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Verfahrensgang

AG Jena, Beschl. vom 08.02.2023 – 43 F 7/23
OLG Jena, Beschl. vom 04.04.2023 – 1 UF 54/23, IPRspr 2023-255

Rechtsgebiete

Kindschaftsrecht → Kindesentführung
Kindschaftsrecht → Sorgerecht, Vormundschaft

Leitsatz

Die engen Voraussetzungen des Art. 13 HKÜ sind regelmäßig erfüllt, wenn ein Kind in ein Kriegsgebiet zurückgeschickt werden soll.

Da die Rückführung des Kindes nicht an einen bestimmten Ort, sondern in den Staat stattfindet, müssen die durch Krieg ausgelösten Beeinträchtigungen den gesamten Staat betreffen.

Im Fall der Ukraine besteht - jedenfalls solange der Krieg andauert - eine aktuelle Gefahr im Sinne des Art. 13 HKÜ, die es zu vermeiden gilt. Dies betrifft das gesamte Staatsgebiet der Ukraine. [LS der Redaktion]


Rechtsnormen

EuEheVO 2019/1111 Art. 22 ff.
FamFG § 58
FamGB 2002 (Ukraine) Art. 141 ff.
GG Art. 6
HKÜ Art. 1; HKÜ Art. 3; HKÜ Art. 4; HKÜ Art. 12; HKÜ Art. 13; HKÜ Art. 18
IntFamRVG § 1; IntFamRVG § 14; IntFamRVG § 40

Sachverhalt

Der Antragsteller begehrt die Rückführung der gemeinsamen Kinder Y. B., geboren 2008, und V. B., geboren 2013, auf der Grundlage des HKÜ vom 25.10.1980. Die Kindeseltern sind ukrainische Staatsangehörige. Ihre im September 2007 geschlossene Ehe ist 2016 rechtskräftig geschieden worden. Die Kinder hatten fortan im Haushalt der Kindesmutter in O., Ukraine, gelebt. Beide Elternteile sind Inhaber der gemeinsamen elterlichen Sorge. Die Kindeseltern führen in der Ukraine verschiedene - auch derzeit noch nicht beendete - gerichtliche Verfahren, die die Kinder betreffen. Ein aktueller Kontakt zwischen dem Antragsteller und den Kindern besteht nicht. Der Antragsteller hat zu seinem Sohn zuletzt 2021 im Rahmen einer Gerichtsverhandlung zu einer Umgangsstreitigkeit Kontakt gehabt. Der letzte Kontakt zur Tochter hat 2020 stattgefunden. Am 03.03.2022 hat die Kindesmutter zusammen mit den Kindern die Ukraine verlassen und ist nach Deutschland eingereist. Sie lebt mit beiden Kindern in J. Die Ausreise aus der Ukraine ist ohne Wissen und ohne das Einverständnis des Antragstellers erfolgt. Der Antragsteller ist mit dem dauerhaften Verbleib der Kinder in Deutschland nicht einverstanden. Bis heute habe kein Gericht das Sorgerecht einem der beiden Elternteile entzogen. Aktuell gebe es in O. keine aktiven Feindseligkeiten. Falls solche eintreten werden, könne er mit den Kindern in eine sichere Region in der Ukraine verziehen. Bei seinem derzeitigen Wohnort gebe es zudem speziell ausgestattete Notunterkünfte. Die Kindesmutter habe ihm bereits in der Ukraine jegliche Kontakte zu den gemeinsamen Kindern abgeschnitten. Bis heute habe er keinen Kontakt zu den Kindern, weil die Kindesmutter ihm dies verwehre und die Kinder negativ beeinflusse.

Der Antragsteller hat beantragt, die Antragsgegnerin zu verpflichten, die Kinder innerhalb einer angemessenen Frist in die Ukraine zurückzuführen und sofern die Antragsgegnerin den Verpflichtungen nicht nachkommt, die Herausgabe der Kinder an den Antragsteller zum Zwecke der sofortigen Rückführung anzuordnen. Ergänzend hat der Antragsteller beantragt, die Rückführung der Kinder in die Ukraine zumindest innerhalb eines Monats ab Beendigung der Kampfhandlungen anzuordnen. Mit Beschluss vom 08.02.2023 hat das Familiengericht die Anträge des Antragstellers zurückgewiesen. Der Antragsteller hat Rechtsmittel gegen die ablehnende Entscheidung des Familiengerichts erhoben.

Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]II.

[2]1. Die Beschwerde des Antragstellers ist als unzulässig zu verwerfen.

[3]a) Das Rechtsmittel ist gemäß § 40 Abs. 2 Satz 1 IntFamRVG, § 58 Abs. 1 FamFG statthaft …

[4]b) Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers ist sein Rechtsmittel aber gleichwohl unzulässig, da es nicht fristgerecht begründet worden ist …

[5]2. Selbst wenn man aber der früheren, in seinem Beschluss vom 31.07.2015 vertretenen Ansicht des Oberlandesgerichts Stuttgart folgen würde, dass die Versäumung der Beschwerdebegründungsfrist nicht zur Unzulässigkeit der Beschwerde führt, und man die Stellungnahme des Antragstellers vom 10.03.2023 als Beschwerdebegrünung werten würde, hätte die Beschwerde in der Sache keinen Erfolg. Die Entscheidung des Familiengerichts ist nicht zu beanstanden.

[6]a) Die Entscheidung über die Ablehnung der Rückgabe der beiden Kinder Y. und V. richtet sich nach Art. 13 HKÜ. Bei dem HKÜ handelt es sich um ein multilaterales Abkommen im Rahmen der Haager Konferenz für Internationales Privatrecht, welches die Fälle internationaler Kindesentführung zum Gegenstand hat. Entsprechend der Anlage zum HKÜ gilt das Übereinkommen für die Bundesrepublik Deutschland im Verhältnis zur Ukraine seit Inkrafttreten am 01.01.2008 (Bekanntmachung über den Geltungsbereich des Haager Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung vom 05.12.2007, BGBl. 2008 II, S. 56).

[7]Entgegen der Auffassung des Antragstellers gelangen die Art. 22 ff. der Verordnung (EU) 2019/1111 des Rates vom 25.06.2019 über die Zuständigkeit, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und über internationale Kindesentführungen (Brüssel IIb - VO) vorliegend nicht zu Anwendung. Lediglich in den Fällen der innermitgliedstaatlichen Kindesentführung, das heißt bei Kindesentführungen, bei denen sowohl der Herkunfts- als auch der Verbringungsstaat ein Mitgliedstaat der EU ist, besteht eine Normenkonkurrenz zwischen dem HKÜ und der Brüssel IIb - VO (schon zu Art. 11 Brüssel IIa-​VO: Schweppe in: Heilmann, Praxiskommentar Kindschaftsrecht, 2. Aufl. 2020, Artikel 11 Brüssel IIa-​VO, Rn. 1; dies. in: Salgo/Lack, Verfahrensbeistandschaft, 4. Aufl. 2020, IV. Verfahren nach dem HKÜ, Rn. 1755). Da es sich bei der Ukraine nicht um einen Mitgliedstaat der EU handelt, bleibt es bei der alleinigen Geltung des HKÜ. Verfahrensrechtlich wird das HKÜ durch das Gesetz zur Aus- und Durchführung bestimmter Rechtsinstrumente auf dem Gebiet des internationalen Familienrechts (IntFamRVG) ausgeführt (§ 1 Nr. 3 IntFamRVG), welches in § 14 Nr. 2 IntFamRVG auf das Verfahren nach dem FamFG verweist (Gottwald in: Nagel/Gottwald, Internationales

[8]b) Das Familiengericht hat zutreffend ausgeführt, dass die Voraussetzungen für eine Rückgabe der Kinder nach Art. 12 HKÜ vorliegend grundsätzlich gegeben sind. Das Gericht hat nach Art. 12 HKÜ die sofortige Rückführung des Kindes anzuordnen, wenn die Person das Kind widerrechtlich im Sinne des Art. 3 HKÜ, nämlich gegen den Willen des anderen Elternteils und unter Verletzung seines tatsächlich ausgeübten Mitsorgerechts nach Deutschland verbracht hat.

[9]Weder Y. noch V. haben das 16. Lebensjahr vollendet; Art. 4 Satz 2 HKÜ. Der gewöhnliche Aufenthalt beider Kinder war vor der Einreise nach Deutschland im Haushalt der Kindesmutter in der Ukraine und damit in einem Vertragsstaat des HKÜ belegen.

