Derselbe Anspruch im Sinne des Art. 19 Abs. 2 Brüssel IIa-VO liegt nicht vor, wenn das Verfahren in dem einen Staat die elterliche Sorge und das Verfahren in dem anderen Staat den Umgang betrifft.
Gegenstand des Beschwerdeverfahrens ist die elterliche Sorge für den 5-jährigen Y. und die 2-jährige F. Die Antragstellerin (im Folgenden: Mutter) und der Antragsgegner (im Folgenden: Vater) sind die Eltern der Kinder Y. und F. Aufgrund Sorgeerklärungen vom 01.09.2017 und 16.12.2020 übten sie die elterliche Sorge gemeinsam aus. Zuletzt lebten die Eltern gemeinsam in Frankreich. Am 01.11.2021 zog die Mutter mit den Kindern nach Deutschland. 2022 beantragte die Mutter beim Familiengericht Freiburg, den Umgang des Vaters mit den Kindern im Wege einer einstweiligen Anordnung zu regeln (
Mit Beschluss vom 01.08.2022 übertrug das Amtsgericht - Familiengericht - Freiburg die gesamte elterliche Sorge für die Kinder Y. und F. auf die Mutter allein. Gegen diese Entscheidung wendet sich der Vater mit seiner Beschwerde. Er begehrt die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und die Aussetzung des Verfahrens bis zum rechtskräftigen Abschluss des in Frankreich geführten Sorgerechtsverfahrens. In diesem Verfahren hat der französische Familienrichter in T. mit Urteil vom 12.12.2022 beschlossen, das zuerst angerufene Gericht im Sinne von Art. 19 Abs. 2 Brüssel IIa-VO in Bezug auf die elterliche Verantwortung zu sein. Allerdings erklärte er sich für international unzuständig, über die Anträge des Vaters zu entscheiden. Er führte aus, dass die Kinder seit dem 01.11.2021 ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben. Daher sei das französische Gericht gemäß Art. 8 Abs. 1 Brüssel IIa-VO nicht befugt, über Fragen der elterlichen Verantwortung zu entscheiden. Gegen diese Entscheidung hat der Vater Rechtsmittel eingelegt. Hierüber ist noch nicht entschieden.
[1]II.
[2]Das hiesige Beschwerdeverfahren ist gemäß Art. 19 Abs. 2 Brüssel IIa-VO auszusetzen, bis rechtskräftig geklärt ist, ob französische Gerichte international zuständig sind.
[3]1. Die Entscheidung richtet sich nach der Brüssel IIa-VO.
[4]Die Verordnung (EU) 2019/1111 des Rates vom 25.06.2019 über die Zuständigkeit, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und über internationale Kindesentführungen (Brüssel IIb-VO) findet hinsichtlich des vorliegenden Hauptsacheverfahrens zur elterlichen Sorge keine Anwendung. Sie gilt gemäß Art. 100 Abs. 1 Brüssel IIb-VO nur für am oder nach dem 01.08.2022 eingeleitete erstinstanzliche Verfahren. Eingeleitet wurde das Hauptsacheverfahren zur elterlichen Sorge gemäß Art. 16 Brüssel IIa-VO bereits im April 2022 mit Einreichung der Antragsschrift beim Amtsgericht Freiburg (vgl. Rauscher/Rauscher, EuZPR/EuIPR, 4. Auflage 2015, Art. 64 Brüssel IIa-VO Rn. 4).
[5]2. Die Voraussetzungen des Art. 19 Abs. 2 Brüssel IIa-VO liegen vor. Bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten werden Verfahren bezüglich der elterlichen Verantwortung für ein Kind wegen desselben Anspruchs anhängig gemacht. Das französische Gericht hat sich als das zuerst angerufene Gericht erklärt. Allerdings ist die Zuständigkeit dieses Gerichts noch nicht rechtskräftig geklärt. Bis dahin ist das vorliegende Verfahren daher auszusetzen.
[6]3. Die Entscheidung des französischen Gerichts bindet den Senat zwar nicht, vielmehr ist das Oberlandesgericht auch dann in seiner Entscheidung selbständig, wenn sich - wie vorliegend - ein Gericht des anderen Mitgliedstaates, bei dem ein konkurrierendes Verfahren anhängig ist, bereits als das erstangerufene erklärt hat (vgl. Rauscher, a.a.O., Art. 19 Brüssel IIa-VO Rn. 25).
[7]Der Senat teilt jedoch die Rechtsauffassung des französischen Gerichts, dass vorliegend das Tribunal Judiciaire de T. das zuerst angerufene Gericht im Sinne von Art. 19 Abs. 2 Brüssel IIa-VO in Bezug auf die elterliche Verantwortung ist. Hiergegen spricht insbesondere nicht, dass das umgangsrechtliche Verfahren des Amtsgerichts Freiburg (
[8]Sowohl bei sorgerechtlichen als auch bei umgangsrechtlichen Verfahren handelt es sich gemäß Art. 1 Abs. 1 lit. b, Abs. 2 lit. a Brüssel IIa-VO jeweils um Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung.
[9]Es sind jedoch nicht Verfahren wegen desselben Anspruchs im Sinne des Art. 19 Abs. 2 Brüssel IIa-VO.
