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Verfahrensgang

OLG Hamm, Beschl. vom 23.10.2018 – 9 UF 104/18, IPRspr 2018-192

Rechtsgebiete

Kindschaftsrecht → Sorgerecht, Vormundschaft
Kindschaftsrecht → Sorgerecht, Vormundschaft
Natürliche Personen → Geschäftsfähigkeit

Leitsatz

Die Voraussetzungen für die Anordnung einer Vormundschaft für einen unbegleiteten Flüchtling vor einem deutschen Gericht richten sich nach deutschem Recht. Gemäß Art. 15 I, 5 f. KSÜ sollen die zuständigen staatlichen Verwaltungsbehörden und Gerichte zum Schutz von Flüchtlingskindern das in ihren Staat geltende Recht anwenden (hier: deutsches Recht).

Dies gilt, obwohl Entstehung, Änderung und Ende der Vormundschaft gemäß Art. 24 EGBGB grundsätzlich dem Recht des Staats (hier: Irak) unterliegen, dem der Mündel angehört.

Ob der Betroffene überhaupt noch als Minderjähriger anzusehen ist und deshalb der Ausübung der elterlichen Sorge bedarf, richtet sich grundsätzlich nach dessen Heimatrecht. Die Regelung in Art. 7 EGBGB zum Eintritt der Volljärhigkeit wird dabei jedoch durch Art. 12 der Genfer Flüchtlingskonvention verdrängt, nach dem sich das Personalstatut eines Flüchtlings nach dem Recht des Lands seines Wohnsitzes oder Aufenthalts richtet. [LS der Redaktion]

Rechtsnormen

78/1980 SchutzMinderjährigeG (Irak) Art. 3
AsylG § 3
BGB § 2; BGB § 1674; BGB §§ 1773 f.
EGBGB Art. 7; EGBGB Art. 24
FamFG §§ 58 ff.
GFK Art. 1; GFK Art. 12
KSÜ Art. 5 f.; KSÜ Art. 15

Sachverhalt

Der nach eigenen Angaben minderjährige unbegleitete Flüchtling L hält sich seit September 2017 in Deutschland auf. Bei seiner Erstaufnahme gab er an, Kurde mit irakischer Staatsangehörigkeit zu sein (geb. 16.1.2001) und 2014 mit seinen Eltern u. Geschwistern vor dem IS geflüchtet zu sein – über die Türkei und dann allein über Italien nach Deutschland. Am 18.9.2017 wurde er dem Kreisjugendamt N zur vorläufigen Inobhutnahme zugewiesen.

Am 5.10.2017 beantragte das Kreisjugendamt beim AG Minden, das Ruhen der elterlichen Sorge festzustellen und für L einen Amtsvormund zu bestellen. Ein eingeholtes medizinisches Gutachten ergab ein wahrscheinlichstes Lebensalter von ca. 18 Jahren. Das AG hörte die Bet. am 21.3.2018 erneut an und wies die Anträge des JugA mit Beschluss vom 23.3.2018 zurück. Hiergegen richtet sich dessen Beschwerde. Der Aufenthaltsort des Jugendlichen hat im Verlauf des Beschwerdeverfahrens nach M gewechselt. Der örtliche Landkreis E wurde daraufhin am Beschwerdeverfahren beteiligt, hat aber eine Übernahme der Amtsvormundschaft abgelehnt.

Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]II. 1. Die Beschwerde des JugA ist gemäß §§ 58 ff. FamFG zulässig ...

[2]2. Die Beschwerde des JugA ist auch begründet, weil entgegen der Annahme des AG die Voraussetzungen für die Feststellung des Ruhens der elterlichen Sorge (§ 1674 I BGB) und für die Anordnung einer Vormundschaft (§§ 1773 f. BGB) vorliegen.

[3]a) Die Voraussetzungen für die Anordnung einer Vormundschaft richten sich hier nach deutschem Recht.

