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Verfahrensgang

OLG Saarland, Beschl. vom 05.11.2010 – 9 UF 112/10, IPRspr 2010-121

Rechtsgebiete

Kindschaftsrecht → Kindesentführung

Leitsatz

Die von einer Kindesmutter erstrebte Rückführung eines von Belgien nach Deutschland verbrachten Kindes richtet sich nach dem HKiEntÜ. Die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte ergibt sich in einem solchen Fall aus Art. 11 EuEheVO.

Bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts im Sinne von Art. 4 Satz 1 HKiEntÜ kommt es auf den tatsächlichen Mittelpunkt der Lebensführung und den Daseinsschwerpunkt des Kindes an. Ein neugeborenes Kind begründet einen gewöhnlichen Aufenthalt im Geburtsstaat, wenn das Kind nach dem übereinstimmenden Willen der Elten in diesem Staat zur Welt gebracht wurde und dort so lange verbleiben sollte, bis zu einem späteren (noch nicht bestimmten) Zeitpunkt die rechtlichen Voraussetzungen für eine Übersiedlung in einen anderen Staat vorliegen würden.

Die für die Widerrechtlichkeit der Entführung maßgebliche Verletzung eines Mitsorgerechts bestimmt sich nach dem Recht des Staats, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. [LS der Redaktion]

Rechtsnormen

Cc 1804 (Belgien) Art. 373 f.
EuEheVO 2201/2003 Art. 8; EuEheVO 2201/2003 Art. 11
HKÜ Art. 3; HKÜ Art. 4; HKÜ Art. 12; HKÜ Art. 13; HKÜ Art. 19
IntFamRVG § 38

Sachverhalt

Die ASt. und der AGg. haben im Januar 2009 Belgien die Ehe geschlossen. Aus der Ehe ist die im August 2009 in Belgien geborene Tochter H. hervorgegangen. Die Kindeseltern sind im früheren Jugoslawien (Kosovo) geboren. Die ASt. spricht ausschließlich albanisch und besitzt die serbische bzw. kosovarische Staatsangehörigkeit. Sie genießt in Belgien einen ausländerrechtlichen Aufenthaltsstatus, bezieht Sozialhilfe und ist in Belgien krankenversichert. Der AGg. lebt – seit über 20 Jahren – und arbeitet in Deutschland; er ist deutscher Staatsangehöriger. Die ASt. begehrt vom AGg. die Rückführung der gemeinsamen Tochter nach Belgien. Am Abend des 31.8.2009 suchte der AGg. in Begleitung seiner Mutter und seiner Schwester die ASt. in dem Haus ihrer Familie in L./Belgien auf, wo sie und das Kind sich nach der Entlassung aus der Geburtsklinik aufhielten. Unter zwischen den Beteiligten streitigen Umständen nahm der AGg. das Kind an sich und verbrachte es in die Bundesrepublik Deutschland, wo beide seither in der Wohnung seiner Eltern in N. leben. Im Rahmen des von der ASt. beim Friedensgericht in L. anhängig gemachten Sorgerechtsverfahrens wurde auf Anordnung des Gerichts das Kind im Oktober 2009 für drei Tage der ASt. zur Umgangsausübung übergeben und danach wieder vom AGg. abgeholt. Durch Urteil des Friedensgerichts wurde u.a. beiden Elternteilen die Ausübung der elterlichen Gewalt gewährt sowie der Aufenthalt des Kindes für die Zeit vom 16.12.2009 bis zum 15.3.2010 bei der ASt. und danach abwechselnd für je einen Monat bei dem AGg. und einen Monat bei der ASt. bestimmt. Diese Regelung zur Aufenthaltsbestimmung wurde jedoch nicht umgesetzt. Durch Urteil des Friedensgerichts wurde daraufhin der ASt. die „exklusive elterliche Gewalt“ über das Kind zugesprochen und bestimmt, dass das Kind ausschließlich bei ihr wohnen wird, und das Urteil für vorläufig vollstreckbar erklärt. Es handelt sich um eine Säumnisentscheidung, gegen die der AGg. „Rechtsmittel“ eingelegt hat. Hierüber ist noch nicht entschieden.

Durch den angefochtenen Beschluss hat das FamG die Anträge der – zum Termin nicht persönlich erschienenen – ASt. nach Anhörung des AGg. zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich die „sofortige“ Beschwerde der ASt.

Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]II. In der Sache hat das Rechtsmittel den angestrebten Erfolg und führt zu der aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Abänderung des angefochtenen Beschlusses. Der zulässige Antrag ist begründet.

