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Verfahrensgang

LG Gießen, Urt. vom 25.02.2021 – 4 O 84/20, IPRspr 2021-132
OLG Frankfurt/Main, Hinweisbeschl. vom 08.04.2022 – 23 U 55/21, IPRspr 2022-195

Rechtsgebiete

Zuständigkeit → Besonderer Vertragsgerichtsstand
Vertragliche Schuldverhältnisse → Verbraucherrecht

Leitsatz

Eine in den AGB der Beklagten enthaltene, von der Bestimmung des Art. 6 Abs. 1 Rom-I-VO abweichende Rechtswahlklausel ist unwirksam, wenn hierdurch dem Verbraucher der Schutz der Bestimmungen entzogenen wird, von denen er nach dem ohne die Rechtswahl anzuwendenden Recht nicht durch Vereinbarung abgewichen werden darf. Dies ist, wenn ohne Rechtswahl deutsches Recht Anwendung fände, gem. §§ 305 ff. BGB anzunehmen, wenn die Rechtswahlklausel intransparent ist, weil ihr nicht zu entnehmen ist, welche Vorschriften tatsächlich Anwendung finden und sie den Eindruck vermittelt, es sei lediglich ausländisches (hier: maltesisches) Recht anwendbar. [LS der Redaktion]

Rechtsnormen

BGB §§ 305 ff.
EuGVVO 1215/2012 Art. 17; EuGVVO 1215/2012 Art. 18
Rom I-VO 593/2008 Art. 6; Rom I-VO 593/2008 Art. 12
Rom II-VO 864/2007 Art. 10
ZPO § 513; ZPO § 529; ZPO § 546

Sachverhalt

Der Kläger begehrt von der Beklagten, einer Gesellschaft maltesischen Rechts mit Sitz in Malta, die die Internetseite (...).com betreibt und keine Konzession für die Veranstaltung von Online-​Glücksspiel im Land Hessen besitzt, die Rückerstattung verlorener Glückspieleinsätze. Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf den Tatbestand des landgerichtlichen Urteils Bezug genommen (§ 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO). Das Landgericht hat die Beklagte antragsgemäß verurteilt, an den Kläger ... € nebst Zinsen zu zahlen. Gegen dieses Urteil wendet sich die Beklagte mit ihrer Berufung, die auch weiterhin die vollständige Klageabweisung begehrt.

Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]II.

[2]Der Senat hält die Berufung nach dem derzeitigen Sach- und Streitstand für zulässig, aber unbegründet. Denn die Entscheidung des Landgerichts beruht nicht auf einer Rechtsverletzung im Sinne des § 546 ZPO; außerdem rechtfertigen die nach § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen keine andere Entscheidung (§ 513 ZPO).

[3]Die Berufung ist unbegründet, weil die Klage zulässig und begründet ist, so dass das Landgericht ihr zu Recht entsprochen hat.