[10]Die Verbringung der Kinder nach Deutschland war auch widerrechtlich im Sinne von Art. 3 Satz 1 HKÜ. Durch die Verbringung der Kinder ohne die Zustimmung des Kindesvaters hat die Kindesmutter das Sorgerecht im Sinne von Art. 3 Satz 1 a) HKÜ verletzt. Denn das Sorgerecht nach Art. 3 Satz 1 HKÜ ist verletzt, wenn es dem Sorgerechtsinhaber tatsächlich unmöglich gemacht wird, alle oder einzelne Befugnisse oder Verpflichtungen, die sich aus dem Sorgerecht ergeben, wahrzunehmen. Das gilt auch dann, wenn der Entführer mitsorgeberechtigt ist (OLG Stuttgart, Beschluss vom 17.09.2018 - 17 UF 146/18 (IPRspr 2018-172) -, juris Rn. 39; Beschluss vom 25.04.2012 - 17 UF 35/12 (IPRspr 2012-117) -, juris Rn. 21; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 16.12.2014 - 2 UF 266/14 (IPRspr 2014-106) -, juris Rn. 42). Die Kindeseltern üben die elterliche Sorge vorliegend gemeinsam aus. Das ukrainische Recht behandelt die elterlichen Rechte gleich, unabhängig davon, ob die Eltern miteinander verheiratet sind oder waren und ob sie mit dem Kind zusammen oder getrennt leben (Art. 141 ff. FamGB der Ukraine). Eine Scheidung oder ein Getrenntleben haben keine Auswirkung auf das bestehende gemeinsame Sorgerecht. Eine hiervon abweichende Gerichtsentscheidung, die der Kindesmutter die alleinige elterliche Sorge zuspricht, liegt nicht vor.

[11]Der Antragsteller hat sein Sorgerecht bisher auch tatsächlich im Sinne des Übereinkommens ausgeübt; Art. 3 Satz 1 b) HKÜ. An die Voraussetzungen der tatsächlichen Ausübung des Sorgerechts werden keine hohen Anforderungen gestellt (OLG Zweibrücken, Beschluss vom 10.11.1999 - 6 UF 100/99 (IPRspr. 1999 Nr. 90), BeckRS 1999, 30081471, beck-​online). Durch dieses Erfordernis sollen nur Sorgerechtsverhältnisse ausgeschlossen werden, bei denen die gesetzlichen oder vereinbarten Rechte und Pflichten überhaupt nicht wahrgenommen werden. Ausgeschlossen ist die Rückführung etwa dann, wenn ein sorgeberechtigter Elternteil sich um sein Kind nicht kümmert, obwohl der andere Elternteil sich dem nicht entgegengestellt hat (MüKoBGB/Heiderhoff, 8. Aufl. 2020, HKÜ Art. 3 Rn. 28) und er nicht zumindest eine Form des Kontaktes zum Kind hält oder den Umgang wahrnimmt. Ein solcher Fall ist hier nicht gegeben. Zwar bestand schon in der Ukraine kein Kontakt des Kindesvaters zu den Kindern oder zumindest ein niedrigschwelliger Umgang. Jedoch ist der Antragsteller augenscheinlich gewillt, seine sorgerechtlichen Befugnisse praktisch auszuüben und steht gerade deshalb mit der Kindesmutter im Streit, der auch gerichtlich ausgetragen wird. Der Senat erachtet dies zur Erfüllung des Merkmals der Ausübung der elterlichen Sorge als ausreichend. Andernfalls hätte dies in einer solchen Konstellation zur Folge, dass derjenige Elternteil, der die Kinder gegen den Willen des anderen Elternteils ins Ausland verbringt, umso eher die Rückgabevoraussetzungen des HKÜ unterlaufen könnte, je stärker er zuvor den anderen Elternteil von der Ausübung der Sorge faktisch abschneiden würde.

[12]c) Gleichwohl wäre die Rückgabe der Kinder abzulehnen, weil die Voraussetzungen des Art. 13 Abs. 1 b) HKÜ vorliegen. Das Gericht ist nicht verpflichtet, die Rückgabe des Kindes anzuordnen, wenn die Person, die sich der Rückgabe des Kindes widersetzt, nachweist, dass die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringt. Der Senat schließt sich der Auffassung des Familiengerichtes an, wonach die Kriegshandlungen in der Ukraine eine solche Gefahr eines Schadens für die Kinder begründen.