[2]Die von der Kindesmutter erstrebte Rückführung bzw. Herausgabe des Kindes richtet sich nach dem HKiEntÜ – Belgien und Deutschland sind Vertragsstaaten des HKiEntÜ (Staudinger-Pirrung, BGB, Neub. 2009, Vor D zu Art. 19 EGBGB Rz. D 14) – i.V.m. Art. 11 EuEheVO. Die zu treffende Sachentscheidung ist keine Entscheidung zum Sorgerecht (Art. 19 HKiEntÜ) und beruht auf einer summarischen Tatsachenprüfung (Völker-Clausius, Sorge- und Umgangsrecht in der Praxis, 3. Aufl., § 11 Rz. 135). Dabei sind die Ermittlungen nur soweit auszudehnen, wie es mit dem Eilcharakter des Verfahrens (§ 38 IntFamRVG) in Einklang zu bringen ist.

[3]Die Entscheidung des FamG, dass das HKiEntÜ vorliegend nicht anwendbar ist und die Voraussetzungen einer Rückführungsanordnung gemäß Art. 12 i.V.m. Art. 3 HKiEntÜ nicht vorliegen, kann nach dem Ergebnis der Beschwerdeverhandlung keinen Bestand haben.

[4]Nach Art. 12 I HKiEntÜ ordnet das zuständige Gericht die sofortige Rückgabe des Kindes an, wenn das Kind im Sinne von Art. 3 HKiEntÜ widerrechtlich verbracht oder zurückgehalten worden ist und bei Eingang des Antrags bei dem Gericht oder der Verwaltungsbehörde des Vertragsstaats, in dem sich das Kind befindet, eine Frist von weniger als einem Jahr seit dem Verbringen oder Zurückhalten verstrichen ist. Voraussetzung für die Anwendung des HKiEntÜ ist – neben der hier nicht problematischen Altersgrenze des Kindes in Art. 4 Satz 2 HKiEntÜ – nach Art. 4 Satz 1 HKiEntÜ der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes in einem Vertragsstaat unmittelbar vor dem ersten geltend gemachten rechtswidrigen Verhalten, also dem Beginn der Entführung über eine Grenze (Staudinger-Pirrung aaO Rz. D 34). Widerrechtlich in einen Vertragsstaat verbracht wird ein Kind, wenn es sich in einem anderen Vertragsstaat gewöhnlich aufhält (Art. 4 Satz 1 HKiEntÜ) und von dort unter Verletzung eines Sorgerechts über die Grenze des erstgenannten Vertragsstaats gebracht wird; eine Rückführungsanordnung nach dem HKiEntÜ setzt mithin stets voraus, dass ein Kind widerrechtlich in einen Vertragsstaat verbracht oder dort zurückgehalten wird, der verschieden ist von demjenigen Vertragsstaat, in dem der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes begründet worden ist (OLG Saarbrücken, Beschl. vom 17.4.2003 – 6 UF 21/03 m.w.N.).

[5]Das Verbringen des Kindes durch den Kindesvater in die Bundesrepublik Deutschland mit dem Ziel der dauerhaften Aufenthaltsnahme war widerrechtlich im Sinne von Art. 3 HKiEntÜ. Im Streitfall hat das FamG ein widerrechtliches Verbringen oder Zurückhalten des Kindes im Sinne des HKiEntÜ mit der Begründung verneint, dass das Kind in Belgien keinen gewöhnlichen Aufenthalt gehabt habe. Da das Kind sich entspr. der Planung der Eltern nur wenige Tage aus Anlass der Geburt in L. befunden habe und es der Wille beider sorgeberechtigten Elternteile gewesen sei, dass das Kind alsbald nach Deutschland gebracht werde und dort aufwachsen solle, sei der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes nicht in Belgien, sondern mit der Verbringung nach N. in Deutschland begründet worden. Aufgrund des Ergebnisses der Anhörung sei das Gericht davon überzeugt, dass die Sachdarstellung des Kindesvaters zutreffe, diejenige der Kindesmutter dagegen falsch sei und lediglich der Dramatisierung habe dienen sollen.

