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Verfahrensgang

LG Frankfurt/Main, Beschl. vom 05.06.2024 – 2-12 O 232/23
OLG Frankfurt/Main, Beschl. vom 10.10.2024 – 7 W 13/24, IPRspr 2024-238

Rechtsgebiete

Anerkennung und Vollstreckung → Vermögensrechtliche Angelegenheiten
Insolvenz- und Anfechtungsrecht

Leitsatz

Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden zur Auslegung des Unionsrechts gemäß Art. 267 Abs. 1 Buchst. b, Abs. 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) folgende Fragen vorgelegt:

Ist Art. 2 Buchst. c der Verordnung (EU) Nr. 655/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Einführung eines Verfahrens für einen Europäischen Beschluss zur vorläufigen Kontenpfändung im Hinblick auf die Erleichterung der grenzüberschreitenden Eintreibung von Forderungen in Zivil- und Handelssachen in Verbindung mit dem Erwägungsgrund Nr. 8 VO (EU) Nr. 655/2014 so auszulegen, dass die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens, das nicht unter die Verordnung (EU) 2015/848 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2015 über Insolvenzverfahren (Neufassung) fällt, sondern in einem Drittstaat geführt wird, den Erlass eines Kontenpfändungsbeschlusses nach Art. 7 Abs. 1 VO (EU) 655/2014 bzw. die Weiterleitung des Ersuchens um Konteninformationen nach Art. 14 Abs. 3 VO (EU) 655/2014 ausschließt, wenn das nationale Recht des für den Erlass des Kontenpfändungsbeschlusses zuständigen Mitgliedstaates das Insolvenzverfahren in dem betreffenden Drittstaat anerkennt? [LS von der Redaktion neu gefasst]

Rechtsnormen

AEUV Art. 198 ff.; AEUV Art. 199; AEUV Art. 267; AEUV Art. 355
BankruptcyD 1931 ( Curaço) Art. 1; BankruptcyD 1931 ( Curaço) Art. 29
EuInsVO 2015/848 Art. 2; EuInsVO 2015/848 Art. 19
EuKtPVO 655/2014 Art. 2; EuKtPVO 655/2014 Art. 7; EuKtPVO 655/2014 Art. 11; EuKtPVO 655/2014 Art. 14; EuKtPVO 655/2014 Art. 21; EuKtPVO 655/2014 Art. 34; EuKtPVO 655/2014 Art. 46
InsO § 3; InsO § 343

Sachverhalt

Die Beschwerdeführerin hat bei dem zuständigen Landgericht Frankfurt am Main ein rechtskräftiges und vollstreckbares Versäumnisurteil wegen der Rückzahlung von Verlusten bei Online-Glücksspielen gegen die Schuldnerin, X N.V., in Höhe von ... € nebst Kosten und Zinsen erwirkt. Bei der Schuldnerin handelt es sich um eine nach dem Recht von Curação errichtete Gesellschaft in der Rechtsform der „Naamloze Vennootschap“ (N.V.), die im dortigen Handelsregister unter der Registrierungs-Nr. … geführt wird und deren Gewerbe der Betrieb von Glücksspielen ist.

Die Beschwerdeführerin hat einen Antrag auf Einholung von Kontoinformationen in Zypern nach Art. 14 EuKtPVO und auf vorläufige Kontopfändung nach Art. 7 EuKtPVO gestellt. Das Landgericht Frankfurt am Main hat mit Beschluss vom 05.06.2024 die Beschwerdeführerin darauf hingewiesen, dass der Antrag auf Kontenpfändung abzulehnen sein dürfte, da keine Beweismittel dafür vorgebracht seien, dass die Schuldnerin auf Curação kein pfändbares Vermögen habe. Gegen diesen Beschluss richtet sich die sofortige Beschwerde vom 20.06.2024, mit der die Beschwerdeführerin vorträgt, über das Vermögen der Schuldnerin sei ausweislich des Handelsregisters von Curação seit dem 10.06.2024 ein Insolvenzverfahren eröffnet worden, weswegen spätestens jetzt die Gefahr bestehe, dass eine Vollstreckung dauerhaft unmöglich oder sehr erschwert i.S. d. Art. 7 Abs. 1 VO (EU) 644/2014 werde.

Aus den Entscheidungsgründen:

II.

