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Verfahrensgang

BGH, Urt. vom 20.07.2012 – V ZR 142/11, IPRspr 2012-23

Rechtsgebiete

Rechtsgeschäft und Verjährung → Stellvertretung
Allgemeine Lehren → Ermittlung, Anwendung und Revisionsfähigkeit ausländischen Rechts

Leitsatz

In Fällen mit Auslandsberührung richtet sich die Rechtsscheinhaftung der Gesellschaft für das Handeln ihres Organs, das seine Vertretungsbefugnis bei einem Distanzgeschäft überschreitet, jedenfalls dann nach der an dem Ort der Abgabe der Willenserklärung geltenden Rechtsordnung, wenn diese zugleich über die organschaftliche Vertretungsmacht entscheidet.

Rechtsnormen

FGG-RG Art. 111 f.
ZPO § 293; ZPO § 545

Sachverhalt

Der Entscheidung liegt in weiten Teilen der SV der Entscheidung des BGH selben Datums – V ZR 135/11 (IPRspr 2012-72) zugrunde. Die Kl. des hiesigen Verfahrens ist ein Unternehmen mit Sitz in Texas/USA, welches mit der Bekl. zu 1) [Unternehmen brasilianischen Rechts] im Rahmen einer Hauptintervention der Kl. um das Eigentum an mehreren Zylindern angereicherten Urans 235 streitet und der NTC im Rahmen eines Sachdarlehens Uran zur Verfügung gestellt hatte. Dem Antrag der Kl. entsprechend hat das LG festgestellt, der Bekl. zu 1) stehe gegen die Bekl. zu 2) kein Anspruch auf Herausgabe der Zylinder zu, und hat die Bekl. zu 2) zur Herausgabe der Zylinder an die Kl. verurteilt. Die Kl. hat diese Entscheidung zwischenzeitlich vollstreckt und die Zylinder aus der Bundesrepublik Deutschland ausgeführt. Die Berufung der Bekl. zu 1) ist nach einer Vorlage an den EuGH erfolglos geblieben. Nach Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung durch den BGH hat das Berufungsgericht die Berufung erneut zurückgewiesen. Mit der Revision will die Bekl. zu 1) die Zurückweisung des Feststellungsantrags erreichen. Nach einem Hinweis des Senats hat die Kl. den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt, dem hat die Bekl. zu 1) widersprochen.

Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]II. Die Revision der Bekl. zu 1) hat keinen Erfolg ...

[2]4. Auf der Grundlage des geänderten Klageantrags erweist sich die Revision als unbegründet. Das Berufungsgericht hat den gegen die Bekl. zu 1) gerichteten Feststellungsantrag ohne Rechtsfehler als zulässig und begründet angesehen ...

[3]b) In Betracht kommt danach nur ein schuldrechtlicher Anspruch aus dem zwischen den Bekl. geschlossenen Lagervertrag; diesen verneint das Berufungsgericht im Ergebnis ohne Rechtsfehler ...

[4]dd) Die Revision wendet sich gegen die Annahme des Berufungsgerichts, die Bekl. zu 1) habe ihren mittelbaren Besitz verloren, was – nach der nicht angegriffenen Auslegung des Lagervertrags – die Vertragsbeziehung insoweit beendet habe. Ferner meint sie, die Bekl. zu 1) müsse sich die Anweisungen des Direktors S. nicht zurechnen lassen. Diese Rügen haben keinen Erfolg ...

[5](2) Rechtsfehlerfrei ist auch die Annahme, Direktor S. habe die Bekl. zu 1) bei der Beendigung des Lagervertrags bezogen auf das in Rede stehende Uran wirksam vertreten.

