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Verfahrensgang

BGH, Beschl. vom 27.06.2007 – XII ZB 114/06, IPRspr 2007-176

Rechtsgebiete

Zuständigkeit → Durchführung des Verfahrens (bis 2019)
Juristische Personen und Gesellschaften → Gesellschaftsstatut, insbesondere Rechts- und Parteifähigkeit

Leitsatz

§ 119 I Nr. 1 lit. b GVG ist nicht anwendbar, wenn eine Gesellschaft einen allgemeinen Gerichtsstand (auch) im Inland hat (Schein-Auslandsgesellschaft, hier: Limited Company). Auf den Umstand, dass sie in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union einen weiteren allgemeinen Gerichtsstand hat (vergleiche Art. 60 EuGVO), kommt es dann nicht an. Eine Berufung ist daher zum Landgericht, nicht zum Oberlandesgericht einzulegen.

Rechtsnormen

EGV-Amsterdam Art. 12; EGV-Amsterdam Art. 43; EGV-Amsterdam Art. 48; EGV-Amsterdam Art. 249
EUGVVO 44/2001 Art. 2; EUGVVO 44/2001 Art. 59; EUGVVO 44/2001 Art. 60
GVG § 72; GVG § 119
ZPO § 17; ZPO § 21; ZPO § 522; ZPO § 574

Sachverhalt

Der Kl. macht gegen die Bekl. zu 1), eine Ltd. mit satzungsmäßigem Sitz in Birmingham (Vereinigtes Königreich), Miete für die in Düsseldorf erfolgte Überlassung zweier Pkw und gegen die für die Bekl. zu 1) handelnden Bekl. zu 2) und 3), wohnhaft in Deutschland, Schadensersatz wegen unerlaubter Handlung geltend.

Das am 10.1.2006 verkündete Urteil, mit dem das AG der Klage stattgegeben hat, wurde den Bekl. am 14.1.2006 zugestellt. Hiergegen haben die Bekl. am 10.2.2006 beim LG Berufung eingelegt. Am 10.5.2006 wies das LG die Bekl. darauf hin, dass es gemäß § 119 I Nr. 1 lit. b GVG für die Berufung nicht zuständig sei. Demgegenüber machten die Bekl. geltend, dass die Bekl. zu 1), eine Ltd., also eine Gesellschaft englischen Rechts, wie von der Kl. bereits in erster Instanz unwidersprochen vorgetragen, in Birmingham lediglich einen Briefkastensitz unterhalte, dort aber keine Geschäfte betreibe, diese vielmehr ausschließlich und unmittelbar in Deutschland über die im Handelsregister Düsseldorf eingetragene Zweigniederlassung führe.

Mit dem angefochtenen Beschluss hat das LG die Berufung der Bekl. als unzulässig verworfen. Die Bekl. erstreben mit ihrer Rechtsbeschwerde die Zurückverweisung der Sache an das LG.

Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]II. 1. Die Rechtsbeschwerde ist gemäß §§ 574 I Nr. 1, 522 I 4 ZPO statthaft. Sie ist auch im Übrigen zulässig, weil die Rechtssache wegen der weitgehend ungelösten Anwendungsprobleme des § 119 I Nr. 1 lit. b GVG grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 574 II Nr. 1 ZPO hat.

[2]2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Das LG Düsseldorf ist gemäß § 72 GVG funktionell zur Entscheidung über die Berufung der Bekl. zuständig.

[3]a) Im Ansatz zutreffend geht das LG allerdings davon aus, dass zur Entscheidung über die Berufung der Bekl. das OLG funktionell zuständig wäre, wenn die Voraussetzungen des § 119 I Nr. 1 lit. b GVG vorliegen sollten. Dies ist jedoch entgegen der Meinung des LG nicht der Fall. Nach der genannten Vorschrift sind die OLGe in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten zuständig für die Verhandlung und Entscheidung über die Rechtsmittel in Streitigkeiten über Ansprüche, die von einer oder gegen eine Partei erhoben werden, die ihren allgemeinen Gerichtsstand im Zeitpunkt des Eintritts der Rechtshängigkeit außerhalb Deutschlands hatte. Dies trifft auch auf die Bekl. zu 1) entgegen der Meinung des LG nicht zu.

