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Verfahrensgang

AG Nürtingen, Urt. vom 07.02.2022 – 11 C 756/21
LG Stuttgart, Urt. vom 29.09.2022 – 5 S 23/22, IPRspr 2022-119

Rechtsgebiete

Allgemeine Lehren → Rechtswahl
Vertragliche Schuldverhältnisse → Beförderungsvertrag

Leitsatz

Eine vorformulierte Rechtswahlklausel zugunsten des englischen Rechts ist missbräuchlich, wenn aufgrund der Angabe "anwendbares Recht (einschließlich der Übereinkommen und der Verordnung EU261)" nicht ersichtlich ist, dass die Fluggastrechte-VO dem gewählten Recht in ihrer Anwendbarkeit vorgeht. Denn für den durchschnittlichen Verbraucher ohne juristische Vorkenntnisse ist nicht hinreichend klar, welches das vorrangig anwendbare Recht sein soll. [LS der Redaktion]


Rechtsnormen

BGB § 242; BGB § 305c; BGB § 398
Klausel-RL 93/13/EWG Art. 3; Klausel-RL 93/13/EWG Art. 5
Luftverkehrsdienste-VO 1008/2008 Art. 23
Rom I-VO 593/2008 Art. 3; Rom I-VO 593/2008 Art. 5; Rom I-VO 593/2008 Art. 10
ZPO § 511

Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]I. Die Berufung der Klägerin ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt. Auch ist die gemäß § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO erforderliche Berufungsbeschwer von über 600,00 € erreicht ...

[2]II. Die Berufung der Klägerin ist auch begründet. Die Klägerin hat aus abgetretenem Recht einen Anspruch gegen die Beklagte auf Auskunft darüber, in welcher Höhe Steuern, Gebühren und sonstige Zuschläge bei den im Tenor angeführten Buchungen angefallen sind, die nach Art. 23 VO 1008/2008/EG als solche auszuweisen wären (§§ 242, 398 S. 1 BGB).

[3]1. ... 2. Schließlich teilt die Kammer die amtsgerichtliche Rechtsauffassung auch insoweit, als die in den AGB der Beklagten enthaltenen wechselnden Rechtswahlklauseln zugunsten englischen Rechts (Ziff. 21.1 bzw. Ziff. 29) wegen Fehlens hinreichender Klarheit als unwirksam erachtet wurden.

[4]Ausgehend davon, dass unter den Voraussetzungen des Art. 3 Rom I-​VO grundsätzlich englisches Recht als das am Sitz der Hauptverwaltung der Beklagten anwendbares Recht gemäß Art. 5 Abs. 2 Rom I-​VO vereinbart werden kann, richten sich Zustandekommen und Wirksamkeit einer Rechtswahl gem. Art. 3 i.V.m. Art. 10 Abs. 1 Rom I-​VO nach dem Recht, das anzuwenden wäre, wenn die Rechtswahl wirksam wäre. Die Wirksamkeit der Rechtswahl ist also für die Frage, welcher Prüfungsmaßstab bei der Untersuchung der Wirksamkeit und des Zustandekommens anzulegen ist, grundsätzlich zu unterstellen (vgl. BeckOK-​BGB/Spickhoff, 56. Edition, Art. 3 Rom I-​VO, Rn. 14; OLG Frankfurt a.M., Urteil vom 13.12.2018 – 16 U 15/18 (IPRspr 2018-93), RdTW 2019, 472/474). Danach wäre hier englisches Recht anwendbar.

