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Verfahrensgang

OLG Karlsruhe, Beschl. vom 06.05.2011 – 5 WF 79/11, IPRspr 2011-261

Rechtsgebiete

Verfahren → Berücksichtigung ausländischer Rechtshängigkeit und Rechtskraft
Freiwillige Gerichtsbarkeit → Namens- und familienrechtliche Sachen (bis 2019)

Leitsatz

In einem Sorgerechtsverfahren darf ein Antrag auf Verfahrenskostenhilfe wegen mangelnder Erfolgsaussicht nicht mit der Begründung zurückgewiesen werden, dass ein Parallelverfahren vor einem früherer angerufenen anderen mitgliedstaatlichen Gericht anhängig sei, wenn dieses mitgliedstaatliche (hier: italienische) Gericht seine Zuständigkeitsprüfung noch nicht abgeschlossen hat und das deutsche Gericht das Verfahren nach Art. 19 II EuEheVO aussetzen muss. Dies gilt zumindest dann, wenn nicht eindeutig ist, ob das Verfahren in dem anderen Mitgliedstaat (hier: Italien) tatsächlich denselben Anspruch wie das inländische Sorgerechtsverfahren betrifft. [LS der Redaktion]

Rechtsnormen

EuEheVO 2201/2003 Art. 19
FamFG § 26; FamFG § 76
ZPO § 114; ZPO § 261

Sachverhalt

Die ASt. hat für ihre Rechtsverfolgung in einem Sorgerechtsverfahren betreffend das Kind V. M. C. um VKH nachgesucht. Das FamG Donaueschingen hat mit dem angefochtenen Beschluss vom 31.1.2011 das Gesuch um VKH zurückgewiesen. Zur Begründung hat das FamG ausgeführt, dass in derselben Sorgerechtssache nach dem Vortrag der ASt. bereits ein Verfahren vor einem italienischen Gericht anhängig sei.

Hiergegen richtet sich die sofortige Beschwerde der ASt. im Schriftsatz ihres Verfahrensbevollmächtigten vom 16.2.2011. Das FamG Donaueschingen hat mit Beschluss der sofortigen Beschwerde nicht abgeholfen und das Verfahren dem OLG Karlsruhe zur Entscheidung vorgelegt.

Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]II. Die statthafte und auch form- und fristgerecht eingereichte sofortige Beschwerde der ASt. gegen den die VKH versagenden Beschluss des FamG Donaueschingen vom 31.1.2011 ist zulässig und in der Sache auch begründet. Sie führt zur Bewilligung von ratenfreier VKH für die ASt. unter Beiordnung ihres Verfahrensbevollmächtigten.

[2]Der ASt. ist nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen für ihre Rechtsverfolgung im Sorgerechtsverfahren vor dem FamG Donaueschingen ratenfreie VKH zu bewilligen, ungeachtet eines möglicherweise anhängigen Sorgerechtsverfahrens in Italien. Grundsätzlich gilt, dass eine hinreichende Aussicht auf Erfolg für die Bewilligung von VKH (§ 76 I FamFG i.V.m. § 114 ZPO) in einem vom Amtsermittlungsgrundsatz (§ 26 FamFG) beherrschten Sorgerechtsverfahren bereits dann gegeben ist, wenn das FamG aufgrund des eingeleiteten Verfahrens den Sachverhalt zu ermitteln hat und ggf. eine Regelung treffen muss und sich nicht darauf beschränken kann, den Antrag ohne weiteres, also ohne jede Ermittlung und ohne jede Anhörung der Beteiligten, zurückzuweisen (OLG Nürnberg, FamRZ 2002, 109). So ist es auch vorliegend im Hinblick auf die mögliche anderweitige ausländische Rechtshängigkeit des italienischen Verfahrens betreffend die Regelung der elterlichen Verantwortung für V.  M. C. Denn die Wirkungen einer ausländischen Rechtshängigkeit bestehen nach Art. 19 II EuEheVO – anders als im deutschen Zivilprozessrecht (§ 261 III Nr. 1 ZPO) – nicht darin, dass das später angerufene Gericht den gestellten Antrag sofort abzuweisen hat. Das Verfahren ist in Art. 19 EuEheVO vielmehr in anderer Weise geregelt. Diese Bestimmung schreibt nämlich als Rechtsfolge der früheren Anhängigkeit eines Verfahrens der elterlichen Verantwortung für ein minderjähriges Kind bei dem Gericht eines anderen Mitgliedstaats eine abgestufte Verfahrensweise vor (dazu Schwab-Streicher, Handbuch des Scheidungsrechts, 6. Aufl., Teil I Rz. 1163; Andrae, Internationales Familienrecht, 2. Aufl., Kap. 2 Rz. 84): Das später angerufene Gericht hat zunächst das Verfahren auszusetzen, bis die Zuständigkeit des erstangerufenen Gerichts geklärt ist. Die weiteren Maßnahmen des später angerufenen Gerichts hängen dann von der Vorgehensweise des erstangerufenen Gerichts ab. Erklärt sich das erstangerufene Gericht (vorliegend also das italienische) rechtskräftig und abschließend für zuständig, hat sich das später angerufene Gericht (vorliegend also das FamG Donaueschingen) von Amts wegen für unzuständig zu erklären (Art. 19 III EuEheVO). Erklärt sich das erstangerufene Gericht dagegen für unzuständig, kann das später angerufene Gericht das zunächst nur ausgesetzte Verfahren fortsetzen. Wenn das erstangerufene Gericht zunächst keine Entscheidung über seine Zuständigkeit trifft, bleibt es bei der Aussetzung des Zweitverfahrens.