[6]Dieser im Tatsächlichen wesentlich auf das Ergebnis der erstinstanzlichen Anhörung des Kindesvaters gestützten Sichtweise des FamG kann im Lichte des Ergebnisses der Beschwerdeverhandlung nicht gefolgt werden. Die zum Termin vor dem FamG geladene Kindesmutter hatte ihre Teilnahme kurzfristig mit der Begründung abgesagt, dass sie keinen Aufenthaltsstatus besitze, der es ihr erlaube, Belgien zu verlassen (bzw. danach wieder einzureisen). Der Senat hat es für wichtig erachtet, der Kindesmutter durch entspr. Terminsanberaumung die Möglichkeit zu eröffnen, die Modalitäten ihrer Aus- bzw. Wiedereinreise aus Anlass einer persönlichen Teilnahme an der Beschwerdeverhandlung mit den zuständigen belgischen Entscheidungsträgern zu klären, wovon sie rechtzeitig Gebrauch gemacht und am Senatstermin vom 27.10.2010 persönlich teilgenommen hat. Der Senat hat in der mündlichen Verhandlung hernach beide Kindeseltern persönlich angehört und die vom Kindesvater benannten Zeuginnen H. S. und A. S.-B. sowie die von der Kindesmutter zum Termin gestellte Zeugin C. v. G. vernommen. Aufgrund des Ergebnisses der Beschwerdeverhandlung steht mit dem bei summarischer Tatsachenprüfung notwendigen Grad an Gewissheit fest, dass der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes mit der Geburt in Belgien begründet und das Kind am 31.8.2009 vom AGg. im Sinne von Art. 3 HKiEntÜ widerrechtlich in die Bundesrepublik Deutschland verbracht wurde.

[7]Das HKiEntÜ enthält keine Bestimmung des Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts. Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts ist auf völkerrechtlicher Ebene autonom und einheitlich zu bestimmen, sodass sich ein unmittelbarer Rückgriff auf nationale Wertungen verbietet (eingehend OLG Frankfurt, FamRZ 2006, 883 m.w.N. (IPRspr 2006-81)). In Anlehnung an den Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts in Art. 8 I EuEheVO kommt es – ähnlich demjenigen des MSA – auf den tatsächlichen Mittelpunkt der Lebensführung, den Daseinsschwerpunkt des Kindes an. Dabei handelt es sich um den Ort, der Ausdruck einer gewissen sozialen und familiären Integration des Kindes ist, wobei es Sache des nationalen Gerichts ist, unter Berücksichtigung aller tatsächlichen Umstände des Einzelfalls den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes festzustellen (EuGH, FamRZ 2009, 843 m. Anm. Völker, FamRBInt 2009, 53 f.; Völker, FamRZ 2010, 157, 160). Zusätzlich ist zu berücksichtigen, dass entspr. dem Schutzzweck des HKiEntÜ beim minderjährigen Kind sich der gewöhnliche Aufenthalt nicht vom Aufenthalt oder Wohnsitz des Sorgeberechtigten ableitet, sondern selbständig zu ermitteln ist (BGH, FamRZ 1997, 1070 (IPRspr. 1997 Nr. 99); OLG Frankfurt aaO; OLG Hamm, FamRZ 1999, 948 (IPRspr. 1998 Nr. 109)). Der regelmäßig vorausgesetzte tatsächliche, mindestens zeitweise physische Aufenthalt soll im Regelfall entweder zu durch eine gewisse Mindestdauer bekräftigten Bindungen geführt haben oder entspr. dem objektiv erkennbaren Willen des (allein) Sorgeberechtigten bzw. der gemeinsamen Sorgerechtsinhaber auf eine solche Mindestdauer angelegt sein; er kann dann auch sofort nach einem Aufenthaltswechsel zum gewöhnlichen werden (Staudinger-Pirrung aaO Rz. D 35 m.w.N.).