[13]Das Wohl des Kindes bildet den Richtpunkt für den staatlichen Schutzauftrag nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG. Bei einer Interessenkollision zwischen Eltern und Kind ist das Kindeswohl der bestimmende Maßstab. Das HKÜ gewährleistet die Beachtung des Kindeswohls durch das Zusammenspiel von Rückführung als Regelfall und den Ausnahmen nach Art. 13 HKÜ (BVerfG, Beschluss vom 09.03.1999 - 2 BvR 420-​99 (IPRspr. 1999 Nr. 81b), NJW 1999, 2173, beck-​online). Die Ausnahmebestimmung des Art. 13 HKÜ wird dabei grundsätzlich restriktiv ausgelegt. Die Rückgabe des Kindes verfolgt den Zweck, die Lebensbedingungen für das Kind zu verstetigen, eine sachnahe Sorgerechtsentscheidung am ursprünglichen Aufenthaltsort sicherzustellen und Kindesentführungen allgemein entgegenzuwirken. Deswegen rechtfertigt nicht schon jede Härte eine Anwendung der Ausnahmeklausel; vielmehr stehen nur ungewöhnlich schwerwiegende Beeinträchtigungen des Kindeswohls, die sich als besonders erheblich, konkret und aktuell darstellen, einer Rückführung entgegen (BVerfG, Beschluss vom 09.03.1999 - 2 BvR 420-​99 (IPRspr. 1999 Nr. 81b), a.a.O). Das HKÜ geht dabei von der Vermutung aus, dass eine sofortige Rückführung des Kindes an den bisherigen Aufenthaltsort dem Kindeswohl grundsätzlich am besten entspricht, weil dadurch die Kontinuität der Lebensbedingungen erhalten bleibt. Aus dem genannten Ziel des Übereinkommens ergibt sich in der Folge, dass die zwangsläufig mit jeder Rückführung verbundenen Belastungen für ein Kind dabei keine Berücksichtigung finden können (OLG Rostock, Beschluss vom 11.07.2016 - 10 UF 78/16 (IPRspr 2016-161), BeckRS 2016, 137312 Rn. 38, beck-​online).

[14]Diese engen Voraussetzungen sind jedoch regelmäßig erfüllt, wenn ein Kind in ein Kriegsgebiet zurückgeschickt werden soll (Heidel/Hüßtege/ Mansel/Noack, BGB Allgemeiner Teil / EGBGB, HKÜ Art. 13 Rn. 27, beck-​online; Hausmann, U., Internationales und Europäisches Familienrecht, 2. Auflage 2018 Rn. 216, beck-​online; OLG Hamm, Beschluss vom 21.08.1998 - 5 UF 300/98 (IPRspr. 1998 Nr. 109), NJWE-​FER 1999, 30, beck-​online; Erb-​Klünemann, FamRB 2018, 327, 331). Da die Rückführung des Kindes nicht an einen bestimmten Ort, sondern in den Staat stattfindet, müssen die durch Krieg ausgelösten Beeinträchtigungen den gesamten Staat betreffen (Heidel/Hüßtege/ Mansel/Noack, BGB Allgemeiner Teil/EGBGB, HKÜ Art. 13 Rn. 27, beck-​online).

[15]Vorliegend besteht im Fall der Ukraine - jedenfalls solange der Krieg andauert - eine aktuelle Gefahr im Sinne des Art. 13 HKÜ, die es zu vermeiden gilt (vgl. MüKoBGB/Heiderhoff, 8. Aufl. 2020, HKÜ Art. 13 Rn. 25; OLG Stuttgart, Beschluss vom 13.01.2009 - 17 UF 234/08 (IPRspr 2009-90b), NJW- RR 2009, 1513, beck-​online). Dies betrifft das gesamte Staatsgebiet der Ukraine (OLG Stuttgart, Beschluss vom 13.10.2022 - 17 UF 186/22 (IPRspr 2022-53) -, Rn. 41, juris).