[4]Richtig ist allerdings dessen Auffassung insofern, als die Bekl. zu 1), weil sie ihren satzungsmäßigen Sitz in Birmingham hat, bei Klageerhebung (auch) einen allgemeinen Gerichtsstand außerhalb Deutschlands hatte. Dieser ergibt sich jedoch nicht, wie das LG meint, aus § 17 I ZPO. Vielmehr ist in Bezug auf die Bekl. zu 1), die ihren satzungsmäßigen Sitz im Vereinigten Königreich hat und gegen die im Inland geklagt wird, der Anwendungsbereich der EuGVO eröffnet. Danach hat die Bekl. zu 1) gemäß Art. 2, 59, 60 EuGVO einen allgemeinen Gerichtsstand im Vereinigten Königreich, weil sie dort ihren satzungsmäßigen Sitz hat. Denn nach Art. 60 I EuGVO haben Gesellschaften und juristische Personen ihren Wohnsitz im Sinne von Art. 2, 59 EuGVO ‚an dem Ort, an dem sich a) ihr satzungsmäßiger Sitz, b) ihre Hauptverwaltung oder c) ihre Hauptniederlassung befindet’. Nach Art. 2 EuGVO haben sie einen allgemeinen Gerichtsstand jeweils in dem Mitgliedstaat, in dem sich ihr Wohnsitz befindet.

[5]Zwar wird z.T. die Meinung vertreten, wegen der Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Wohnsitzes einer Partei nach Art. 59 II EuGVO beurteile sich das Vorliegen eines allgemeinen Gerichtsstands im Sinne von § 119 I Nr. 1 lit. b GVG allein nach deutschem Recht, was gemeinschaftsrechtlich zulässig sei (vgl. Zöller-Gummer, ZPO, 26. Aufl., § 119 GVG Rz. 14). Nach der Gegenansicht ist hingegen auch die EuGVO zu berücksichtigen (vgl. BGHZ 155, 46, 49 (IPRspr. 2003 Nr. 156); BayObLG, MDR 2005, 1243 (IPRspr 2005-112); Thomas-Putzo-Hüßtege, ZPO, 28. Aufl., § 119 GVG Rz. 8a; Kissel-Mayer, GVG, 4. Aufl., § 119 Rz. 27b). Der Senat folgt der zuletzt genannten Ansicht. Zwar mag es richtig sein, dass das Gemeinschaftsrecht einer von Art. 2, 59, 60 EuGVO unabhängigen Auslegung des Begriffs ‚allgemeiner Gerichtsstand’ in § 119 I Nr. 1 lit. b GVG nicht entgegenstünde. Es ist jedoch nicht ersichtlich, dass der Gesetzgeber im Rahmen der Bestimmung der funktionellen Zuständigkeit der Berufungsgerichte die Anwendung der EuGVO, die zwar kein deutsches Recht ist, aber in Deutschland unmittelbar gilt (vgl. Art. 249 II EG), ausschließen und somit dem Begriff ‚allgemeiner Gerichtsstand’ [des] § 119 I Nr. 1 lit. b GVG eine andere Bedeutung als im internationalen Zivilprozessrecht geben wollte. Hinzu kommt, dass es unpraktikabel und verwirrend wäre, den Begriff jeweils unterschiedlich auszulegen. Denn es müssten dann die Parteien und das Berufungsgericht für die internationale Zuständigkeit regelmäßig das Vorliegen eines allgemeinen Gerichtsstands nach der EuGVO und für die funktionelle Zuständigkeit zusätzlich – und nach anderen Kriterien – die Voraussetzungen eines allgemeinen Gerichtsstands im Sinne von § 119 I Nr. 1 lit. b GVG prüfen (vgl. v. Hein, ZZP 116 (2003), 335, 349 ff.).