5. Der Erfolg der sofortigen Beschwerde hängt von der Auslegung der Art. 2 Buchst. c, ... Art. 14 Abs. 1 UAbs. 1 und Abs. 3 VO (EU) Nr. 655/2014 ab. Vor einer Entscheidung über die sofortige Beschwerde ist daher das Verfahren auszusetzen und gemäß Art. 267 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 3 AEUV eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union einzuholen.

6. Die sofortige Beschwerde, an welcher der Schuldner nicht zu beteiligen ist (Art. 21 Abs. 3 i.V.m. Art. 11 VO (EU) Nr. 655/2014), ist zulässig ...

7. ... 8. Die sofortige Beschwerde ist auch nicht wegen der Eröffnung des Insolvenzverfahrens gegen die Schuldnerin unstatthaft, ungeachtet der Frage, ob sie deswegen unbegründet sein könnte, denn mit dem von der VO (EU) Nr. 655/2014 vorgesehenen Rechtsbehelf ist auch die Rüge möglich, dass der Anwendungsbereich der Verordnung nicht eröffnet ist (arg. ex Art. 34 Abs. 1 Buchst. b.i sowie Erwägungsgrund Nr. 32 (dort S. 2) VO (EU) Nr. 655/2014).

9. Die sofortige Beschwerde könnte allerdings wegen der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Schuldnerin in Curação nach Art. 2 Buchst. c VO (EU) Nr. 655/2014 unbegründet sein. Dieser Artikel bestimmt, dass die Verordnung nicht für Forderungen gegenüber einem Schuldner, gegen den Insolvenzverfahren, Vergleiche oder ähnliche Verfahren eröffnet worden sind, gilt. Nach dem Erwägungsgrund Nr. 8 VO (EU) Nr. 655/2014 sollte dieser Ausschluss bedeuten, dass ein Beschluss zur vorläufigen Pfändung nicht gegen einen Schuldner erlassen werden kann, sobald gegen ihn ein Insolvenzverfahren im Sinne der VO (EG) Nr. 1346/2000 eingeleitet worden ist. Der Anwendungsbereich der die VO (EG) Nr. 1346/2000 ersetzenden Verordnung (EU) 2015/848 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2015 über Insolvenzverfahren (Neufassung) ist vorliegend jedoch nicht eröffnet, da dieser voraussetzt, dass das Insolvenzverfahren in einem Mitgliedstaat eröffnet worden ist (vgl. Art. 2 Ziff. 4 VO (EU) Nr. 848/2015 i.V.m. Anhang A, Mock in: Beck’scher Online-Kommentar zum Insolvenzrecht, 36. Edition, Stand: 15.07.2024, Art. 1 EuInsVO Rn. 18b).

10. Die Anerkennung des Insolvenzverfahrens auf Curação folgt nicht aus Art. 19 VO (EU) Nr. 848/2015, sondern es gilt das Insolvenzverfahrensrecht der Bundesrepublik Deutschland, denn Curação gehört zwar zu den gemäß Anhang II AEUV dem Assoziierungssystem gemäß Art. 198 ff. AEUV unterliegenden „Ländern und Hoheitsgebieten“. Diese stellen aber im Verhältnis zur Union Drittländer dar, da sie nach Art. 355 Abs. 2 UAbs. 1 AEUV aus dem Geltungsbereich des AEUV herausgenommen sind (vgl. Schmalenbach, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, AEUV Art. 198 Rn. 3).

