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Verfahrensgang

OLG München, Beschl. vom 14.10.2019 – 14 W 1170/19, IPRspr 2019-321

Rechtsgebiete

Zuständigkeit → Durchführung des Verfahrens (bis 2019)

Leitsatz

Im Rahmen der EuZVO fällt die Prüfung inhaltlicher Fragen in die Zuständigkeit des im Übermittlungsstaat angerufenen, mit der Sache befassten Gerichts.

Um zu ermitteln, ob der Empfänger eines zugestellten Schriftstücks die Sprache des Übermittlungsmitgliedstaats, in der das Schriftstück abgefasst ist, versteht, ist bei juristischen Personen nicht allein auf die Sprachkenntnisse ihrer Organe abzustellen, sondern auch auf die tatsächlich im Unternehmen vorhandenen und verfügbaren Fähigkeiten, auf die der Empfänger in zumutbarer Weise zugreifen kann.

Rechtsnormen

EuZVO 1348/2000 Art. 8
EuZVO 1393/2007 Art. 8
GRCh Art. 6; GRCh Art. 47
ZPO § 179

Sachverhalt

Das LG Kempten (Allgäu) hat am 26.4.2019 auf Antrag des ASt. eine einstweilige Verfügung gegen die AGg. erlassen. Mit Schriftsatz des ASt. vom 13.5.2019 hat der ASt. die Zustellung der einstweiligen Verfügung samt Anlagen durch das Gericht beantragt.

Das LG Kempten (Allgäu) hat mit Verfügung vom 3.6.2019 die Zustellung der einstweiligen Verfügung und des Schriftsatzes des Antragstellervertreters vom 13.5.2019 direkt an den in Irland gelegenen Sitz der Bekl. verfügt. Die AGg. hat mit Schriftsatz der Antragsgegnervertreter vom 27.6.2019 erklärt, sie verweigere die Annahme der o.g. Schriftstücke. Sie hat dem Schriftsatz das in Anh. II zur VO (EG) Nr. 1393/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.11.2007 (im Folgenden: EuZVO) vorgegebene Formblatt beigefügt und darin angegeben, sie verstehe (nur) die englische Sprache. Das LG Kempten (Allgäu) hat daraufhin dem ASt. mit Schreiben vom 4.7.2019 mitgeteilt, die einstweilige Verfügung habe nicht zugestellt werden können, da sie übersetzt werden müsse. Hierfür werde ein Kostenvorschuss angefordert. Das LG Kempten (Allgäu) hat mit Beschluss vom 3.9.2019 entschieden, dass der Beschluss zum Zwecke der Zustellung ins Englische zu übersetzen ist, der ASt. die Kosten der Übersetzung trägt und diese von der Zahlung eines Kostenvorschusses abhängig gemacht wird. Gegen den dem Antragstellervertreter am 6.9.2019 formlos mitgeteilten Beschluss hat der ASt. sofortige Beschwerde eingelegt. Das LG Kempten (Allgäu) hat der sofortigen Beschwerde mit Beschluss vom 23.9.2019 nicht abgeholfen.

Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]II. Die sofortige Beschwerde ist zulässig und begründet und hat damit Erfolg.

[2]1. ... 2. Die sofortige Beschwerde ist auch begründet. Die einstweilige Verfügung vom 26.4.2019 ist der AGg. wirksam zugestellt worden. Die Voraussetzungen einer berechtigten Annahmeverweigerung nach Art. 8 I EuZVO sind nicht erfüllt, da die AGg. nach der Überzeugung des Beschwerdegerichts die deutsche Sprache i.S.d. Art. 8 I lit. a EuZVO versteht.

[3]a) Die Prüfung inhaltlicher Fragen wie der Fragen, welche Sprache bzw. welche Sprachen der Empfänger eines Schriftstücks versteht, ob dem Schriftstück eine Übersetzung in eine der in Art. 8 I EuZVO genannten Sprachen beizufügen ist und ob die Verweigerung der Annahme eines Schriftstücks nach dieser Vorschrift gerechtfertigt ist, fällt in die Zuständigkeit des im Übermittlungsstaat angerufenen, mit der Sache befassten Gerichts (EuGH, Beschl. vom 28.4.2016 – Alta Realitat S.L. ./. Erlock Film ApS u. Ulrich Thomsen, Rs C-384/14, BeckRS 2016, 80963 Rz. 55 f.; MünchKommZPO-Rauscher, Art. 8 EuZustVO Rz. 17).

[4]b) Im Hinblick auf den anzuwendenden Prüfungsmaßstab ist zu berücksichtigen, dass der Erlass der EuZVO u.a. auf der Erwägung beruhte, dass für das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts die Übermittlung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen, die in einem anderen Mitgliedstaat zugestellt werden sollten, zwischen den Mitgliedstaaten verbessert und beschleunigt werden müsste (Erwgr. 2). Um die Wirksamkeit der VO zu gewährleisten, sollte die Möglichkeit, die Zustellung von Schriftstücken zu verweigern, auf Ausnahmefälle beschränkt werden (Erwgr. Nr. 10).

