Nachbereitung der von ihr durchgeführten Flüge.

[11]bb) Die Kl. hat seit ihrer Versetzung an die ‚Base’ in L. im April 2008 und damit während der überwiegenden Zeit der Dauer ihres Arbeitsverhältnisses ihre Arbeit dort aufgenommen und beendet. Sie hat die ihre Tätigkeit betreffenden Weisungen in L. entgegengenommen, hat ihre Flüge von dort aus durchgeführt und hat sie dort beendet. Zugunsten der Bekl. kann unterstellt werden, dass die der Kl. erteilten Weisungen von Z. aus erfolgten. Das ist für die Bestimmung des gewöhnlichen Arbeitsorts der Kl. ohne Bedeutung.

[12]cc) In L. begannen und endeten nicht nur die Flugeinsätze der Kl. Sie führte dort auch die Vor- und Nachbereitung der Flüge, insbes. sicherheitsrelevante Vorbereitungen durch. Dafür stand ihr auf der ‚Base’ in L. ein eingerichteter Arbeitsplatz zur Verfügung. Hinzu kommt, dass sie sich auch während ihres Bereitschaftsdienstes auf der ‚Base’ oder in deren unmittelbarer Nähe aufzuhalten hatte.

[13]dd) Demgegenüber fällt der jeweilige Registerstaat der Flugzeuge nicht entscheidend ins Gewicht. Es kann dahinstehen, ob für Flugpersonal eine Anknüpfung an den Registerstaat für die Bestimmung des gewöhnlichen Arbeitsorts im Sinne von Art. 19 Nr. 2 lit. a EuGVO überhaupt in Betracht kommt (bejahend Geimer-Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht, 3. Aufl., Art. 19 EuGVVO Rz. 19). Im Streitfall gäbe selbst dann die enge Anbindung der von der Kl. ausgeübten Tätigkeiten an die ‚Base’ in L. gegenüber dem Registerstaat der von ihr geflogenen Flugzeuge den Ausschlag.

[14]2. Die Vereinbarung des ausschließlichen Gerichtsstands am Sitz der EAT im Arbeitsvertrag vom 12.12.2007 und sodann der Gerichte im Bezirk Br. im Addendum vom 24.4.2008 vermag die nach Art. 19 Nr. 2 lit. a EuGVO gegebene internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte nicht auszuschließen. Da sie den Vorschriften in Art. 21 EuGVO zuwiderläuft, hat sie gemäß Art. 23 V EuGVO keine rechtliche Wirkung.

[15]a) Nr. 9 des Arbeitsvertrags und Nr. 7 des Addendums enthalten eine Gerichtsstandsvereinbarung, nach der ‚nur’ – in den flämischen Originalfassungen: ‚alleen’ – und damit ausschließlich die Gerichte am Sitz der Rechtsvorgängerin der Bekl. bzw. im Bezirk Br. zuständig sein sollen.

[16]b) Diese Vereinbarung ist gemäß Art. 23 V EuGVO unwirksam.

[17]aa) Eine Gerichtsstandsvereinbarung läuft im Sinne von Art. 23 V EuGVO den Regelungen in Art. 21 EuGVO zuwider, wenn sie von Vorschriften des 5. Abschn. der EuGVO abweicht und nicht nach Entstehung des Rechtsstreits getroffen worden ist (Art. 21 Nr. 1 EuGVO) oder nicht die Befugnis einräumt, andere als im 5. Abschn. angeführte Gerichte anzurufen (Art. 21 Nr. 2 EuGVO). Die Befugnis, andere Gerichte anzurufen als diejenigen, die nach den Vorschriften des 5. Abschn. zuständig sind, ist dahin zu verstehen, dass eine solche Vereinbarung Gerichtsstände begründen muss, die zu den in Art. 18 und 19 der EuGVO vorgesehenen Gerichtsständen noch hinzukommen. Eine vor Entstehung der Streitigkeit getroffene Gerichtsstandsvereinbarung darf für einen Arbeitnehmer nicht den Ausschluss der zuletzt genannten Gerichtsstände bewirken, sondern kann lediglich die Befugnis begründen oder erweitern, unter mehreren zuständigen Gerichten zu wählen (EuGH 19.7.2012 aaO Rz. 62).

[18]bb) Die Gerichtsstandsvereinbarung der Parteien im Arbeitsvertrag und im Addendum weicht von den Vorschriften des 5. Abschn. der EuGVO ab, auch wenn sie ursprünglich möglicherweise nur den nach Art. 18, 19 EuGVO einzig gegebenen Gerichtsstand nachgezeichnet und mit einer Veränderungssperre belegt hat. Sie wurde vor Entstehung der Streitigkeit getroffen und sollte gerade für den Fall eine Beschränkung auf die genannten Gerichtsstände herbeiführen, dass diese nach einer Verlegung des Sitzes und/oder des Arbeitsorts mit den nach Art. 18, 19 EuGVO gegebenen Gerichtsständen – wie im Streitfall – nicht mehr übereinstimmten.

Fundstellen

nur Leitsatz

AuR, 2013, 329
BB, 2013, 1460
DB, 2013, 1856

LS und Gründe

NZA, 2013, 925
RIW, 2013, 565

Permalink

https://iprspr.mpipriv.de/2012-201

Lizenz

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