[6]b) Im Gegensatz zur Meinung der Rechtsbeschwerde hat die Bekl. zu 1) nicht deswegen ihren allgemeinen Gerichtsstand nach § 17 ZPO in Deutschland, weil es sich bei ihr um eine sog. Briefkastenfirma handelt, die ihren tatsächlichen Verwaltungssitz hier hat. Zwar wurde in der Rechtsprechung ursprünglich die Meinung vertreten, dass eine ausländische rechtsfähige Gesellschaft, die ihren tatsächlichen Verwaltungssitz aus einem anderen Mitgliedstaat der EG nach Deutschland verlegt, hier nicht als ausländische juristische Person anzuerkennen, sondern als rechtsfähige Personengesellschaft deutschen Rechts zu behandeln sei (vgl. BGHZ 151, 204 (IPRspr. 2002 Nr. 18)). Auf eine solche Gesellschaft deutschen Rechts wäre zwar § 17 ZPO anwendbar gewesen (vgl. Stein-Jonas-Roth, ZPO, 22. Aufl., § 17 Rz. 10, 11). Nach der neueren Rspr. des BGH ist jedoch im Einklang mit der Rspr. des EuGH davon auszugehen, dass die in einem Mitgliedstaat nach dessen Vorschriften gegründete Gesellschaft in einem anderen Mitgliedsstaat unabhängig vom Ort ihres Verwaltungssitzes in der Rechtsform anzuerkennen ist, in der sie gegründet wurde (BGHZ 154, 185, 189 (IPRspr. 2003 Nr. 13); BGH, Urteil vom 14.3.2005 – II ZR 5/03, NJW 2005, 1648, 1649 (IPRspr 2005-212) m.w.N.). Dies aber bedeutet, dass die Bekl. zu 1), auch als sog. Schein-Auslandsgesellschaft, hier als Limited Company englischen Rechts anzuerkennen ist und sich ihr allgemeiner Gerichtsstand nach der EuGVO bestimmt.

[7]c) Nach Art. 60 I lit. b EuGVO hatte die Bekl. zu 1), da sich ihre Hauptverwaltung in Düsseldorf befindet, bei Eintritt der Rechtshängigkeit einen allgemeinen Gerichtsstand auch im Inland. Zwar haben die Parteien und die Vorinstanzen dies nicht erkannt. Sie sind vielmehr davon ausgegangen, dass die Bekl. zu 1) nach § 21 ZPO in Düsseldorf als dem Gerichtsstand der Niederlassung verklagt werden könne. Dies steht jedoch der Tatsache nicht entgegen, dass die Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 60 I lit. b EuGVO zwischen den Parteien in erster Instanz unstreitig waren und weiterhin unstreitig sind. Entsprechend Art. 48 I EG, der das Niederlassungsrecht der Gesellschaften in der Gemeinschaft regelt, ist Hauptverwaltung der Ort, an dem die Willensbildung und die eigentliche unternehmerische Leitung der Gesellschaft erfolgt (vgl. Kropholler, Europäisches Zivilprozessrecht, 8. Aufl., Art. 60 EuGVO Rz. 2). Diese Voraussetzungen lagen hinsichtlich der Bekl. zu 1) in Düsseldorf vor. Denn der Kl. hat in erster Instanz unbestritten vorgetragen, dass die Bekl. ihre Geschäfte ausschließlich und unmittelbar in Deutschland über die im Handelsregister von Düsseldorf eingetragene Zweigniederlassung führe. Daraus ergibt sich, dass die Geschäftsführung nicht von England aus erfolgte, sondern ‚unmittelbar’ in Deutschland vorgenommen wurde. In Deutschland wurden somit auch die jeweiligen unternehmerischen Entscheidungen getroffen. Damit steht im Einklang, dass die gesetzliche Vertreterin der Bekl. zu 1) nach den unbestrittenen Angaben in der Klageschrift und dem Rubrum des erstinstanzlichen Urteils in W. ansässig ist. Daraus folgt, dass sich die Hauptverwaltung der Bekl. zu 1) bei Eintritt der Rechtshängigkeit im Inland befand, so dass die Bekl. zu 1) zu diesem Zeitpunkt – unstreitig – einen allgemeinen Gerichtsstand nicht nur im Vereinigten Königreich, sondern auch in Deutschland hatte.