[5]Mit dem Ziel, die Wirksamkeit und die Schnelligkeit der gerichtlichen Verfahren zu verbessern und eine ordnungsgemäße Rechtspflege zu gewährleisten, stellt die EuZVO daher den Grundsatz einer direkten Übermittlung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke zwischen den Mitgliedstaaten auf, was eine Beschleunigung und Vereinfachung der Verfahren bewirkt. Auf diese Ziele wird auch in den Erwgr. Nrn. 6 bis 8 der VO hingewiesen (EuGH, Urt. vom 16.9.2015 – Alpha Bank Cyprus Ltd. ./. Dau Si Senh u.a., Rs C-519/13, BeckRS 2015, 81151 Rz. 30; Alta Realitat, Rs C-384/14, BeckRS 2016, 80963 Rz. 48).

[6]Diese Ziele dürfen allerdings nicht dadurch erreicht werden, dass in irgendeiner Weise die Verteidigungsrechte beeinträchtigt werden, die den Empfängern der Schriftstücke aus dem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 47 II EU-Grundrechte-Charta, Art. 6 I 1 EMRK) erwachsen (EuGH, Alpha Bank Cyprus – Rs 519/13, BeckRS 2015, 81151 Rz. 31; Alta Realitat, Rs C-384/14, BeckRS 2016, 80963 Rz. 49; BGH, NJW 2007, 775 (IPRspr 2006-173) Rz. 16, 27).

[7]Insoweit ist nicht nur dafür Sorge zu tragen, dass der Empfänger eines Schriftstücks das betreffende Schriftstück tatsächlich erhält, sondern auch dafür, dass er in die Lage versetzt wird, die Bedeutung und den Umfang der im Ausland gegen ihn erhobenen Klage tatsächlich und vollständig in einer Weise zu erfahren und zu verstehen, die es ihm ermöglicht, seine Rechte vor dem Gericht des Übermittlungsmitgliedstaats wirksam geltend zu machen (EuGH, Alpha Bank Cyprus – Rs 519/13, BeckRS 2015, 81151 Rz. 32; Alta Realitat, Rs C-384/14, BeckRS 2016, 80963 Rz. 50).

[8]Unter diesem Blickwinkel ist die EuZVO daher in der Weise auszulegen, dass in jedem Einzelfall ein angemessener Ausgleich zwischen den Interessen der Parteien gewährleistet ist, indem die Ziele der Wirksamkeit und der Schnelligkeit der Übermittlung von Verfahrensschriftstücken mit dem Erfordernis der Gewährleistung eines angemessenen Schutzes der Verteidigungsrechte des Empfängers der Schriftstücke in Einklang gebracht werden (EuGH, Alpha Bank Cyprus – Rs 519/13, BeckRS 2015, 81151 Rz. 33 m.w.N.; Alta Realitat, Rs C-384/14, BeckRS 2016, 80963 Rz. 51).

[9]Um zu ermitteln, ob der Empfänger eines zugestellten Schriftstücks die Sprache des Übermittlungsmitgliedstaats, in der das Schriftstück abgefasst ist, versteht, hat das Gericht sämtliche Anhaltspunkte zu prüfen, die ihm der ASt. hierzu unterbreitet (EuGH, Urt. vom 8.5.2008 – Ingenieurbüro Michael Weiss u. Partner GbR ./. Industrie- und Handelskammer Berlin, Rs C-14/07, NJW 2008, 1721 Rz. 80 bzgl. der Vorgängerregelung des Art. 8 II der VO (EG) Nr. 1348/2000 des Rates vom 29.5.2000 (EuZVO a.F.)).