11. Nach § 343 Abs. 1 der Insolvenzordnung (InsO) der Bundesrepublik Deutschland wird die Eröffnung eines ausländischen Insolvenzverfahrens anerkannt. Die Vorschrift lautet: „Die Eröffnung eines ausländischen Insolvenzverfahrens wird anerkannt. Dies gilt nicht, wenn die Gerichte des Staats der Verfahrenseröffnung nach deutschem Recht nicht zuständig sind; 2.soweit die Anerkennung zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar ist, insbesondere soweit sie mit den Grundrechten unvereinbar ist. Das ausländische Verfahren muss, um anerkennungsfähig zu sein, im Wesentlichen den gleichen Zwecken dienen wie ein Insolvenzverfahren nach deutschem Recht (vgl. Dahl, in: Andres/Leithaus, Insolvenzordnung (InsO), 4. Auflage 2018, InsO § 343 Rn. 5). Diese Voraussetzung ist hier erfüllt, denn die Eröffnung des Insolvenzverfahrens nach dem Recht von Curação entspricht funktional, nach Aufbau und Inhalt, einem inländischen Insolvenzverfahren und auch dem von der VO (EU) Nr. 848/2015 anerkannten Insolvenzverfahren der Niederlande: das Insolvenzrecht von Curação ist im Faillissementsbesluit 1931 (Bankruptcy Decree 1931) kodifiziert. Danach führt der Insolvenzantrag eines Gläubigers im Fall der Zahlungseinstellung zu einer Bankrotterklärung durch das Insolvenzgericht (Art. 1 Faillissementsbesluit 1931 „faillieterklaring“). Das Insolvenzgericht ernennt einen „curator“ und beauftragt diesen mit der Verwaltung und Abwicklung des Vermögens. Sodann sorgt dieser für eine gleiche Verteilung unter den Gläubigern. Der curator wird dabei von einem Richter („rechter-commissaris“) überwacht. Von der Insolvenz werden alle Vermögensgegenstände weltweit, unabhängig vom Ort ihrer Belegenheit erfasst. Der Insolvenzbeschluss ist mit dem Verbot der Besserstellung durch den Einzelzugriff von Gläubigern auf außerhalb Curaçãos befindliche Vermögensgegenstände verbunden und verpflichtet diese, etwaige Auslandserlöse im Interesse der paritas creditorium an die Masse abzugeben. Der Schuldner und das Management dürfen das Unternehmen nicht in Eigenverwaltung weiterführen.

12. Der vorgelegte Eröffnungsbeschluss ist auch wirksam, da er im Handelsregister verzeichnet ist.

13. Ein Fall, nach dem das deutsche Insolvenzrecht die ausländische Insolvenzeröffnung nicht anerkennt, liegt nicht vor. Die Eröffnung eines ausländischen Insolvenzverfahrens wird vom deutschen Recht unter anderem nicht anerkannt, wenn die Gerichte des Staates der Verfahrenseröffnung nach deutschem Recht nicht zuständig sind. Eine internationale Unzuständigkeit des Insolvenzgerichts von Curação aus Sicht des deutschen Rechts ist nicht gegeben. Für diese hypothetische Prüfung nach dem „Spiegelbildprinzip“ müssen die ausländischen Gerichte auch bei unterstellter Anwendung der deutschen Zuständigkeitsvorschriften für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens zuständig sein (vgl. Weissinger, in: Beck’scher Online-Kommentar zum Insolvenzrecht, 36. Edition, Stand: 15.04.2023, InsO § 343 Rn. 10-10.2). Hierzu ist § 3 Abs. 1 InsO (analog) anzuwenden (vgl. Thole, in: Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, Band 3, 4. Auflage 2020, § 343 InsO Rn. 28). Die Vorschrift lautet. „Örtlich zuständig ist ausschließlich das Insolvenzgericht, in dessen Bezirk der Schuldner seinen allgemeinen Gerichtsstand hat. Liegt der Mittelpunkt einer selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit des Schuldners an einem anderen Ort, so ist ausschließlich das Insolvenzgericht zuständig, in dessen Bezirk dieser Ort liegt.“ Maßgeblich ist danach zunächst, wo der Mittelpunkt der wirtschaftlichen Tätigkeit des Schuldners liegt.

14. Im hier zu entscheidenden Fall ist nicht feststellbar, wo der Mittelpunkt der wirtschaftlichen Tätigkeit der Schuldnerin liegt, da diese nach dem Vortrag der Beschwerdeführerin in Curação lediglich eine Briefkastenfirma unterhält und auch aus der Akte nicht bekannt ist, wo das operative Geschäft der Schuldnerin betrieben wird (vgl. zu den Kriterien Ganter/Bruns, in: Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, Band 1, 4. Auflage 2019, InsO § 3 Rn. 10, 10a). Folglich kommt es auf den allgemeinen Gerichtsstand an (vgl. Thole, in: Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, Band 3, 4. Auflage 2020, § 343 InsO Rn. 29). Ausweislich des Handelsregisters hat die Schuldnerin nach dem Recht von Curação dort ihren Gründungssitz, sodass das dortige Insolvenzgericht auch aus der Perspektive des deutschen Rechs zuständig ist. Denn hinsichtlich einer Gesellschaft aus Curação findet die Gründungs-, und nicht die Sitztheorie Anwendung. Curação ist als Teil der Niederländischen Antillen ein überseeisches autonomes Land innerhalb des Königreichs der Niederlande gemäß Art. 355 AEUV i.V.m. Anhang II AEUV. Das auf eine dortige Gesellschaft anwendbare Recht ist nach der Gründungstheorie zu beurteilen, weil die Niederländischen Antillen gemäß Art. 355 Abs. 2 und Art. 199 Nr. 5 AEUV von der Niederlassungsfreiheit erfasst werden (Vgl. grundlegend BGH, Urteil vom 13.09. 2004 – II ZR 276/02 (IPRspr 2004-28), NJW 2004, 3706). Die Schuldnerin ist daher unabhängig vom Ort ihres Verwaltungssitzes in der Rechtsform anzuerkennen, in der sie gegründet wurde (Vgl. Toussaint, in: Beck’scher Online-Kommentar ZPO, 53. Edition, Stand: 01.07.2024, § 17 ZPO Rn. 17).

