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Verfahrensgang

ArbG Hannover, Urt. vom 14.01.2018 – 8 Ca 107/17
LAG Niedersachsen, Urt. vom 27.02.2019 – 2 Sa 244/18
BAG, Urt. vom 25.02.2021 – 8 AZR 171/19, IPRspr 2021-217

Rechtsgebiete

Zuständigkeit → Besonderer Deliktsgerichtsstand
Arbeitsrecht → Individualarbeitsrecht

Leitsatz

Bei einer Klage aus abgetretenem Recht ist für die Prüfung der internationalen Zuständigkeit zu unterstellen, dass wirksame Abtretungen von Konzernunternehmen vorliegen, an deren Zustandekommen durchgehend vertretungsbefugte Personen mitgewirkt haben. Insoweit handelt es sich um sog. doppelrelevante Tatsachen, die sowohl für die Zulässigkeit als auch für die Begründetheit der Klage notwendigerweise erheblich sind. Bei der Prüfung der Zulässigkeit der Klage wird ihre Richtigkeit unterstellt; ihr tatsächliches Vorliegen wird erst im Zusammenhang mit der Begründetheit der klägerischen Ansprüche geprüft. [LS der Redaktion]

Rechtsnormen

EuGVVO 1215/2012 Art. 4; EuGVVO 1215/2012 Art. 7; EuGVVO 1215/2012 Art. 24; EuGVVO 1215/2012 Art. 25
ZPO §§ 12 ff.; ZPO § 13; ZPO § 545

Sachverhalt

Die Parteien streiten darüber, ob der Klägerin gegen den Beklagten - aus eigenem und abgetretenem Recht - Ansprüche aus Geschäftsanmaßung, Vertragspflichtverletzung und unerlaubter Handlung zustehen. Im Rahmen der Widerklage streiten die Parteien darüber, ob die Klägerin dem Beklagten wegen der Vollziehung eines Arresturteils zum Schadensersatz verpflichtet ist. Die Klägerin, die Muttergesellschaft des C, ist ein großer deutscher Automobilzulieferer. Der Beklagte war bei der Klägerin von 2010 bis zum 30.6.2014 als Senior Purchaser Raw Material Fillers im Bereich Corporate Purchasing beschäftigt. Zu den Arbeitsaufgaben des Beklagten gehörte der Einkauf von Ruß. Zu den Ruß-​Zulieferern der Klägerin bzw. der mit ihr verbundenen Konzernunternehmen gehörten ua. verschiedene polnische Gesellschaften mit jeweils dem Namensbestandteil „M“ (im Folgenden M-​Gesellschaften). Während der Dauer der Tätigkeit des Beklagten als Senior Purchaser Raw Material Fillers der Klägerin wurden von diesem mindestens vier Rahmenverträge mit M-​Gesellschaften ausgehandelt und dann von der Klägerin geschlossen. Im Jahr 2011 wurde die R mit Sitz auf Zypern (im Folgenden R/Zypern) gegründet. Deren alleinige Gesellschafterin war die Steuerberatungsgesellschaft A GmbH, die die Geschäftsanteile als Treuhänderin für G hielt. Zuvor war die R mit Sitz auf der Kanalinsel Jersey (im Folgenden R/Jersey) gegründet worden. Für diese war G zeichnungsberechtigt. Im Anschluss an ein Treffen des Beklagten mit G und L in London wurden ab dem Ende des Jahres 2010 bis zum Ende des Jahres 2013 zwischen verschiedenen M-​Gesellschaften und zunächst der R/Jersey, später der R/Zypern Beratungsdienstleistungsverträge („Consulting Service Agreement“, im Folgenden CSA) bzw. Änderungsverträge dazu in englischer Sprache geschlossen. In dem ersten dieser Verträge, dem Vertrag vom 10.12.2010/12.1.2011 (im Folgenden erster CSA), verpflichtete sich die als „Berater“ bezeichnete R/Jersey, pro-​aktiv den Abschluss eines Jahresvertrags zwischen der vertragschließenden M-​Gesellschaft und der Klägerin zu unterstützen. Bei den M-​Gesellschaften kam es ab dem Jahr 2011 zu einem erheblichen Anstieg des Absatzes von Ruß an die Klägerin. Ebenso erhöhten sich die Zahlungen an die R/Jersey bzw. R/Zypern. Im Jahr 2015 überwies die R/Zypern von ihrem Konto circa ... Millionen Euro auf ein Geschäftskonto der B Vermögensverwaltung GmbH & Co. KG (im Folgenden B Vermögensverwaltung). Der Beklagte hielt an der B Vermögensverwaltung den alleinigen Kommanditanteil. Als versucht wurde, den Betrag von dem Geschäftskonto der B Vermögensverwaltung auf das Privatkonto des Beklagten zu überweisen, gab eine der beiden Banken eine Meldung wegen des Verdachts der Geldwäsche an die zuständigen Stellen ab. In schriftlichen Verträgen, die zwischen dem 31.10. und dem 3.11.2016 zwischen der Klägerin als Zessionarin und den mit der Klägerin verbundenen Unternehmen C P (Rumänien), C o. (Tschechien), C K (Russland), C I (Portugal), C S (Equador), C T (USA), C d (Malaysia), C Ma (Slowakei), C F (Frankreich), C Re (Deutschland), Co Ru (Ungarn), Co Vi (Deutschland), H (Deutschland) und C Br (Brasilien) als Zedenten abgeschlossen wurden, traten die Zedenten jeweils „sämtliche … möglicherweise zustehende Schadensersatzansprüche“ im Zusammenhang mit Verträgen, die die Zedenten auf der Grundlage der og. Rahmenverträge geschlossen hatten, gegen ua. den Beklagten an die Klägerin ab.