[10]a) Der Begriff „desselben Anspruchs“ ist autonom auszulegen (vgl. EuGH FamRZ 2011, 534, juris Rn. 66). Mit diesem zusätzlichen Tatbestandsmerkmal in Art. 19 Abs. 2 Brüssel IIa-VO hat der Verordnungsgeber klargestellt, dass - anders als in Abs. 1 für das Eheband - nicht ausreichend ist, dass die elterliche Verantwortung insgesamt angesprochen ist (vgl. EuGH FamRZ 2015, 2036, juris Rn. 33).
[11]b) Der Begriff „derselbe Anspruch“ ist zunächst unter Berücksichtigung des Regelungsziels von Art. 19 Abs. 2 Brüssel IIa-VO zu definieren, das darin besteht, miteinander unvereinbare Entscheidungen zu verhindern (EuGH FamRZ 2011, 534, juris Rn. 67).
[12]Zwischen den Bereichen Elterliche Sorge und Umgang wird sowohl im internationalen Recht (vgl. Art. 1 Abs. 2 lit. a Brüssel IIa-VO, Art. 1 Abs. 2 lit. a Brüssel IIb-VO, Art. 3 lit. b KSÜ und Art. 5 HKÜ) als auch in den meisten europäischen Rechtsordnungen, darunter auch im innerstaatlichen Recht (vgl. §§ 1671, 1684 BGB), unterschieden. Miteinander unvereinbare Entscheidungen können in den verschiedenen Bereichen im Allgemeinen nicht entstehen, da die Regelungsbereiche grundsätzlich voneinander abgegrenzt sind. Es handelt sich der Sache nach um verschiedene Rechtsschutzbegehren (Entscheidungsgewalt einerseits und Besuchsregelung andererseits) und damit bei wertender Betrachtung um verschiedene Kernpunkte von Streitigkeiten (vgl. zu diesem Begriff: Andrae, Internationales Familienrecht, 4. Auflage 2019, § 2 Rn. 76 mit Hinweis auf EuGH FamRZ 2011, 534, juris Rn. 66 ff.; NK‑BGB/Gruber, 2. Auflage 2012, Art. 19 EheVO, Rn. 13 m.w.N).
[13]Die jeweiligen Verfahren folgen teilweise unterschiedlichen Regelungen (vgl. etwa Art. 41 und 48 Brüssel IIa-VO oder Art. 21 HKÜ) und betreffen folglich nicht denselben Anspruch (Senat vom 06.05.2011 -
[14]Soweit diese Unterscheidung zwischen Elterlicher Sorge und Umgang begrenzt wird auf den Gegensatz zwischen der Unterbringung in einer Pflegefamilie einerseits und dem Umgang mit dem Kind andererseits (so etwa Rauscher, a.a.O., Art. 19 Brüssel IIa-VO, Rn. 40; NK-BGB/Gruber, 2. Auflage 2012, Art. 19 EheVO, Rn. 13), überzeugt dies nicht, insbesondere nicht der Verweis auf die formale Einordnung dieser Bereiche in verschiedene Buchstaben in Art. 1 Abs. 2 Brüssel IIa-VO (in diese Richtung aber die Stellungnahme des Generalanwalts Jääskinen vom 04.10.2010, Rs. C-296/10, Rn. 92). Denn die Bereiche Unterbringung des Kindes in einer Pflegefamilie und Regelung der elterlichen Sorge haben eine größere inhaltliche und rechtliche Nähe zueinander als zum Umgang; sie betreffen daher nach Ansicht des Senats bei einer autonomen Auslegung der Begriffe (s.o. Kernpunkttheorie) deutlicher denselben Anspruch als Sorgerecht und Umgangsrecht und sind dennoch in verschiedenen Buchstaben des Art. 1 Abs. 2 Brüssel IIa-VO gefasst.
[15]Die Bedeutung der Unterscheidung zwischen Sorgerecht einerseits und Umgangsrecht andererseits als verschiedene Ansprüche zeigt sich beispielhaft an der Vorschrift des Art. 9 Brüssel IIa-VO (entspricht Art. 8 Brüssel IIb-VO), die ausdrücklich nur für Umgangsverfahren gilt. Wenn ein Umgangsverfahren nach Art. 19 Abs. 2 Brüssel IIa-VO denselben Anspruch wie ein Sorgerechtsverfahren beträfe, wäre in den Fällen des Art. 9 Brüssel IIa-VO monatelang kein Sorgeverfahren möglich (vgl. dazu Gebauer/Wiedmann/ Frank, Europäisches Zivilrecht, 3. Auflage 2021, Art. 19 Brüssel IIa-VO, Rn. 5 Fn. 9). Zwar mag es wünschenswert sein, dass über die verschiedenen Bereiche der elterlichen Verantwortung betreffend ein Kind von denselben Gerichten entschieden wird. Die Verordnung hat dies jedoch abweichend geregelt. Zu solchen Situationen kann es im Zusammenhang mit dem Aufenthaltswechsel eines Kindes in einen anderen Mitgliedsstaat auch in anderen Konstellationen kommen.
[16]c) Vorliegend führt daher die im Februar 2022 beim Amtsgericht Freiburg beantragte einstweilige Anordnung zum Umgang nicht dazu, dass das Amtsgericht Freiburg auch das erstangerufene Gericht für Verfahren betreffend die elterliche Sorge ist. Dies ist vielmehr - wie das französische Gericht zutreffend festgestellt hat - das Tribunal Judiciaire de T. aufgrund des dort am 09.03.2022 auf Antrag des Vaters eingeleiteten Sorgerechtsverfahrens.