[6](a) Richtig ist zunächst, dass sich die Vertretungsmacht, die nach den tatbestandlichen Feststellungen nur auf der Rechtsstellung des Direktors S. als Gesellschaftsorgan beruhen kann, nach dem Gesellschaftsstatut richtet (vgl. BGH, Urt. vom 8.10.1991 – XI ZR 64/90 (IPRspr. 1991 Nr. 28), NJW 1992, 618; Palandt-Thorn, BGB, 71. Aufl., Anh. zu Art. 10 EGBGB Rz. 2; Anh. zu Art. 12 EGBGB Rz. 13). Maßgeblich ist nach den zutreffenden Ausführungen des Berufungsgerichts das an dem Sitz der Gesellschaft geltende brasilianische Recht. Für das Revisionsverfahren ist von der für die Bekl. zu 1) günstigen Würdigung des Berufungsgerichts auszugehen, wonach sich aus dem brasilianischen Recht keine organschaftliche Vertretungsmacht für die Anweisungen ergibt.

[7](b) Auch für die Frage, ob sich die Bekl. zu 1) die Willenserklärungen ihres Direktors aufgrund eines Rechtsscheins zurechnen lassen muss, hat das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei das brasilianische Recht herangezogen.

[8](aa) Als maßgebliche Anknüpfung für eine Anscheinsvollmacht hat der BGH den Ort angesehen, an dem der Rechtsschein entstanden ist und sich ausgewirkt hat, weil die Haftung allein auf dem Rechtsschein beruhe (BGH, Urt. vom 9.12.1964 – VIII ZR 304/62 (IPRspr. 1964–1965 Nr. 33), BGHZ 43, 21, 27; vgl. auch BGH, Urt. vom 5.12.2007 – II ZR 84/05 (IPRspr 2007-15), NJW 2007, 1529, 1530 Rz. 9 m.w.N.); dabei ging es allerdings nicht um ein Distanzgeschäft, bei dem – wie hier – der Ort der Abgabe der Willenserklärung (Brasilien) und der ihres Zugangs (Deutschland) auseinanderfallen. Die gewählte Formulierung ist als unscharf kritisiert worden (Leible, IPRax 1998, 257, 260; Heinz, Das Vollmachtsstatut, 2011, 211 f.). Im Ergebnis ähnlich stellen Teile der Literatur hinsichtlich der Rechtsscheinhaftung der Gesellschaft für das Handeln ihrer Organe auf das Recht des Orts ab, an dem das Geschäft stattfand (MünchKomm-Kindler, 5. Aufl., Int. GesR Rz. 585; Staudinger-Großfeld, BGB, Int. GesR [1998] Rz. 285; Kaligin, DB 1985, 1449, 1452).

[9](bb) Andere plädieren für die Maßgeblichkeit des Vollmachtsstatuts. Der enge Zusammenhang zwischen Vertretungsbefugnis und Rechtsscheinhaftung erfordere die Anwendung derselben Rechtsordnung. Während dies bei einer rechtsgeschäftlichen Vollmacht wegen ihrer Anknüpfung an den Gebrauchs- und Wirkungsort im Regelfall nicht zu anderen Ergebnissen führt, unterliegt die Rechtsscheinhaftung bei einer organschaftlichen Vertretungsmacht nach dieser Ansicht ohne Rücksicht auf den Handlungsort dem Gesellschaftsstatut (Reithmann-Martiny-Hausmann, Internationales Vertragsrecht, 6. Aufl., Rz. 2480; Heinz aaO).

[10](cc) Im Ergebnis führen alle Ansichten zu der Anwendung brasilianischen Rechts, es sei denn, man wollte den Ort des Zugangs der Willenserklärung als maßgeblich ansehen. Diese Auffassung wird nur vereinzelt vertreten (OLG Köln, IPRspr. 1966–1967 Nr. 25; Staudinger-Magnus aaO [2010] Anh. II zu Art. 1 Rom-I-VO Rz. 39: Ort, an dem der Dritte vertraut). Die überwiegende Meinung sieht – wie das Berufungsgericht – bei Distanzgeschäften stets den Ort der Abgabe der Erklärung des Vertreters als maßgeblich sowohl für die Anknüpfung einer rechtsgeschäftlichen Vollmacht als auch der Rechtsscheinhaftung an (LG Karlsruhe, RIW 2002, 153, 155 (IPRspr. 2001 Nr. 19); Erman-Hohloch, BGB, 13. Aufl., Anh. I nach Art. 12 EGBGB Rz. 7; Kropholler, IPR, 6. Aufl., 306, 308; Reithmann-Martiny-Hausmann aaO, Rz. 2433, 2480; w.N. bei Heinz aaO 18, 162 ff.).