Die Klägerin stellte am 16.1.2017 beim Arbeitsgericht Hannover einen Antrag auf Erlass des dinglichen Arrests und auf Arrestpfändung gegen den Beklagten, welcher diesem am 23.1.2017 zugestellt wurde. Das Arbeitsgericht ordnete durch - zwischenzeitlich rechtskräftiges - Urteil vom 1.2.2017 (-​ 8 Ga 1/17 -​) den dinglichen Arrest in das gesamte Vermögen des Beklagten an. Die Klägerin betrieb aus diesem Urteil die Zwangsvollstreckung und der Beklagte gab eine Vermögensauskunft ab. Diese wurde im Schuldnerverzeichnis des Gemeinsamen Vollstreckungsportals der Länder vermerkt. Nachdem die Klägerin den Beklagten erfolglos aufgefordert hatte, ein notarielles Schuldanerkenntnis abzugeben, hat sie mit ihrer am 13.7.2017 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage ihr Zahlungsbegehren weiterverfolgt. Soweit die Schäden bei zu ihrem Konzern gehörenden Unternehmen eingetreten seien, hätten diese ihre Ansprüche rechtswirksam an sie, die Klägerin abgetreten. Die Klägerin hat beantragt, den Beklagten zu verur­teilen, an sie zu zahlen. Der Beklagte hat Klageabweisung sowie widerklagend beantragt, festzu­stellen, dass die Wider­be­klagte verpflichtet ist, dem Wider­kläger einen Schaden zu ersetzen, den dieser durch die Zwangs­voll­stre­ckung aus dem Arrest­urteil des Arbeits­ge­richts Hannover vom 1.2.2017 - 8 Ga 1/17 -, nämlich durch die erzwungene Abgabe der Vermö­gens­aus­kunft gegenüber der Gerichts­voll­zie­herin Be vom 31. Mai 2017 und die Eintragung der Vermö­gens­aus­kunft in das Schuld­ner­ver­zeichnis des Gemein­samen Vollstre­ckungs­portals, erlitten hat und noch erleiden wird. Die Klägerin hat die Abweisung der Widerklage beantragt. Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben und die Widerklage abgewiesen. Hiergegen hat der Beklagte Berufung eingelegt. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung des Beklagten das Urteil des Arbeitsgerichts abgeändert und die Klage abgewiesen. Auf die Widerklage hat das Landesarbeitsgericht festgestellt, dass die Klägerin verpflichtet ist, dem Beklagten allen Schaden zu ersetzen, den dieser durch die Zwangsvollstreckung aus dem Arresturteil des Arbeitsgerichts Hannover vom 1.2.2017 (-​ 8 Ga 1/17 -) erlitten hat und noch erleiden wird.