[4]§ 513 Abs.2 ZPO bezieht sich ungeachtet seines weitgefassten Wortlauts nicht auf die internationale Zuständigkeit (BGH, Urt. v. 16.12.2003 - XI ZR 474/02 -, NJW 2004, 1456; BGH, Urt. v. 28.11.2002 - III ZR 102/02 -, NJW 2003, 426; Zöller-​Heßler, ZPO, 34. Aufl., § 513 Rn. 8). Vielmehr ist die internationale Zuständigkeit der angerufenen Gerichte in jeder Lage von Amts wegen zu prüfen (vgl. etwa BGH, Versäumnisurt. v. 20.12.2011 - VI ZR 14/11 (IPRspr 2011-259) -, WM 2012, 852); vorliegend ist sie begründet. Sie bestimmt sich hier allein nach der seit dem 10.01.2015 in Kraft befindlichen Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12.12.2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EuGVVO) und folgt aus Art. 18 Abs. 1, 17 Abs. 1 lit. c EuGVVO. Danach kann der Verbraucher an seinem Wohnsitz einen Vertragspartner wegen Streitigkeiten aus dem Vertrag verklagen, wenn der Vertragspartner in dem Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet der Verbraucher seinen Wohnsitz hat, eine berufliche oder gewerbliche Tätigkeit ausübt oder eine solche auf irgendeinem Wege auf diesen Mitgliedstaat ausrichtet und der Vertrag in den Bereich dieser Tätigkeit fällt. Dies ist hier der Fall; insbesondere übt die Beklagte ihre gewerbliche Tätigkeit in Deutschland aus, indem sie ihr gewerbliches Angebot der Veranstaltung von Glücksspielen u.a. auf Deutschland ausrichtet. Es bestehen auch keine durchgreifenden Zweifel an der Verbrauchereigenschaft des Klägers. Soweit die Beklagte den Kläger wiederholt als „professionellen Spieler“ bezeichnet hat, ist schon nicht ersichtlich, ob die Beklagte damit die Verbrauchereigenschaft des Klägers im Rechtssinne in Abrede stellen will. Der Umstand, dass der Kläger die Online-​Glücksspiele in größerem Umfang betrieben haben und zumindest vorübergehend auch Gewinne erzielt haben mag, führt jedenfalls für sich genommen nicht dazu, dass der Kläger seine Eigenschaft als „Verbraucher“ im Sinne Art.17 EuGVVO verliert (vgl. EuGH, Urt. v. 10.12.2020 - C-​774/19, WRP 2021, 458). Die verfolgten bereicherungsrechtlichen und deliktischen Ansprüche unterfallen auch dem o.g. Verbrauchergerichtsstand, da dieser auch nichtvertragliche Anspruchsgrundlagen erfasst, soweit sich die Klage allgemein auf einen Vertrag bezieht und eine so enge Verbindung zu diesem Vertrag aufweist, dass sie von ihm nicht getrennt werden kann (vgl. BGH, Urt. v. 05.10.2010 - VI ZR 159/09 (IPRspr 2010-184b) -, NJW 2011, 532; Versäumnisurt. v. 20.12.2011 - VI ZR 14/11 (IPRspr 2011-259) -, WM 2012, 852; jeweils zu auf §§ 823 Abs. 2 BGB, 32 KWG gestützten Klagen; wie hier: OLG Hamm, Beschl. v. 12.11.2021 - 12 W 13/21 -, ZfWG 2022, 91; vgl. auch OLG Koblenz, Urt. v. 08.10.2020 - 6 U 1582/19 (IPRspr 2020-359) -, IHR 2021, 76; Zöller-​Geimer, ZPO, 34. Aufl., Art. 17 EuGVVO Rn. 17).

[5]Die Anwendbarkeit deutschen Rechts ergibt sich aus Art. 6 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr.593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17.06.2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I-​VO). Danach ist bei Verträgen mit Verbrauchern - wie hier - das Recht des Staates anzuwenden ist, in dem der Verbraucher seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Dies betrifft auch die Beurteilung der Wirksamkeit des Vertrages sowie etwaige Folgen der Nichtigkeit des Vertrags, vgl. Art. 12 Abs. 1 lit. a, e Rom I-​VO, einschließlich der bereicherungsrechtlichen Folgen, vgl. Art. 10 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.07.2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom II-​VO). Eine in den AGB der Beklagten enthaltene abweichende Rechtswahl ist dagegen nicht wirksam. Denn nach Art. 6 Abs. 2 S. 2 Rom I-​VO darf eine solche Rechtswahl dem Verbraucher nicht den Schutz der Bestimmungen entziehen, von denen nach dem ohne die Rechtswahl anzuwendenden Recht nicht durch Vereinbarung abgewichen werden darf. Dementsprechend sind die §§ 305ff. BGB auf Verbraucherverträge, die Verbraucher mit gewöhnlichem Aufenthalt in Deutschland geschlossen haben, anwendbar (BGH, Urt. v. 19.07.2012 - I ZR 40/11 (IPRspr 2012-25b) -, WRP 2013, 479). Die Rechtswahlklausel in den AGB der Beklagten benachteiligt den Kläger als Verbraucher aber unangemessen, weil sie intransparent ist, nachdem aus ihr gerade nicht klar und verständlich hervorgeht, welche Rechtsvorschriften tatsächlich Anwendung finden, und sie den Eindruck vermittelt, es sei lediglich maltesisches Recht anzuwenden; insbesondere fehlt ein deutlicher Hinweis darauf, dass der Kläger als Verbraucher nach Art.6 Abs.2 S.2 Rom I-​VO durch die Rechtswahl nicht den Schutz der zwingenden Vorschriften des deutschen Rechts verlieren kann (vgl. EuGH, Urt. v. 28.07.2016 - C-​191/15 -, NJW 2016, 2727; BGH, Urt. v. 19.07.2012 - I ZR 40/11 (IPRspr 2012-25b) -, WRP 2013, 479) ...

Fundstellen

LS und Gründe

NJW-RR, 2022, 1280

Permalink

https://iprspr.mpipriv.de/2022-195

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