[10]c) Bei juristischen Personen ist nicht formaljuristisch auf die Sprachkenntnisse ihrer Organe abzustellen. Maßgeblich sind insoweit die tatsächlich im Unternehmen vorhandenen und verfügbaren Fähigkeiten, auf die der Empfänger in zumutbarer Weise zugreifen kann (OLG Frankfurt a.M., GRUR-RR 2015, 183, 184 (IPRspr 2014-226b); OLG Köln, EuZW 2019, 750 Rz. 6; LG Heidelberg, BeckRS 2018, 41758 (IPRspr 2018-45b) Rz. 6; LG Offenburg, BeckRS 2018, 23801 Rz. 25; AG Erding, BeckRS 2014, 16268 (IPRspr 2013-254) unter Ziff. I. der Entscheidungsgründe; Musielak-Voit-Stadler, [ZPO], Art. 8 EuZustVO Rz. 4; MünchKommZPO-Rauscher, Art. 8 EuZustVO Rz. 12). Betreibt ein Unternehmen in einem bestimmten Staat Geschäfte in größerem Umfang, kann grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass es Mitarbeiter hat, die sich um rechtliche Auseinandersetzungen mit den in diesem Staat ansässigen Kunden kümmern und jedenfalls über ausreichende Kenntnisse der Sprache verfügen, in der die Geschäfte mit den betreffenden Kunden abgewickelt werden (vgl. OLG Köln aaO (IPRspr 2019-311); LG Heidelberg aaO (IPRspr 2018-45b); LG Offenburg aaO; AG Berlin-Mitte, MMR 2017, 497 (IPRspr 2017-264) Rz. 6). Ferner begründet die Tatsache, dass ein Unternehmen sich zur Vertragsabwicklung in einer bestimmten Sprache verpflichtet hat, die widerlegliche Vermutung, dass auch in einem Rechtsstreit mit dem Vertragspartner Zustellungen in dieser Sprache vorgenommen werden dürfen und verstanden werden (vgl. Musielak-Voit-Stadler aaO Art. 8 EuZustVO Rz. 4).

[11]Daraus ergibt sich nicht, dass bzgl. juristischer Personen, die Geschäfte im Ausland betreiben, das Übersetzungserfordernis stets entfiele – was im Hinblick auf die Regelung des Art. 8 EuZVO zweifelhaft erschiene (vgl. LG Essen, Beschl. vom 31.5.2019 – 16 O 48/19, unter Ziff. II. der Gründe; LG München I, Beschl. vom 18.4.2019 – 29 O 12576/18, unter Ziff. I. der Gründe). Vielmehr ermöglicht eine auf der Grundlage der Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung die Findung eines für den jeweiligen Einzelfall sachgerechten Ergebnisses.

[12]d) Im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtabwägung ist im konkreten Fall Folgendes zu berücksichtigen:

[13]Nach dem Vortrag des ASt. verfügt die AGg. in Deutschland über 31 Mio. Kunden. Sie unterhält ihr Angebot vollständig in deutscher Sprache und stellt alle Vertragsunterlagen (Gemeinschaftsstandards und Nutzungsbedingungen) in deutscher Sprache zur Verfügung. In Ziff. 4. ihrer Nutzungsbedingungen hat sie die Geltung deutschen Rechts und die Zuständigkeit der deutschen Gerichte in Verbrauchersachen vereinbart. Die AGg. betreibt ferner eine deutschsprachige Homepage, auf der u.a. der vom ASt. zitierte NetzDG-Transparenzbericht vom 27.8.2018 eingestellt ist.

[14]Diesen substantiierten Vortrag des ASt. hat die AGg. nicht hinreichend bestritten.

[15]Soweit sie vorträgt, die Dienstleistung von XXX sei in vielen Ländern weltweit erhältlich und werde in 89 Sprachen angeboten, sie verfüge jedoch nicht über Angestellte, die sämtliche 89 Sprachen sprächen, ist dies unerheblich. Entscheidungsrelevant ist allein, ob die AGg. die Möglichkeit hat, auf sachkundiges Personal zurückzugreifen, das in hinreichendem Umfang der deutschen Sprache mächtig ist ...

[16]Dass deutschsprachige Juristen zur Bearbeitung der rechtlichen Fragestellungen, die sich im Zusammenhang mit den mit in Deutschland ansässigen XXX-Nutzern geschlossenen Verträgen ergeben, zur Verfügung stehen, ergibt sich im Übrigen auch aus dem vom ASt. zitierten NetzDG-Transparenzbericht vom 27.8.2018. Nachdem dessen Inhalt von der AGg. nicht bestritten worden ist und die AGg. wiederum unstreitig Vertragspartnerin (auch) der in Deutschland ansässigen XXX-Nutzer ist, lässt dies aus Sicht des Beschwerdegerichts nur den Schluss zu, dass die bezeichneten Juristen (jedenfalls auch) für die AGg. tätig sind.

[17]e) Die Folgen einer unberechtigten Annahmeverweigerung bestimmen sich unter Berücksichtigung der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität nach der lex fori (vgl. EuGH, Alta Realitat, Rs C-384/14,BeckRS 2016, 80963 Rz. 83 ff. Nach § 179 Satz 3 ZPO gilt die einstweilige Verfügung damit als zugestellt (vgl. LG Heidelberg, BeckRS 2018, 41758 (IPRspr 2018-45b) Rz. 8; Geimer-Schütze-Okonska, Art. 8 EuZustVO Rz. 94; MünchKommZPO-Rauscher, Art. 8 EuZustVO Rz. 18).

Fundstellen

LS und Gründe

CR, 2020, 120
MDR, 2020, 337
MDR, 2020, 242
MMR, 2020, 484

Bericht

Schaper, GRURPrax, 2020, 70

Permalink

https://iprspr.mpipriv.de/2019-321

Lizenz

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