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Verfahrensgang

OLG Stuttgart, Beschl. vom 30.03.2012 – 17 UF 338/11, IPRspr 2012-110

Rechtsgebiete

Kindschaftsrecht → Kindschaftsrecht gesamt bis 2019

Leitsatz

Für die internationale Zuständigkeit gemäß Art. 8 der sogenannten Brüssel IIa-Verordnung [EuEheVO] ist kein Raum, falls ein Kind bereits bei Anhängigkeit eines Sorge- oder Umgangsverfahrens seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einen anderen Staat verlegt hatte.

Hierfür ist ein Aufenthalt von sechs Monaten Dauer allenfalls Indiz, jedoch nicht zwingend vorauszusetzen.

Rechtsnormen

EuEheVO 2201/2003 Art. 2; EuEheVO 2201/2003 Art. 8; EuEheVO 2201/2003 Art. 9; EuEheVO 2201/2003 Art. 12
FamFG §§ 58 ff.

Sachverhalt

Die beteiligten Eltern streiten um die elterliche Sorge für den gemeinsamen Sohn M. sowie um den Umgang mit ihm. Die Eltern waren nicht miteinander verheiratet, führten aber eine nichteheliche Lebensgemeinschaft. Seit 2006 leben sie voneinander getrennt, das Kind wird seither von der Mutter betreut. Eine gemeinsame Sorgeerklärung wurde nicht abgegeben. Anfang Mai 2010 zog die Kindesmutter mit M. nach Spanien, ohne den Kindesvater hierüber zu informieren. Im September 2010 beantragte der Vater die Zuteilung des alleinigen Sorgerechts für M., hilfsweise des gemeinsamen Sorgerechts. In der nichtöffentlichen Sitzung des FamG im Februar 2011 trafen die Eltern sodann eine (abändernde) Vereinbarung zum Umgang des Vaters mit M. Im Mai 2011 beantragte der Vater, diese Umgangsvereinbarung abzuändern.

Das AG – FamG – Tuttlingen wies sowohl den Sorgerechts- als auch den auf Abänderung des Umgangs bezogenen Antrag zurück. Dagegen richtet sich die Beschwerde des Vaters.

Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]II. 1. Die Beschwerde ist gemäß §§ 58 ff. FamFG statthaft und zulässig. Im Ergebnis führt sie zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung. Denn es fehlt an der vorauszusetzenden internationalen Zuständigkeit der deutschen Gerichte.

[2]2. Nach Art. 8 EuEheVO sind für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Nach Art. 2 Nr. 7 Satz 2 EuEheVO umfasst die ‚elterliche Verantwortung’ im o.g. Sinne sowohl das Sorge- als auch das Umgangsrecht.

[3]Das Kind M. verzog zusammen mit der Mutter zu Beginn des Monats Mai 2010 von Deutschland nach Spanien. Mithin hatte es bereits dort, nämlich auf I., seinen gewöhnlichen Aufenthalt, als Mitte September 2010 der Sorgerechtsantrag des Vaters anhängig wurde. Das internationale Kindschaftsrecht definiert den Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts nicht. Da sämtliche internationale Abkommen auf diesem Gebiet letztendlich dem Schutz des Kindeswohls dienen, ist von einem einheitlichen Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts auszugehen (Winkler von Mohrenfels, FPR 2001, 189, 190 m.w.N.). Der gewöhnliche Aufenthalt stellt auf den tatsächlichen Mittelpunkt der Lebensführung einer Person ab. Auf den Willen, sich an einem Ort auf Dauer niederzulassen, kommt es nicht an. Hat der Aufenthalt sechs Monate gedauert, wird vielfach von einem gewöhnlichen Aufenthalt ausgegangen (OLG Karlsruhe, FamRZ 2010, 1577) (IPRspr 2010-119a). Aus Sicht des Kindes stellt sich ein Aufenthalt an einem neuen Ort umso mehr als ‚gewöhnlich’ dar, je länger es sich an diesem Ort aufhält (OLG Frankfurt, FamRZ 2006, 883, 884) (IPRspr 2006-81).