[8]d) Damit stellt sich die Frage, ob es, wenn eine Partei einen allgemeinen Gerichtsstand im Inland hat, für die Anwendbarkeit des § 119 I Nr. 1 lit. b GVG ausreicht, dass sie darüber hinaus einen allgemeinen Gerichtsstand im Ausland hat. Dies wird z.T. mit dem Argument bejaht, dass auch bei einem zusätzlichen allgemeinen Gerichtsstand im Inland die Vermutung bestehe, dass der Rechtsstreit internationalprivatrechtliche Probleme aufweise, weshalb die Vorschrift entsprechend ihrem Zweck, Rechtsstreitigkeiten mit internationalem Bezug beim OLG zu konzentrieren, anzuwenden sei (vgl. OLG Karlsruhe, IPRax 2004, 433 (IPRspr. 2003 Nr. 161); MünchKommZPO-Wolf, 2. Aufl., § 119 GVG Rz. 5; v. Hein aaO 350 f.; ders. IPRax 2004, 418).

[9]Dem kann jedoch nach Ansicht des Senats nicht gefolgt werden. Vielmehr liegen die Voraussetzungen des § 119 I Nr. 1 lit. b GVG nicht vor, wenn eine Partei neben einem allgemeinen Gerichtsstand im Ausland auch einen solchen im Inland hat. Denn in der genannten Vorschrift heißt es, dass das OLG in Streitigkeiten über Ansprüche zuständig ist, die von einer oder gegen eine Partei erhoben werden, ‚die ihren allgemeinen Gerichtsstand im Zeitpunkt der Rechtshängigkeit in erster Instanz außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes hatte’. Diese Voraussetzungen aber erfüllt eine Partei nicht, die (auch) in Deutschland einen allgemeinen Gerichtsstand hat (Zöller-Gummer aaO; Kissel-Meyer aaO). Diese am Wortlaut orientierte Auslegung ist vorzuziehen, weil sie eher für Rechtssicherheit sorgt und für die Parteien den Zugang zur Berufungsinstanz klarer regelt und somit den verfassungsrechtlichen Anforderungen (noch) entspricht (vgl. BVerfGE 88, 118, 123 ff.; BGH, Beschl. vom 28.3.2006 – VIII ZB 100/04, NJW 2006, 1808 (IPRspr 2006-154); Zöller-Gummer aaO).

[10]Auch aus gemeinschaftsrechtlichen Gründen scheint es geboten, § 119 I Nr. 1 lit. b GVG in der Weise auszulegen, dass der Zugang zu dem Berufungsgericht für ausländische Gesellschaften im Vergleich zu inländischen möglichst nicht erschwert wird. Denn die Bekl. zu 1), die ihre durch Art. 43, 48 EG garantierte Niederlassungsfreiheit im Binnenmarkt ausübt (vgl. EuGH, Urteil vom 30.9.2003, C-167/01, Slg. 2003 I-10155 Rz. 138 [Inspire Art] = NJW 2003, 3331, 3334), hat nach Art. 12 EG ein Recht auf Gleichbehandlung (vgl. EuGH, Urteil vom 26.9.1996, C-43/95, Slg. 1996, I-4661 Rz. 12 [Data Delecta] = NJW 1996, 3407). Dieses Recht könnte durch eine Zuständigkeitsregelung verletzt werden, die im Gegensatz zur Regelung bei rein innerstaatlichen Fällen nicht klar und eindeutig ist, sodass es für die betroffene ausländische Partei erforderlich erschiene, sicherheitshalber Berufung sowohl beim LG als auch beim OLG einzulegen, was zwar mit zusätzlichen Kosten verbunden wäre, aber in der Lit. empfohlen wird (vgl. z.B. Thomas-Putzo-Hüßtege aaO Rz. 8).

Fundstellen

LS und Gründe

Die AG, 2007, 664
EuZW, 2007, 580
GmbHR, 2007, 1048, mit Anm. Römermann
InVo, 2007, 460
NZG, 2007, 752
RIW, 2007, 869
TranspR, 2007, 486
ZIP, 2007, 1626
IPRax, 2008, 135
NJW-RR, 2008, 551
TranspR, 2008, 486

nur Leitsatz

MDR, 2007, 1333
NZI, 2008, 704

Aufsatz

Ringe/Willemer, EuZW, 2008, 44
von Hein, IPRax, 2008, 112 A
Fölsch, MDR, 2008, 301

Permalink

https://iprspr.mpipriv.de/2007-176

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