[5]Ob die streitgegenständlichen Klauseln dennoch – wie vom Amtsgericht geurteilt – unmittelbar anhand § 305c BGB zu messen ist, weil sich eine Partei für die Behauptung, der Rechtswahl vertraglich nicht zugestimmt zu haben, auf das Recht des Staates des gewöhnlichen Aufenthaltes berufen kann und alle Zedenten der streitgegenständlichen Ansprüche ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben, kann offenbleiben. Denn als Kontrollmaßstab einer Rechtswahlklausel in einem Vertrag zwischen einem Verbraucher und einer Fluggesellschaft sind jedenfalls auch die der Umsetzung der Klausel-RL 93/13/EWG dienenden Vorschriften heranzuziehen, die ihrerseits richtlinienkonform auszulegen sind (vgl. LG Düsseldorf, Hinweisbeschluss vom 15.11.2021 – 22 O 133/20, BeckRS 2021, 36900 nebst vorangegangenem Hinweisbeschluss in gleicher Sache vom 05.07.2021; LG Düsseldorf, Hinweisbeschluss vom 17.05.2022 – 22 S 36/22, BeckRS 2022, 11025; LG Köln, Teilurteil vom 14.01.2022 – 12 O 230/20, BeckRS 2022, 278; LG Frankfurt a.M., Urteil vom 09.12.2021 – 2-​24 0 110/21). Vorliegend ist von der Verbrauchereigenschaft aller Zedenten auszugehen, nachdem die Buchungen jeweils auf Namen natürlicher Personen erfolgt sind, keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Buchenden mit den nicht angetretenen Flügen überwiegend gewerbliche Zwecke oder Zwecke einer selbständigen beruflichen Tätigkeit verfolgt haben und nach der Rechtsprechung des BGH im Zweifel ein Verbrauchergeschäft anzunehmen ist.

[6]Bei der Klausel-RL 93/13/EWG handelt es sich um eine allgemeine Regelung zum Schutz der Verbraucher, die in allen Wirtschaftszweigen einschließlich desjenigen des Luftverkehrs anwendbar ist (vgl. EuGH, Urteil vom 18.11.2020 – C-​519/19, juris, Rz. 52 m.w.N.). Dabei ist es Sache des nationalen Gerichts, zu ermitteln, ob eine Klausel in Anbetracht der jeweiligen Umstände des Einzelfalls den Anforderungen an Treu und Glauben, Ausgewogenheit und Transparenz genügt (vgl. EuGH, Urteil vom 28.07.2016 – C-​191/15, NJW 2016, 2727; LG Köln, Teilurteil vom 14.01.2022 – 12 O 230/20, BeckRS 2022, 278; LG Frankfurt a.M., Urteil vom 09.12.2021 – 2-​24 0 110/21).

[7]Eine vorformulierte Rechtswahlklausel, mit der das Recht des Mitgliedstaats gewählt wird, in dem der Unternehmer seinen Sitz hat, ist dann als missbräuchlich anzusehen, wenn sie bestimmte, mit ihrem Wortlaut oder ihrem Kontext zusammenhängende Besonderheiten aufweist, die entgegen Art. 3 Abs. 1 RL 93/13/EWG ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der Rechte und Pflichten der Vertragspartner verursachen. Die Missbräuchlichkeit einer solchen Klausel kann sich auch aus einer Formulierung ergeben, die nicht dem in Art. 5 RL 93/13/EWG aufgestellten Erfordernis einer klaren und verständlichen Abfassung genügt. Dieses Erfordernis muss unter Berücksichtigung unter anderem des geringeren Informationsstands, den der Verbraucher gegenüber dem Gewerbetreibenden besitzt, weit ausgelegt werden. Darüber hinaus ist es, wenn die Wirkungen einer Klausel durch bindende Rechtsvorschriften bestimmt oder beschränkt werden, entscheidend, dass der Gewerbetreibende den Verbraucher über diese Vorschriften unterrichtet (vgl. EuGH, Urteil vom 28.07.2016 – C-​191/15, NJW 2016, 2727; LG Düsseldorf, Hinweisbeschluss vom 15.11.2021 – 22 O 133/20, BeckRS 2021, 36900 nebst vorangegangenem Hinweisbeschluss in gleicher Sache vom 05.07.2020; LG Düsseldorf, Teilurteil vom 21.02.2022 – 22 O 8/21, BeckRS 2022, 5294; LG Köln, Teilurteil vom 14.01.2022 – 12 O 230/20, BeckRS 2022, 278; LG Frankfurt a.M., Urteil vom 09.12.2021 – 2-​24 0 110/21). Das insoweit geltende Transparenzgebot ist seinem Sinn und Zweck nach zugleich ein Informationsgebot. Es verbietet Vertragsklauseln, welche dem Verbraucher eine falsche Vorstellung über seine Rechte suggerieren (LG Köln, Teilurteil vom 14.01.2022 – 12 O 230/20, BeckRS 2022, 278).