[4]Da insbesondere junge Kinder im Hinblick auf eine andere zeitliche Relation sich leichter an eine neue Umgebung gewöhnen, lässt diese Dauer des Aufenthalts auf eine gewisse soziale Integration schließen. Für den zum Zeitpunkt des Umzugs fünf-, knapp sechsjährigen Jungen sind des Weiteren der Umfang und die Intensität der Beziehungen zu Familienangehörigen von besonderem Gewicht. Die Mutter war und ist die Hauptbezugsperson des Kindes, auch wenn es eine starke Bindung zu seinem Vater aufweist.

[5]Zwar hängt der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes rechtlich nicht vom Willen des Sorgeberechtigten ab, indes kann hier nicht gänzlich unberücksichtigt bleiben, dass der Umzug zusammen mit der alleinsorgeberechtigten Mutter erfolgte. Soweit sich die angefochtene Entscheidung auf die ‚Sechs-Monats-Regel’ bezieht, ist darauf hinzuweisen, dass diese Frist, die hier am 18.9.2010 noch nicht abgelaufen war, als Richtschnur zwar hilfreich sein kann, als formales Kriterium aber auch nicht überbewertet werden darf (zum Ganzen: Senat, Beschl. vom 22.6.2011 – 17 UF 150/11 (IPRspr 2011-113), juris Rz. 23).

[6]3. Zu der auf das kindliche Zeitempfinden gestützten Erwägung ... treten Wortlaut und ratio des Art. 9 EuEheVO. Danach kann beim rechtmäßigen Umzug eines Kindes von einem Mitgliedstaat in einen anderen die Zuständigkeit für die Änderung einer im Ursprungsstaat ergangenen Umgangsentscheidung während einer Dauer von drei Monaten erhalten bleiben. Auch diese Zeitdauer ist überschritten.

[7]4. Nach alledem steht für den Senat fest, dass sich der Daseinsschwerpunkt und damit der Ort, der Ausdruck einer gewissen sozialen und familiären Integration des Kindes ist (vgl. EuGH, Urt. vom 2.4.2009 – A: Ersuchen um Vorabentscheidung: Korkein hallinto-oikeus – Finnland, Slg. 2009 I-02805, FamRZ 2009, 843, 845; OLG Saarbrücken, Beschl. vom 5.11.2010 – 9 UF 112/10 (IPRspr 2010-121), juris Rz. 26), Mitte September 2010 bereits nach Spanien verlagert hatte.

[8]5. Eine Vereinbarung über die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte (Art. 9 II, 12 III EuEheVO) wurde ebenfalls nicht getroffen. Diese wurde auch nicht auf andere Weise anerkannt. Nach der genannten Norm sind die Gerichte eines Mitgliedstaats zwar in Bezug auf die elterliche Verantwortung zuständig, wenn eine wesentliche Bindung des Kindes zu diesem Mitgliedstaat besteht, insbesondere weil einer der Träger der elterlichen Verantwortung in diesem Mitgliedstaat seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat oder das Kind die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats besitzt. Hinzu kommen muss aber, dass alle Parteien [Beteiligten] des Verfahrens zum Zeitpunkt der Anrufung des Gerichts die Zuständigkeit ausdrücklich oder auf andere eindeutige Weise anerkannt haben und die Zuständigkeit im Einklang mit dem Wohl des Kindes steht. Mit Schriftsatz vom 15.10.2010, mit welchem sie auf den verfahrenseinleitenden Antrag des Vaters erwidert hatte, hat die Mutter demgegenüber die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte ausdrücklich gerügt und nur ‚höchst vorsorglich’ in der Sache vorgetragen.

[9]Die angefochtene Entscheidung war aufzuheben.

Fundstellen

nur Leitsatz

FamRZ, 2012, 1503
NJW-Spezial, 2012, 390

LS und Gründe

NJW, 2012, 2043
FamFR, 2013, 288, mit Anm. Finger
FPR, 2013, 223

Permalink

https://iprspr.mpipriv.de/2012-110

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