[4]Zwar unterliegen die Entstehung, die Änderung und das Ende der Vormundschaft gemäß Art. 24 EGBGB grundsätzlich dem Recht des Staats, dem der Mündel angehört. Davon abweichend sieht aber die Regelung in Art. 15 I des in Deutschland am 1.1.2011 in Kraft getretenen KSÜ vor, dass die gemäß Art. 5 f. KSÜ zum Schutz von Flüchtlingskindern zuständigen staatlichen Verwaltungsbehörden und Gerichte das in ihren Staat geltende Recht anwenden sollen (BGH, FamRZ 2018, 457 (IPRspr 2017-180b), juris Tz. 20; BGH, FamRZ 2011, 796 (IPRspr 2011-111), juris Tz. 30 ff.; OLG Karlsruhe, FamRZ 2015, 2182 (IPRspr 2015-130), juris Tz. 17 f.).

[5]b) Davon zu unterscheiden ist die vorgelagerte Frage, ob der Betroffene überhaupt noch als Minderjähriger anzusehen ist und deshalb der Ausübung der elterlichen Sorge bedarf.

[6]Insofern unterliegt nach Art. 7 I EGBGB die Geschäftsfähigkeit dem Recht des Staats, dem eine Person angehört. Dieses Heimatrecht entscheidet grundsätzlich auch darüber, wann die Volljährigkeit dieser Person eintritt (MünchKomm-Lipp, 7. Aufl. [2018], EGBGB Art. 7 Rz. 48).

[7]Die Regelung in Art. 7 EGBGB wird allerdings durch Art. 12 der Genfer Flüchtlingskonvention (Genfer Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28.7.1951 [BGBl. 1953 II 55]; nachfolgend: GFK) verdrängt (BGH, FamRZ 2018 aaO Tz. 23), nach dem sich das Personalstatut eines Flüchtlings nach dem Recht des Lands seines Wohnsitzes oder seines Aufenthaltslands richtet.

[8]Die Anwendbarkeit der vorrangigen Bestimmung des Art. 12 GFK setzt aber voraus, dass die betroffene Person als Flüchtling nach Art. 1 A II GFK i.V.m. dem Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31.1.1967 (BGBl. 1969 II 1293 f.) anzusehen ist, sie sich also aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung außerhalb des Lands befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Lands nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will (vgl. auch § 3 I AsylG).

[9]Diese Flüchtlingseigenschaft bedarf an sich der inzidenten tatrichterlichen Überprüfung durch das FamG (BGH, FamRZ 2018 aaO; BGH, FamRZ 2007, 109 (IPRspr. 2006 Nr. 52)) und dementsprechend vorrangig einer entspr. Berichterstattung des JugA zur Verfolgungssituation des jeweiligen Betroffenen im Herkunftsland und zum Stand des Asylanerkennungsverfahrens. Solche Anknüpfungstatsachen werden hier vom JugA nicht mitgeteilt.

[10]Im vorliegenden Fall kann allerdings nach den vom Senat angestellten Ermittlungen die Flüchtlingseigenschaft dahinstehen, denn selbst bei unterstellter Anwendbarkeit des irakischen Rechts tritt die Volljährigkeit des Betroffenen gemäß Art. 3 des Gesetzes Nr. 78/1980 über den Schutz Minderjähriger – q\={a}n\={u}n ri\={a}yat al-qasirin – von 1980 mit Vollendung des 18. Lebensjahrs ein (vgl. Bergmann-Ferid-Henrich, Int. Ehe- und Kindschaftsrecht, Irak [169. Erg.-Lfg.] und die vom Flüchtlingsrat NRW unter www.frnrw.de veröffentlichte Länderübersicht sowie die Angaben bei BeckOK-BGB-Mäsch [Stand: 1.5.2018] Anh. zu Art. 7 EGBGB Rz. 57.1 Irak). Das Heimatrecht deckt sich hier also mit der Regelung in § 2 BGB.

Fundstellen

LS und Gründe

JAmt, 2019, 112
NJW-RR, 2019, 262

Permalink

https://iprspr.mpipriv.de/2018-192

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