[8]Gemessen hieran sind die vorliegend im Streit stehenden Rechtswahlklauseln in den AGB der Beklagten unwirksam. Der missbräuchliche Charakter der Klauseln folgt insbesondere daraus, dass sie dem Durchschnittsverbraucher nicht hinreichend vor Augen führen, dass die Verordnung (EG) Nr. 261/2004 (Fluggastrechte-​VO) dem gewählten englischen Recht in ihrer Anwendbarkeit vorgeht (so auch LG Düsseldorf, Hinweisbeschluss vom 15.11.2021 – 22 O 133/20, BeckRS 2021, 36900 nebst vorangegangenem Hinweisbeschluss in gleicher Sache vom 05.07.2021; LG Düsseldorf, Teilurteil vom 21.02.2022 – 22 O 8/21, BeckRS 2022, 5294; LG Köln, Teilurteil vom 14.01.2022 – 12 O 230/20, BeckRS 2022, 278).

[9]Die von der Beklagten verwendete AGB-​Klausel Ziff. 21.1 enthält lediglich allgemein die Angabe, dass „anwendbares Recht (einschließlich der Übereinkommen und der Verordnung EU261)“ der Geltung der Gesetze von England und Wales für das Vertragsverhältnis mit der Beklagten entgegenstehen können. Für einen durchschnittlichen Verbraucher ohne juristische Vorkenntnisse ist bereits unklar, was unter diesen Begrifflichkeiten zu verstehen ist. Er kann nicht ersehen, welches das vorrangig anwendbare Recht sein soll. Auch die Angabe einer „Verordnung EU261“ ist keinesfalls hinreichend, um den notwendigen Verweis auf die Fluggastrechteverordnung als Verordnung (EG) Nr. 261/2004 darstellen zu können. Es handelt sich nicht um eine unter juristischen Laien nachvollziehbare Abkürzung. Von einem Verbraucher ist nicht zu erwarten, dass er unter Zuhilfenahme einer nachfolgenden Definition in Ziff. 22.1 ermittelt, was gemeint ist. Es fehlt zudem an einem hinreichend konkreten Hinweis auf das M. Übereinkommen (so auch LG Köln, Teilurteil vom 14.01.2022 – 12 O 230/20, BeckRS 2022, 278; LG Düsseldorf, Hinweisbeschluss vom 15.11.2021 – 22 O 133/20, BeckRS 2021, 36900 nebst vorangegangenem Hinweisbeschluss in gleicher Sache vom 05.07.2020; LG Düsseldorf Teilurteil vom 21.02.2022 – 22 O 8/21, BeckRS 2022, 5294). Nicht zuletzt ist die pauschale Aufführung des „anwendbaren Rechts einschließlich der Übereinkommen und der Verordnung EU261“ auch irreführend im Sinne von Art. 3 Abs. 1 RL 93/13/EWG, da nicht den Vorgaben der Rechtsprechung des EuGH an eine ausreichend konkrete Unterrichtung des Verbrauchers über die Wirkung einer Rechtswahlabrede bestimmende bindende Rechtsvorschriften genügend (vgl. EuGH, Urteil vom 28.07.2016 – C-​191/15, NJW 2016, 2727; LG Düsseldorf, Beschluss vom 12.10.2021 – 22 O 34/21; LG Köln, Teilurteil vom 14.01.2022 – 12 O 230/20, BeckRS 2022, 278).

[10]Die andere in den AGB der Beklagten verwendete Rechtswahlklausel (Ziff. 29) erwähnt die vorgehende Fluggastrechteverordnung überhaupt nicht und ist von daher erst recht als gegen das Transparenzgebot verstoßend zu bewerten.

[11]Da die im Streit stehenden Rechtswahlklauseln der Beklagten unwirksam sind, verbleibt es bei dem gem. Art. 5 Abs. 2 Rom I-​VO anwendbaren Sachrecht. Hiernach kommt deutsches Recht zur Anwendung.

[12]3. ...

Fundstellen

LS und Gründe

BeckRS, 2022, 29304

Permalink

https://iprspr.mpipriv.de/2022-119

Lizenz

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