[8]Zwar bleiben nach der persönlichen Anhörung der Kindeseltern Fragen hins. der Lebensumstände des Ehepaares zwischen der Eheschließung und der Geburt offen, da die Kindeseltern an ihren diesbezüglich divergierenden Sachdarstellungen festgehalten haben. Während die Kindesmutter angegeben hat, dass sie auch nach der Eheschließung in L. gelebt habe und lediglich aus Anlass des Hochzeitsfests am 26.1.2009 und weitere zwei Mal für jeweils drei Tage in Deutschland gewesen sei, wohingegen der Kindesvater weiter in Deutschland gelebt und gearbeitet und sie nach Möglichkeit in L. besucht habe, hat der Kindesvater bekundet, ab 7.6.2008 ununterbrochen mit der Kindesmutter in N. gewohnt zu haben; am Anfang eines jeden Monats sei er mit ihr nach L. gefahren, um – wie sie ihm erklärt habe – Angelegenheiten betreffend ‚ihre Papiere’ pp. zu klären, während der Schwangerschaft zusätzlich zu den jeweiligen Vorsorgeuntersuchungen, da ihre Krankenversicherungskarte nur Gültigkeit in Belgien besessen habe. Welche der Versionen zutrifft, ist nicht abschließend zu klären, zumal auch die von beiden Kindeseltern zur Stützung ihrer jeweiligen Darstellung vorgelegten schriftlichen Bestätigungen unbeteiligter Zeugen schon mangels hinreichender inhaltlicher Aussagekraft keinen letztgültigen Aufschluss hierüber zu geben vermögen. Das Nämliche gilt im Ergebnis auch für diejenigen Umstände, unter denen das Kind am 31.8.2009 in die Obhut des Kindesvaters gelangt und von diesem in die Bundesrepublik Deutschland verbracht worden ist, wobei die Kindesmutter in ihrer Anhörung vor dem Senat eine gemeinsame Vorstellung der Kindeseltern dahin, dass die Kindesmutter, wenn das Kind da sei, mit einem Visum nach Deutschland kommen und man dann gemeinsam in Deutschland leben wolle, durchaus eingeräumt hat. Streitentscheidend ist indes, dass diese – mehr allgemeine – Lebensplanung unter den gegebenen Umständen nicht die rechtlich begründete Annahme rechtfertigt, dass in Belgien, wo sich das Kind ersichtlich im Einvernehmen der Kindeseltern nach der Geburt bis zur Verbringung in die Bundesrepublik Deutschland durch den Kindesvater in der Obhut der Kindesmutter tatsächlich aufgehalten hat, kein gewöhnlicher Aufenthalt des Kindes im Sinne des HKiEntÜ begründet wurde, zumal der gewöhnliche Aufenthalt bei einem erst wenige Tage alten Neugeborenen kaum durch weitere integrative Elemente – wie z.B. Sprachkompetenzen, soziale Kontakte im Aufenthaltsland pp. – untermauert sein kann. Unumstritten bestand zwischen den Kindeseltern schon wegen des allein dort bestehenden Krankenversicherungsschutzes der Kindesmutter ersichtlich Einigkeit darüber, dass das Kind in Belgien zur Welt gebracht werden sollte. Nach dem Ergebnis der Anhörung beider Kindeseltern geht der Senat weiter davon aus, dass – unbeschadet bestehender gemeinsamer Vorstellungen über ein künftiges familiäres Zusammenleben in Deutschland – nach dem gleichfalls übereinstimmenden Willen der Eltern die Kindesmutter und das in ihrer Obhut befindliche Kind jedenfalls so lange ihren Aufenthalt in Belgien beibehalten sollten, bis die rechtlichen Voraussetzungen für eine – legale – Übersiedlung von Mutter und Kind zum Kindesvater nach N. geschaffen waren. Dies ergibt sich nämlich nicht nur aus der Anhörung der Kindesmutter, sondern namentlich auch aus der Einlassung des Kindesvaters vor dem Senat, der seine bereits während der Schwangerschaft der Kindesmutter begonnenen diesbezüglichen Bemühungen gegenüber den zuständigen Behörden geschildert hat, nach deren Ergebnis der Erhalt einer Aufenthaltsgestattung der Kindesmutter in Deutschland vor der Niederkunft als ausgeschlossen und es vielmehr als sinnvoll erachtet worden sei, die Geburt abzuwarten und das Kind zunächst auf dem Standesamt in Belgien anzumelden, um sodann eine Familienzusammenführung ins Werk zu setzen. Der Kindesvater hat in der Anhörung zu erkennen gegeben und nicht zuletzt mit diesen Aktivitäten auch deutlich gemacht, eine gemeinsame Einreise von Mutter und Kind in die Bundesrepublik und dies nur bei Vorliegen der Voraussetzungen für einen legalen Aufenthaltsstatus beider in Deutschland angestrebt zu haben. Hiervon ausgehend waren sich die Kindeseltern ersichtlich darüber im Klaren und stand jedwede Abrede über einen ins Auge gefassten künftigen Nachzug der Restfamilie nach Deutschland unter dem Vorbehalt, dass und zu welchem Zeitpunkt die rechtlichen Einreisemodalitäten geklärt werden konnten, was im Übrigen weder bis zum 31.8.2009 noch danach gelungen war. Unter diesen Umständen ist der Senat davon überzeugt, dass – entgegen dem Verständnis des FamG – der Aufenthalt des Kindes in Belgien nach dem übereinstimmenden Willen der Kindeseltern nicht von vornherein lediglich auf wenige Tage, sondern zunächst auf ungewisse Dauer nur angelegt sein konnte und auch war, was nach Lage der Dinge den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes im Sinne des HKiEntÜ in Belgien begründet. Entscheidend gegen die Sichtweise des Kindesvaters sprechen weitere, im Wesentlichen unstrittige Gegebenheiten des Falls. Zum einen hat der Kindesvater bei der standesamtlichen Geburtsanmeldung am 24.8.2009 im Rathaus in L. – wie urkundlich belegt ist und von ihm auch nicht in Abrede gestellt wird – für die Kindesmutter deren Wohnanschrift in Belgien angegeben. Weiterhin hat die Kindesmutter noch am Abend des 31.8.2009 Strafanzeige wegen Entführung des Kindes gegen den Kindesvater erstattet und unverzüglich familiengerichtliche Schritte zur Wahrung ihrer sorgerechtlichen Position in Belgien eingeleitet. Schließlich hat der Kindesvater – wie von der Kindesmutter zweitinstanzlich vorgetragen und von der im Senatstermin vernommenen Zeugin v.G. im Übrigen auch bestätigt wurde – insbes. in dem durch Urteil des Friedensgerichts vom 10.12.2009 ... beschiedenen ersten familiengerichtlichen Verfahren, in dem er anwaltlich vertreten und zu den Terminen auch erschienen war, zu keinem Zeitpunkt die Zuständigkeit der belgischen Gerichte unter dem Aspekt des fehlenden gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes in Belgien gerügt. Unbeschadet verbleibender Unklarheiten im Übrigen – wie o.a. – steht für den Senat unter Gesamtwürdigung dieser Gegebenheiten ohne begründete Zweifel fest, dass der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes vor seiner Verbringung nach Deutschland in Belgien begründet war.