Aus den Entscheidungsgründen:

[30] B. Die Revision ist zulässig und begründet. Mit der vom Landesarbeitsgericht gegebenen Begründung durfte die Klage nicht abgewiesen und der Widerklage nicht stattgegeben werden …

[31] I. ... [32] 1. ...[33] 2. ... [34] 3. ... [35] II. Die Revision der Klägerin ist auch begründet. Mit der vom Landesarbeitsgericht gegebenen Begründung durfte die Klage nicht abgewiesen und der Widerklage nicht stattgegeben werden …

[36] 1. Die Klage ist zulässig.

[37] a) ... [38] aa) ... [39] bb) ... [40] cc) ... [42] b) Die Klage ist nicht etwa deshalb unzulässig, weil es an der internationalen Zuständigkeit der deutschen Gerichte fehlen würde. Vielmehr ist die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte gegeben, und zwar - entgegen der Rechtsauffassung der Nebenintervenientin - auch insoweit, als die Klägerin Ansprüche aus abgetretenem Recht ausländischer Konzernunternehmen geltend macht. Dabei ist für die Prüfung der internationalen Zuständigkeit zu unterstellen, dass - anders als der Beklagte und die Nebenintervenientin meinen - wirksame Abtretungen von Konzernunternehmen vorliegen, an deren Zustandekommen durchgehend vertretungsbefugte Personen mitgewirkt haben. Insoweit handelt es sich nämlich um sog. doppelrelevante Tatsachen, die sowohl für die Zulässigkeit als auch für die Begründetheit der Klage notwendigerweise erheblich sind. Bei der Prüfung der Zulässigkeit der Klage wird ihre Richtigkeit unterstellt; ihr tatsächliches Vorliegen wird erst im Zusammenhang mit der Begründetheit der klägerischen Ansprüche geprüft (vgl. etwa BGH 29. Juni 2010 - VI ZR 122/09 (IPRspr 2010-227) - Rn. 8 mwN).

[43] aa) Die internationale Zuständigkeit ist eine auch in der Revisionsinstanz von Amts wegen zu beachtende Sachurteilsvoraussetzung (vgl. ua. BAG 17. Juni 2020 - 10 AZR 464/18 (IPRspr 2020-286) - Rn. 22; 12. Dezember 2017 - 3 AZR 305/16 (IPRspr 2017-111) - Rn. 22, BAGE 161, 142; 21. März 2017 - 7 AZR 207/15 (IPRspr 2017-104) - Rn. 57 mwN, BAGE 158, 266; 24. August 1989 - 2 AZR 3/89 (IPRspr. 1989 Nr. 72) - zu A I 1 der Gründe, BAGE 63, 17; BGH 26. November 2020 - I ZR 245/19 (IPRspr 2020-227) - Rn. 13 mwN). Die Vorschrift des § 545 Abs. 2 ZPO steht dem nicht entgegen. Diese Regelung bezieht sich ungeachtet ihres weit gefassten Wortlauts nicht auf die internationale Zuständigkeit (vgl. etwa BGH 18. Januar 2011 - X ZR 71/10 (IPRspr 2011-182b) - Rn. 12 mwN, BGHZ 188, 85; 29. Juni 2010 - VI ZR 122/09 (IPRspr 2010-227) - Rn. 10 mwN).

[44] bb) Die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte ist auch insoweit gegeben, als die Klägerin Ansprüche aus abgetretenem Recht ausländischer Konzernunternehmen geltend macht.

[45] (1) Für die Klägerin selbst, die ihren Sitz in Deutschland hat sowie für die unter Rn. 13 aufgeführten Konzernunternehmen - als etwaige Zedentinnen - mit Sitz in Deutschland stellt sich die Frage der internationalen Zuständigkeit deutscher Gerichte nicht, denn der Beklagte hat seinen Wohnsitz in Deutschland (bei Klageeinreichung in Wu), weshalb die Regeln der §§ 12 ff. ZPO, darunter der allgemeine Gerichtsstand des Wohnsitzes (§ 13 ZPO) gelten, den die Klägerin offenbar gewählt hat.