15. Nach dem deutschen Insolvenzverfahrensrecht werden durch die Anerkennung der Insolvenzeröffnung auf Curação die Wirkungen des dortigen Insolvenzverfahrens auf das Inland übertragen (automatische Wirkungserstreckung), sodass die Wirkungen der Insolvenzeröffnung nach Art. 29 Faillissementsbesluit 1931 zu beurteilen sind. Nach dieser Vorschrift hat die Insolvenzeröffnung zur Folge hat, dass jegliche gerichtliche Vollstreckung sofort endet und dass ein Urteil auch ab diesem Zeitpunkt nicht durch Zwang vollstreckt werden kann. Da der Antrag auf Kontenauskunft der Vorbereitung einer vorläufigen, arrestähnlichen Kontenpfändung dient, handelt es sich bei der Erteilung einer Kontenauskunft gemäß der VO (EU) Nr. 655/2014 um eine solche verbotene Zwangsvollstreckungsmaßnahme.

16. Eine Entscheidung des Gerichtshofes zur ersten Vorlagefrage ist erforderlich, weil die Auslegung von Art. 2 Buchst. c VO (EU) Nr. 655/2014 zur Frage der Anerkennung des Insolvenzverfahrens auf Curação entscheidungserheblich ist:

17. In Betracht kommt einerseits, dass Art. 2 Buchst. c VO (EU) Nr. 655/2014 so zu verstehen ist, dass es den Mitgliedstaaten gemäß Art. 46 Abs. 1 VO (EU) Nr. 655/2014 überlassen bleibt, ob und mit welchen Rechtswirkungen sie Insolvenzverfahren anerkennen, die nicht in den Anwendungsbereich der VO (EU) Nr. 2015/848 fallen. In diesem Fall würde aus der Anerkennung der Insolvenzeröffnung folgen, dass die sofortige Beschwerde zurückzuweisen wäre.

18. Andererseits könnte Art. 2 Buchst. c VO (EU) Nr. 655/2014 i.V.m. Erwägungsgrund Nr. 8 VO (EU) Nr. 655/2014 so zu verstehen sein, dass nur ein Insolvenzverfahren, das unter die VO (EU) Nr. 2015/848 fällt, die Wirkung hat, dass das Verfahren der Kontenpfändung nach der VO (EU) Nr. 655/2014 nicht zur Verfügung steht, aber Insolvenzverfahren in Drittstaaten nicht die Wirkung haben sollen, dass der Anwendungsbereich der VO (EU) Nr. 655/2014 nicht eröffnet ist. In diesem Fall wäre die Anordnung zur Kontenauskunft – unter Beachtung einer Antwort des Gerichtshofs auf die zweite vorgelegte Frage – zu erlassen und der sofortigen Beschwerde stattzugeben.