[9]Das Verbringen des Kindes nach Deutschland war widerrechtlich. Gemäß Art. 3 I HKiEntÜ gilt das Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes als widerrechtlich, wenn a) dadurch das Sorgerecht verletzt wird, das einer Person, Behörde oder sonstigen Stelle allein oder gemeinsam nach dem Recht des Staats zusteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und b) dieses Recht im Zeitpunkt des Verbringens oder Zurückhaltens allein oder gemeinsam tatsächlich ausgeübt wurde oder ausgeübt worden wäre, falls das Verbringen oder Zurückhalten nicht stattgefunden hätte. Nach Abs. 2 der Vorschrift kann das Sorgerecht dabei insbes. kraft Gesetzes, aufgrund einer gerichtlichen oder behördlichen Entscheidung oder aufgrund einer nach dem Recht des betreffenden Staats wirksamen Vereinbarung bestehen. Eine Verletzung des Sorgerechts liegt in jedem Verbringen oder Zurückhalten durch den AGg. oder einen Dritten zu seinen Gunsten, das die Ausübung des Sorgerechts oder auch nur des gemeinsamen Aufenthaltsbestimmungsrechts (vgl. dazu BGH, FamRZ 2010, 1060 mit Anm. Völker) durch den Mitsorgeberechtigten beeinträchtigt, d.h. es ihm tatsächlich unmöglich macht, alle oder einzelne Befugnisse oder Verpflichtungen des Sorgerechtsinhabers wahrzunehmen, und kann nach weitgehend unbestrittener Auffassung auch in der Entziehung durch einen Mitsorgeberechtigten gegenüber dem anderen liegen (Staudinger-Pirrung aaO Rz. D 33). An die Voraussetzungen der tatsächlichen Ausübung des Sorgerechts sind keine allzu hohen Anforderungen zu stellen. Durch dieses Erfordernis sollen nur Sorgerechtsverhältnisse ausgeschlossen werden, bei denen die gesetzlichen oder vereinbarten Rechte und Pflichten überhaupt nicht, auch nicht hin und wieder oder in Ansätzen auch im Umfang eines Umgangsrechts wahrgenommen werden (Staudinger-Pirrung aaO Rz. D 32). Ob das (Mit-)Sorgerecht eines Elternteils verletzt worden ist, ist – verfassungsrechtlich unbedenklich (BVerfG, FamRZ 1997, 1269) (IPRspr. 1997 Nr. 101b) – nach dem Recht des Staats zu beurteilen, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Anwendbar ist im Streitfall folglich das belgische Recht, nach dessen Art. 373, 374 Cc den Kindeseltern das Sorgerecht für ihre gemeinsame Tochter zum Zeitpunkt der Verbringung nach Deutschland unzweifelhaft gemeinsam zustand und von der Kindesmutter insoweit auch ausgeübt wurde.