[16]Der Senat berücksichtigt ungeachtet der Darlegungslast, die die Antragsgegnerin trifft (OLG Hamburg, Beschluss vom 10.12.2008 - 2 UF 50/08 (IPRspr 2008-81) -, Rn. 36, juris; Erb-​Klünemann, FamRB 2018, 327, 328), bei der Bewertung die amtlichen Informationen des Auswärtigen Amtes zur Lage in der Ukraine mit dem Stand zum 22.03.2023, der seit dem 22.11.2022 unverändert ist. Dort wird darauf hingewiesen, dass am 24.02.2022 russische Streitkräfte die Ukraine angegriffen haben. Kampfhandlungen konzentrieren sich derzeit auf den Osten und den Süden der Ukraine. Im ganzen Land finden Raketen- und Luftangriffe, auch mit sog. Kamikaze- Drohnen statt, bei denen auch ein Beschuss ziviler Infrastrukturen und Wohnbebauung nicht ausgeschlossen werden kann. Der Luftraum ist geschlossen. Eine Ausreise ist nur auf dem Landweg möglich.

[17]Warnen inländische Behörden vor Reisen in das betreffende Land, bedeutet dies freilich nicht automatisch, dass das Kind dort nicht ohne Gefahr leben könnte. Gleichwohl sieht der Senat eine umfassende Gefährdungslage auf dem gesamten Staatsgebiet der Ukraine durch die fachliche Einschätzung zur Lage in der Ukraine bestätigt (vgl. auch OLG Stuttgart, Beschluss vom 13.10.2022 - 17 UF 186/22 (IPRspr 2022-53) -, Rn. 45 ff., juris unter Bezugnahme auf Medienberichte), die sich zum Beispiel in folgenden Berichten widerspiegelt:

[18]„Angesichts des andauernden russischen Angriffskriegs ist die humanitäre Situation in der Ukraine bedrückend: Insgesamt sind 17,7 Millionen Menschen im Land in Not, schätzt die UN. Etwa ein Drittel der Ukrainer:innen mussten ihren Heimatort verlassen - knapp sieben Millionen Menschen wurden innerhalb des Landes vertrieben, weitere 7,3 Millionen haben Zuflucht in den europäischen Nachbarländern gesucht. Laut ukrainischem Wirtschaftsministerium haben 5 Millionen der Binnengeflüchteten ihre Arbeit verloren. Von den Binnengeflüchteten sind knapp eine Million derzeit in Sammelunterkünften, sogenannten »Collective Centers«, untergebracht. Die UNHCR geht zudem von etwa 13 Millionen Ukrainer:innen aus, die in unsicheren Orten gestrandet sind und diese aufgrund der Sicherheitslage und zerstörten Infrastruktur, kaputten Brücken und Straßen, nicht verlassen können“ (Igor Mitchnik (Berlin) Ukraine-​Analyse Nr. 274 vom 03.11.2022; https://www.laender- analysen.de/ukraine-​analysen/274/der-​nahende-​winter-​und-​gezielte-​russische-​angriffe-​auf-​die-​kritische-​infrastruktur-​verschaerfen-​die-​

[19]„Zerstörte Kliniken, kein Strom, verletzte und traumatisierte Menschen, Millionen Binnenflüchtlinge - neben militärischer dürfe humanitäre Hilfe nicht vergessen werden“ (Maksym Dotsenko, Generalsekretär des Ukrainischen Roten Kreuzes, 28.01.2023; https://www.tagesschau.de/ausland/europa/ukraine-​rotes-​kreuz-​101.html).

[20]„Der seit einem Jahr andauernde Krieg in der Ukraine ist für Millionen Familien ein endloser Albtraum. Jedes einzelne Kind in der Ukraine ist vom Krieg betroffen. Ein Jahr Krieg bedeutet für die Kinder 365 Tage Angst, Bombardierungen, zerstörte Schulen und zerrissene Familien. In vielen Regionen fehlt es weiterhin am Nötigsten: an Lebensmitteln, Medikamenten, sauberem Trinkwasser und Hygiene. Mindestens 1.280 Kinder (Stand: Ende Dezember 2022) wurden bereits bei Angriffen getötet oder verletzt. Viele Schulen und Gesundheitseinrichtungen wurden beschädigt oder zerstört. Millionen Ukrainer*innen sind auf der Flucht, darunter viele Mütter mit ihren Kindern.

[21]Der Tod von Angehörigen und Freunden, die ständige Angst vor neuen Angriffen und der Verlust ihres gewohnten Alltags belasten viele Kinder schwer. Der Winter hat die Lage der Kinder in der Ukraine weiter verschärft: Durch gezielte Angriffe auf die Infrastruktur haben unzählige Familien keinen Strom, kein Gas oder Wasser mehr. Millionen Kinder brauchen Schutz vor den eisigen Temperaturen und die Chance, weiter zur Schule zu gehen.“ (https://www.unicef.de/informieren/aktuelles/krieg-​in-​der-​ukraine).