[46] (2) Für weitere sechs der insgesamt unter Rn. 13 aufgeführten vierzehn etwaigen Zedentinnen, die ihren Sitz in Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben, sind die deutschen Gerichte nach der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 zuständig.

[47] Die internationale Zuständigkeit der Gerichte gegenüber einem Beklagten, der - wie hier - seinen Wohnsitz in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union hat, ist seit dem 10. Januar 2015 durch die Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 geregelt. An diese Verordnung sind die Gerichte in den Mitgliedstaaten der EU (außer in Dänemark, was hier nicht von Bedeutung ist) gebunden.

[48] Soweit eine etwaige Zedentin mit Sitz in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union den Beklagten selbst auf Schadensersatz verklagen wollte, anstatt es der Klägerin als etwaiger Zessionarin zu überlassen, würde sich die internationale Zuständigkeit nach Art. 4 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 bestimmen. Danach wäre der Beklagte als Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats Deutschland hat, vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats zu verklagen. Da der Wohnsitz des Beklagten bei Klageeinreichung in Wu in Deutschland war, wäre danach im Fall der Klage einer Zedentin mit Sitz in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union die Klage in Deutschland einzureichen. Soweit die Klage nach Art. 4 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 zutreffend wohnsitzbezogen eingereicht wird, kommt es auf weitere Möglichkeiten der Klageeinreichung nach Art. 7 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 (etwa Art. 7 Nr. 2 dieser Verordnung zur Klage wegen unerlaubter Handlung) nicht mehr an. Ist die internationale Zuständigkeit mehrerer Staaten gegeben, so kann die klagende Partei unter ihnen wählen.

[49] Eine ausschließliche Zuständigkeit nach Art. 24 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 besteht nicht. Gerichtsstandsvereinbarungen, die zu einem anderen Beurteilungsergebnis führen könnten und die den Anforderungen von Art. 25 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 genügen, sind nicht vorgetragen worden.

[50] (3) Für weitere fünf der unter Rn. 13 aufgeführten etwaigen Zedentinnen, deren Sitzstaaten weder von der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012, noch von dem parallelen Übereinkommen von Lugano (LugÜ) oder von einem anderen multilateralen Vertrag bzw. Übereinkommen zur Regelung der internationalen Zuständigkeit der Gerichte für den Bereich des allgemeinen Zivilrechts erfasst sind und für die keine entsprechenden bilateralen Abkommen zur Regelung der internationalen Zuständigkeit der Gerichte für den Bereich des allgemeinen Zivilrechts vorliegen, ist die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte nach §§ 12 ff. ZPO gegeben.

[51] Nach den Regeln der §§ 12 ff. ZPO über die örtliche Zuständigkeit, auf die zur Bestimmung der internationalen Zuständigkeit angesichts fehlender vorrangiger Bestimmungen in internationalen Vereinbarungen zurückgegriffen wird, da eine hiernach gegebene örtliche Zuständigkeit die internationale regelmäßig indiziert (BGH 18. Januar 2011 - X ZR 71/10 (IPRspr 2011-182b) - Rn. 13 mwN, BGHZ 188, 85; 29. Juni 2010 - VI ZR 122/09 (IPRspr 2010-227) - Rn. 10 mwN), ist die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte gegeben, da für den Wohnsitz des Beklagten das Arbeitsgericht Hannover örtlich zuständig ist.

[52] c) ...

Fundstellen

LS und Gründe

AP, Nr. 3 zu § 667 BGB
A&R, 2021, 1072
NZA, 2021, 1469

nur Leitsatz

A&R, 2021, 2758
EWiR, 2021, 599, mit Anm. Sura

Bericht

Frank, DB, 2021, 2498
MDR, 2021, 1115
Benkert, NJW-Spezial, 2021, 531

Permalink

https://iprspr.mpipriv.de/2021-217

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