[10]Die Jahresfrist in Art. 12 I HKiEntÜ, für die auf den Eingang des Rückführungsantrags bei dem zuständigen Gericht abzustellen ist (Völker-Clausius aaO Rz. 106 m.w.N.), ist gewahrt.

[11]Versagungsgründe nach Art. 13 Satz 1 HKiEntÜ liegen nicht vor.

[12]Nach Art. 13 I lit. a HKiEntÜ ist das Gericht des ersuchten Staats nicht verpflichtet, die Rückgabe des Kindes anzuordnen, wenn die Person, die sich der Rückgabe – wie hier der Kindesvater – widersetzt, nachweist, dass die Person, der die Sorge für das Kind zustand, dem Verbringen oder Zurückhalten zugestimmt oder dieses nachträglich genehmigt hat. Eine solche Zustimmung kann nicht nur ausdrücklich, sondern u.U. auch konkludent erteilt werden (OLG Stuttgart, FamRZ 2009, 2017 (IPRspr 2009-94); OLG Nürnberg, FamRZ, 2009, 240 (IPRspr 2008-80); Völker-Clausius aaO Rz. 110 ff.). Bei der Beurteilung dessen kommt es darauf an, wie der Kindesvater das Verhalten der Kindesmutter bei objektiver Betrachtung auffassen musste; entscheidend für die Auslegung dieses Verhaltens ist also der ‚objektive Empfängerhorizont’ (OLG Stuttgart aaO; OLG Nürnberg aaO; OLG Karlsruhe, FamRZ 2006, 1699, 1700 (IPRspr 2006-83) mit Anm. Völker in juris-PR-FamR 4/2007). Sowohl an die Zustimmung als auch an eine etwaige nachträgliche Genehmigung sind strenge Anforderungen – auch an die Beweiswürdigung – zu stellen (BVerfG, Beschl. vom 11.10.2006 – 1 BvR 1796/06, zit. n. juris; OLG Nürnberg, FF 2010, 333 (IPRspr 2010-118); vgl. auch Völker-Clausius aaO). Erforderlich ist insbes., dass sich die Zustimmung oder Genehmigung auf einen dauerhaften Aufenthaltswechsel beziehen, wohingegen eine Zustimmung oder Genehmigung eines auf eine bestimmte Zeit beschränkten Aufenthaltswechsels nicht genügen. Eine Zustimmung der Kindesmutter zur dauerhaften Verbringung des Kindes nach Deutschland, mit deren Vorliegen das FamG sich – von seinem tatsächlichen und rechtlichen Standpunkt ausgehend konsequent – nicht befasst hat, kann nach dem Ergebnis der Beschwerdeverhandlung bei dem hier anzulegenden strengen Maßstab nicht festgestellt werden. Zwar haben der Kindesvater selbst und die seine diesbezüglichen Angaben im Wesentlichen bestätigenden Zeuginnen H. S. und A. S.-B. – die Mutter und die Schwester des Kindesvaters, die ihn unstreitig am 31.8.2009 nach L. begleitet hatten – übereinstimmend geschildert, dass der zunächst durchaus harmonisch verlaufene Besuch bei Mutter und Kind mit Erscheinen des Onkels und weiterer Verwandter der Kindesmutter eine Wendung genommen habe, weil der Onkel in dem sich entwickelnden Gespräch wiederholt vom Kindesvater verlangt habe, dass er mit seiner Familie in Belgien leben solle und einen Wegzug der Kindesmutter nach Deutschland kategorisch abgelehnt habe. Nachdem der Onkel mehrfach erklärt habe, wenn der Kindesvater damit nicht einverstanden sei, solle er seine Tochter nehmen und gehen, habe man dem Folge geleistet und mit dem Kind die Wohnung verlassen bzw. sei – so die Zeugin A. S.-B. – praktisch ‚hinausgeworfen’ worden. Auch bei unterstellter Richtigkeit dieser Sachdarstellung, die von der Kindesmutter allerdings nachhaltig bestritten wurde und wird, ist nach dem o.a. Maßstab eine rechtserhebliche Zustimmung im Sinne von Art. 13 I lit. a HKiEntÜ – sei es ausdrücklich oder konkludent – hieraus nicht zu entnehmen. Es liegt auf der Hand, dass der Onkel der Kindesmutter – der sich nach übereinstimmenden Aussagen des Kindesvaters und der Zeuginnen als Wortführer der Familie der Kindesmutter gerierte – nicht berufen war, für die Kindesmutter rechtsverbindliche Erklärungen in Sorgerechtsfragen abzugeben, wohingegen die Kindesmutter als (Mit)Sorgerechtsinhaberin – nach den auch insoweit übereinstimmenden Bekundungen – nur dabeigesessen und nichts gesagt habe. Dass der Kindesvater dem Schweigen der Kindesmutter nach Lage der Dinge nicht den Erklärungswert einer jedenfalls konkludenten Zustimmung durch die Kindesmutter in Folge Billigung der Erklärungen des Onkels entnehmen konnte und tatsächlich auch nicht entnommen hat, erhellt nach Überzeugung des Senats nachdrücklich aus seiner weiteren Aussage, dass sie auch ‚nichts habe sagen dürfen’, weil der Onkel das Familienoberhaupt sei. Hatte der Kindesvater mithin selbst erkannt, dass der Kindesmutter eine eigene Willensbekundung aufgrund ihrer Position im Familienverband zu diesem Zeitpunkt praktisch verschlossen war, ist für die Annahme einer verbindlichen Zustimmung der Kindesmutter zur Verbringung des Kindes nach Deutschland auf dieser Grundlage auch aus der maßgeblichen objektivierten Sicht kein Raum. Nichts anderes gilt im Ergebnis auch dann, wenn man dem Kindesvater darin folgt, dass er – was von der Kindesmutter ebenfalls bekämpft wird – am darauf folgenden 1.9.2009, unverrichteter Dinge von der deutschen Botschaft in Brüssel kommend, von der Großmutter der Kindesmutter durch die verschlossene Haustür mit den Worten abgewiesen worden sei, er solle mit dem Kind verschwinden und die Kindesmutter in Ruhe lassen. Auch insoweit fehlt es zunächst an einer verbindlichen Erklärung der hierzu berufenen Kindesmutter selbst, die bei der geschilderten Situation nicht einmal feststellbar selbst zugegen war. Aber auch wenn man dem Kindesvater abnimmt, in dieser ‚notstandsähnlichen’ Situation keine andere Wahl gesehen zu haben, als das Kind mit zu sich nach N. zu nehmen, rechtfertigt dies jedenfalls nicht dessen dauerhafte Verbringung nach Deutschland, sondern war der Kindesvater gehalten, selbst umgehend eine gerichtliche Klärung der Sorgerechts- bzw. Aufenthaltsfrage durch die zuständigen Gerichte in Belgien herbeizuführen, was er jedoch nicht getan hat.