[22] „Ein Jahr nach der russischen Invasion in der Ukraine sind immer noch mehr als 13 Millionen Menschen vertrieben - insgesamt knapp acht Millionen Flüchtlinge in ganz Europa und etwa fünf Millionen Binnenvertriebene in der Ukraine. Ihre Aussichten auf eine baldige Rückkehr werden durch die anhaltenden Feindseligkeiten, die Unsicherheit und die Zerstörung in ihren Heimatregionen getrübt, wie aus zwei neuen Berichten hervorgeht, die heute von UNHCR, dem UN-​Flüchtlingshilfswerk, veröffentlicht wurden.

[23]'Das menschliche Leid und die Not, die der Krieg verursacht hat, sind unfassbar. Ein Drittel der ukrainischen Bevölkerung musste fliehen, und die Lage bleibt unberechenbar. Wir müssen weiterhin auf die Bedürfnisse der Vertriebenen eingehen und ihre Sicherheit gewährleisten, bis sie in ihre Heimat zurückkehren können', sagte UNHCR-​Europadirektorin Pascale Moreau.“ (https://www.unhcr.org/dach/de/88237-​ein-​jahr-​nach-​der-​russischen-​invasion-​sind- ein-​drittel-​der-​ukrainer-​fluechtlinge-​oder-​binnenvertriebene.html).

[24]Ein Ende der militärischen Auseinandersetzungen ist nicht derzeit nicht absehbar. Nach Einschätzung der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen etwa kann angenommen werden, dass eine neue Phase des Krieges bevorsteht. „Nach Einschätzungen sowohl aus Kyjiw, wie auch aus Moskau, stehen wir vor einer neuen Phase des Krieges, in der neueste technische Mittel eingesetzt werden. In Moskau werden Angriffe tausender fliegender Drohnen und dutzender Unterwasser-​Drohnen erwartet. In der Ukraine werden Angriffe mächtiger iranischer Raketen erwartet, und neue Vorstöße russischer Panzer. Dass Moskau für das Frühjahr oder den Sommer einen Vormarsch vorbereitet, wird nicht verhohlen. Das verschleiert womöglich einen Schlag, der am Ende des Winters erfolgen könnte. [...] Dieser Krieg wird lange dauern. Und wir sollten unsere Prognosen und Handlungen realistisch und langfristig und nicht auf optimistische Aussichten ausrichten“ (Nikolay Mitrokhin (Bremen) Ukraine-​Analyse Nr. 279 vom 23.02.2023; https://www.laender-​analysen.de/ukraine- analysen/279/unerwartete-​kriegsverlaeufe/).

[25]d) Auch soweit der Antragsteller beantragt, die Rückführung der Kinder in die Ukraine zumindest innerhalb eines Monats ab Beendigung der Kampfhandlungen anzuordnen, hätte dem nicht entsprochen werden können. Eine aufschiebend bedingte Anordnung der Rückgabe des Kindes sieht das HKÜ nicht vor. Eine solche Anordnung wäre - ungeachtet der Notwendigkeit eine späteren Festlegung, wann die Kampfhandlungen als beendet gelten - mit dem Ziel des Abkommens nach Art. 1 a) HKÜ, die sofortige Rückgabe widerrechtlich in einen Vertragsstaat verbrachter oder dort zurückgehaltener Kinder sicherzustellen, nicht in Einklang zu bringen. Auch Art. 12 HKÜ ordnet demgemäß den Ausspruch der sofortigen Rückgabe an.

[26]Abweichendes ergibt sich nicht aus Art. 18 HKÜ. Die Vorschrift findet im deutschen Recht keine Entsprechung, weil keine derartigen Ermächtigungen vorgesehen sind (BeckOGK/Markwardt, 1.3.2023, HKÜ Art. 18 Rn. 3).

[27]III. ...

Fundstellen

LS und Gründe

NJW, 2023, 2583

nur Leitsatz

IPRax, 2024, 65

Bericht

Erb-Klünemann, NZFam, 2024, 188

Permalink

https://iprspr.mpipriv.de/2023-255

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