[11](dd) Der Senat hält die Anknüpfung an den Ort des Zugangs der Willenserklärung auch unter Vertrauensschutzgesichtspunkten jedenfalls dann nicht für richtig, wenn das an dem Handlungsort des Vertreters geltende Recht – wie hier – zugleich über dessen Vertretungsbefugnis entscheidet. An dieser Rechtsordnung muss sich der Geschäftspartner ausrichten, der auf die Vertretungsmacht einer im Ausland handelnden Person vertraut.

[12](c) Soweit die Revision geltend macht, das Berufungsgericht habe das von ihm ermittelte brasilianische Recht fehlerhaft angewendet, steht dem entgegen, dass die Anwendung ausländischen Rechts jedenfalls gemäß § 545 I ZPO in der bis zum 31.8.2009 g.F. (Art. 111 I und II, 112 I FGG-RG) nicht revisibel ist (vgl. Senat, Urt. vom 18.2.2011 – V ZR 137/10, NJWRR 2011, 515 Rz. 9). Grundsätzlich zulässig ist demgegenüber die auf § 293 ZPO gestützte Verfahrensrüge, mit der eine unzureichende oder fehlerhafte Ermittlung des ausländischen Rechts geltend gemacht wird. Aus dieser Norm leitet sich nach der st. Rspr. des BGH die Pflicht des Tatrichters ab, das für die Entscheidung eines Rechtsstreits maßgebende ausländische Recht von Amts wegen zu ermitteln. Wie der Tatrichter sich die erforderliche Kenntnis des ausländischen Rechts verschafft, steht zwar in seinem Ermessen. Die Entscheidungsgründe müssen aber erkennen lassen, dass er dieses Ermessen tatsächlich ausgeübt hat (Senat, Urteile vom 6.11.1998 – V ZR 224/97 (IPRspr. 1998 Nr. 3), ZfIR 1999, 264, 265 f.; vom 8.5.1992 – V ZR 95/91 (IPRspr. 1992 Nr. 1), NJW 1992, 3106 f.; vom 24.11.1989 – V ZR 240/88 (IPRspr. 1989 Nr. 3), NJW-RR 1990, 248, 249; BGH, Urt. vom 23.4.2002 – XI ZR 136/01 (IPRspr. 2002 Nr. 3), NJW-RR 2002, 1359 ff.).

[13]Daran gemessen ist die Entscheidung rechtsfehlerfrei. Das sachverständig beratene Berufungsgericht hat eingehend begründet, dass es die Anweisungen zwar als Realakte ansehe, aber auch bei einem – unterstellten – rechtsgeschäftlichen Charakter eine Vollmacht kraft Rechtsscheins nach brasilianischem Recht anzunehmen sei. Seine Begründung bezieht sich zwar weitestgehend auf das Rechtsverhältnis zwischen der Bekl. zu 1) und der NEAG. Im Hinblick auf das Verhältnis der Bekl. untereinander hat es auf diese Ausführungen aber Bezug genommen und deutlich gemacht, dass es die festgestellten Voraussetzungen für eine Rechtsscheinhaftung nach brasilianischem Recht dieser Rechtsbeziehung ebenfalls als gegeben ansieht; eine solche Zurechnung auch in dem Verhältnis zu der Bekl. zu 2) lag auf der Grundlage der tatrichterlichen Feststellungen schon deshalb nahe, weil Direktor S. als Vorstandsmitglied dieser wiederholt und über einen längeren Zeitraum hinweg Anweisungen erteilt hat.

Fundstellen

LS und Gründe

DB, 2012, 1983
MDR, 2012, 1105
NZG, 2012, 1192
RIW, 2012, 807
WM, 2012, 1631
ZIP, 2012, 1908

nur Leitsatz

GWR, 2012, 415, mit Anm. Gottschalk
EWiR, 2013, 9, mit Anm. Primaczenko
LM, 2013, 339619, mit Anm. Schinkels, 339619

Permalink

https://iprspr.mpipriv.de/2012-23

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