[13]Eine nachträgliche Genehmigung der Verbringung des Kindes durch die Kindesmutter liegt ebenfalls nicht vor. Bei dem hier anzulegenden strengen Prüfungsmaßstab hat der Senat nicht ausgeräumte Zweifel, den vom Kindesvater dargelegten wiederholten Erklärungen der Kindesmutter anlässlich verschiedener Telefonate zwischen den Kindeseltern – u.a. am 12.6.2010, zu welchem der Kindesvater eine Abschrift zu den Gerichtsakten gereicht hat –, dass er – sinngemäß – das ‚Kind behalten und sie in Ruhe lassen’ solle, unter den hier gegebenen Umständen einen dahingehenden ernstlich gemeinten und den Augenblick überdauernden verbindlichen Erklärungswert beizulegen, insbes. wenn aus der gebotenen objektiven Empfängersicht weiter berücksichtigt wird, dass derartige Äußerungen in einer emotional und durch einen Partnerschaftskonflikt geprägten Gesprächssituation am Telefon gefallen sind und in evident unauflösbarem Gegensatz zum objektiv feststellbaren Verhalten der Erklärenden – wie hier der Kindesmutter, welche die ihr zu Gebote stehenden rechtlichen Schritte zur Wahrung ihrer sorgerechtlichen Position unternommen hatte – im Übrigen stehen. Soweit mit der Beschwerde einer Verwertung in diesem Zusammenhang heimlich gefertigter Aufnahmen von Telefonaten im Verfahren widersprochen wird, bedarf dies – da nicht entscheidungserheblich – hiernach keiner abschließenden Beurteilung, wobei der Senat sich an einer Verwertung desjenigen, was der Kindesvater aufgrund eigener Wahrnehmung über den Inhalt telefonischer Äußerungen der Kindesmutter bekundet hat, allerdings nicht gehindert sieht. Die Nichterweislichkeit einer Einwilligung oder Genehmigung geht hier zulasten des Kindesvaters.