[3]Diese Verfahrensweise wurde gewählt, um negative Kompetenzkonflikte zu verhindern. Es soll vermieden werden, dass der Antrag vor dem später angerufenen Gericht wegen der anderweitigen Rechtshängigkeit zunächst als unzulässig angesehen und abgewiesen wird und sodann, wenn das erstbefasste Gericht den Antrag mangels internationaler Zuständigkeit abweist, erneut erhoben werden müsste (so Gruber, FamRZ 2000, 1129, 1133; Wagner, FPR 2004, 286, 288). Die Zuständigkeit des erstangerufenen Gerichts und damit nach Art. 19 III 1 EuEheVO die Unzuständigkeit des später angerufenen Gerichts steht erst fest, wenn es selbst hierüber formell rechtskräftig entschieden hat.

[4]Nach diesem Regelungszusammenhang kann deshalb das FamG Donaueschingen nicht ohne weiteres die VKH für die Einleitung eines Sorgerechtsverfahrens versagen. Die Unzuständigkeit des FamG Donaueschingen und damit auch die Unzulässigkeit eines hiesigen Sorgerechtsverfahrens ist nach Art. 19 III 1 EuEheVO erst eindeutig, wenn das italienische Gericht in dieser Sache sich rechtskräftig für zuständig erklärt hat. Dabei ist nicht einmal eindeutig, ob das in Italien anhängige Verfahren überhaupt ein Sorgerechtsverfahren darstellt. Nach Art. 19 II EuEheVO muss es sich nämlich um Anträge für dasselbe Kind und um denselben Anspruch handeln. Es kommt dabei nicht auf die formelle Identität der Anträge an, sondern ob bei wertender Betrachtung die Kernpunkte der Streitigkeit identisch sind (Andrae aaO Rz. 86). Dabei kann auch bei weiter Auslegung keine Identität der Anträge auf Sorgerechtsübertragung einerseits und Umgangsregelung andererseits angenommen werden (AG Lahr, FamRZ 2004, 1042) (IPRspr. 2003 Nr. 213). Nach der in Übersetzung vorgelegten Vereinbarung der Parteien soll es bei dem vor dem Jugendgericht in C./Italien eingeleiteten Verfahren darum gehen, die ‚Beziehungen zwischen dem Vater und dem natürlichen Kind V.  M.  C.’ zu regeln. Neben der Vereinbarung zum Umgang ist auch eine ‚Anvertrauungsvereinbarung’ dahingehend getroffen worden, dass das Kind in der Obhut der Mutter leben soll (Ziff. 2 der Vereinbarung). Insoweit ist nicht eindeutig, inwieweit das dortige Verfahren tatsächlich denselben Anspruch wie das vorliegende Sorgerechtsverfahren betrifft. Deshalb ist der Kindesmutter zunächst VKH zu bewilligen, und das FamG hat dann das vorliegende Verfahren nach Art. 19 II EuEheVO zunächst auszusetzen. Daraufhin hat dann das Gericht in Italien über seine Zuständigkeit zu befinden.

Fundstellen

LS und Gründe

FamRZ, 2011, 1528
FamRBint., 2012, 10, mit Anm. Motzer

Permalink

https://iprspr.mpipriv.de/2011-261

Lizenz

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