19. Welche Auslegung zutrifft, lässt sich dem Unionsrecht nicht eindeutig entnehmen: Gegen eine Anerkennung drittstaatlicher Insolvenzverfahren durch die VO (EU) Nr. 655/2014 spricht vor allem die ausdrückliche Bezugnahme auf die VO (EU) Nr. 2015/848 im Erwägungsgrund Nr. 8 der VO (EU) Nr. 655/2014. Auch dürfte Art. 2 Buchst. c VO (EU) Nr. 655/2014 grundsätzlich eng auszulegen sein, weil es sich um eine Ausnahme vom Anwendungsbereich handelt. Ferner sichert eine Begrenzung des Anwendungsausschlusses auf Verfahren nach der VO (EU) Nr. 2015/848 eine einheitliche Anwendung der VO (EU) Nr. 655/2014 in allen Mitgliedstaaten. Denn da sich die Anerkennung drittstaatlicher Insolvenzverfahren nach dem jeweiligen nationalen Recht richtet, kann es sein, dass ein drittstaatliches Insolvenzverfahren in einem Mitgliedstaat anzuerkennen ist und in einem anderen nicht. Dies hätte zur Folge, dass man in einem Nichtanerkennungsstaat eine Kontenpfändung erlangen könnte, in einem Anerkennungsstaat jedoch nicht.

20. Für eine Anerkennung drittstaatlicher Insolvenzeröffnungen durch die VO (EU) Nr. 655/2014, sofern diese vom Recht des zuständigen Mitgliedstaates anerkannt werden, spricht demgegenüber, dass Art. 46 Abs. 1 VO (EU) Nr. 655/2014 für alle verfahrensrechtlichen Fragen, die in der Verordnung keine ausdrückliche Regelung gefunden haben, auf das Recht des Mitgliedstaats, in dem das Verfahren stattfindet, verweist. Die Auswirkungen eines drittstaatlichen Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Schuldnerin sind jedoch in der VO (EU) Nr. 655/2014 nicht geregelt. Zudem verweist Art. 46 Abs. 2 VO (EU) Nr. 655/2014 für die Wirkungen der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens auf einzelne Vollstreckungshandlungen auf das Recht des Mitgliedstaates der Verfahrenseröffnung. Vorliegend steht keine einzelne Vollstreckungshandlung, sondern die Anwendbarkeit der VO (EU) Nr. 655/2014 insgesamt in Frage; auch sind nicht die Wirkungen eines in einem Mitgliedstaat eröffneten Verfahren betroffen. Jedoch könnte Art. 46 Abs. 2 VO (EU) Nr. 655/2014 die Wertung zu entnehmen sein, dass die mitgliedstaatlichen Insolvenzverfahrensrechte durch die VO (EU) Nr. 655/2014 nicht angetastet werden sollen. Daher könnte es geboten sein, die Beantwortung der Frage, ob ein drittstaatliches Insolvenzverfahren ein Vorgehen des Gläubigers nach der VO (EU) Nr. 655/2014 ausschließt, dem nationalen Recht des Mitgliedstaates, in welchem das Verfahren nach der VO (EU) Nr. 655/2014 geführt wird, zuzuweisen.

21. Zu berücksichtigen ist auch, dass die Bereichsausnahme für Insolvenzsachen in Art. 2 Abs. 2 Buchst. c VO (EU) Nr. 655/2014 in ihrer geltenden Fassung erst im Lauf des Rechtsetzungsverfahrens eingefügt wurde. Der Vorschlag der Kommission (vgl. COM (2011) 445) lautete noch „Art. 2 2. (a): This Regulation shall not apply to (a) bankruptcy, proceedings relating to the winding-up of insolvent companies“. Der Entwurf des Erwägungsgrundes Nr. 8 lautete ursprünglich „Notably, this Regulation should not apply in the context of … insolvency proceedings“. Die jetzige Fassung entstammt dem Dokument des Rates der Europäischen Union 16991/13 ADD 1 vom 28.11.2013 (vgl. Interinstitutionelles Dossier 2011/0204 (COD), S. 3), das auch die Anpassung des Erwägungsgrundes vorsieht. Der Verweis auf die VO (EU) Nr. 2015/848 (bzw. deren Vorgängerfassung) wurde nur in den Erwägungsgrund übernommen, nicht aber in Art. 2 VO (EU) Nr. 655/2014 selbst. Hintergrund ist, dass die VO (EU) Nr. 655/2014 die Tätigkeit des Insolvenzverwalters nicht stören sollte (vgl. aaO Fn. 2). Eine sachliche Begrenzung des Ausschlusses des Anwendungsbereiches war somit möglicherweise mit der Änderung gar nicht beabsichtigt.

[22] ...

Fundstellen

Volltext

Link, Hessenrecht

LS und Gründe

NZI, 2024, 1031
NZG, 2025, 183
WM, 2025, 670
ZIP, 2025, 47

Bericht

Dahl, ZIP, 2025, 566

Permalink

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