[14]Nach Art. 13 I lit. b HKiEntÜ unterbleibt die Anordnung der Rückführung bei dem Nachweis, dass die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringt. Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, dass das HKiEntÜ grundsätzlich dem Ziel dient, die Beteiligten von einem widerrechtlichen Verbringen des Kindes ins Ausland abzuhalten und die Sorgerechtsentscheidung am Ort des früheren gewöhnlichen Aufenthaltes des Kindes sicherzustellen. Die Berücksichtigung von zwangsläufig mit jeder Rücküberstellung verbundenen Belastungen für das Kind im Rahmen der Folgenabwägung würde diesem Schutz des Kindes widersprechen. Deshalb ist eine enge Auslegung von Art. 13 Satz 1 lit. b HKiEntÜ geboten und können nur ungewöhnlich schwerwiegende Beeinträchtigungen des Kindeswohls einer Rückgabe entgegenstehen (BVerfG, FamRZ 1999, 85, 87 (IPRspr. 1998 Nr. 108b); Völker-Clausius aaO Rz. 114 f.; Hoppenz-Hohloch, Familiensachen, 9. Aufl., C. IV Art. 13 Rz. 7). Solche liegen hier nicht vor. Soweit die Verfahrensbeiständin geltend macht, dass im Streitfall die Voraussetzungen des Art. 13 I lit. b HKiEntÜ erfüllt seien, sieht der Senat durchaus die mit einer Rückführung zum jetzigen Zeitpunkt für das Kind unabweisbar verbundenen Schwierigkeiten, vermag aber unter Abwägung aller Umstände eine derart ungewöhnlich schwerwiegende Beeinträchtigung in dem bisherigen Vorbringen, dass das – jetzt – 14 Monate alte Kind fast sein gesamtes bisheriges Leben im Haushalt des Kindesvaters verbracht habe, demzufolge ‚auf ihn und die in die Betreuung eingebundenen Familienangehörigen geprägt sei’, deswegen zu befürchten stehe, dass ein abrupter Wechsel in der Betreuungsperson bei dem Kind psychische Schäden hervorrufen könnte, da gerade im ersten Lebensjahr die Prägung eines Kindes stattfinde, die auch wichtig für die Entwicklung des sog. Urvertrauens sei, und letztlich auch zu bedenken sei, dass die Kindesmutter bisher überhaupt keine Erfahrungen im Umgang mit dem Kind und seiner Pflege habe, nicht zu erkennen, zumal das für das Sorgerechtsverfahren in Belgien zuständige Gericht nach Maßgabe der vorliegenden Entscheidungen ersichtlich keine diesbezüglichen Bedenken hatte und davon auszugehen ist, dass dieser Frage unter Ausschöpfung der im dort zu beachtenden rechtlichen Rahmen zu Gebote stehenden Erkenntnismöglichkeiten nachgegangen wurde. Hinreichende Anhaltspunkte hierfür sind auch im Übrigen nicht gehaltvoll dargetan oder ersichtlich, sodass der Senat – auch in Anbetracht des Eilcharakters des vorliegenden Verfahrens (§ 38 IntFamRVG) – von weiteren Ermittlungen in dieser Richtung Abstand genommen hat. Einen über die Zentrale Behörde erbetenen Bericht zur sozialen Lage der Kindesmutter in Belgien hat der Senat nicht mehr rechtzeitig zum Termin erhalten, was aus den nämlichen Erwägungen eine Vertagung zwecks weiterer Aufklärung indes nicht gerechtfertigt erscheinen ließ.

[15]Eine Versagung nach Art. 13 II HKiEntÜ (dazu BVerfG, FamRZ 2006, 1261) kommt unter den gegebenen Umständen nicht in Betracht.

[16]Eine Kindesanhörung im Verfahren erschien im Hinblick auf das Alter und den Reifegrad des zum Zeitpunkt der Beschwerdeverhandlung erst 14 Monate alten Kindes unangebracht (Art. 11 II EuEheVO) und ließ keine zusätzlichen Erkenntnisse erwarten, sodass der Senat hiervon abgesehen hat.

Fundstellen

LS und Gründe

FamRZ, 2011, 1235
ZKJ, 2011, 67

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