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Verfahrensgang

ArbG Nürnberg, Urt. vom 16.11.2020 – 7 Ca 796/20
LAG Nürnberg, Urt. vom 31.08.2021 – 4 Sa 44/21, IPRspr 2021-259
BAG, Urt. vom 30.11.2022 – 5 AZR 462/21

Rechtsgebiete

Arbeitsrecht → Individualarbeitsrecht
Allgemeine Lehren → Rechtswahl
Zuständigkeit → Versicherungs-, Verbraucher-, Arbeitsgerichtsstand

Leitsatz

Zwingende Vorschriften i.S.v. Art. 8 Rom I-VO sind Normen, die dem Schutz der Beschäftigten dienen und vertraglich nicht abdingbar sind; hierzu zählen auch Tarifnormen, sofern sie für das Arbeitsverhältnis konkret gelten. [LS der Redaktion]

Rechtsnormen

BGB §§ 305 ff.
EuGVVO 1215/2012 Art. 21
GewO § 106
KSchG §§ 1 ff.
Rom I-VO 593/2008 Art. 3; Rom I-VO 593/2008 Art. 8
TVG § 3; TVG § 4

Sachverhalt

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer Versetzung, hilfsweise über die Wirksamkeit einer vorsorglich erklärten Änderungskündigung sowie Weiterbeschäftigung zu unveränderten Vertragsbedingungen. Der Kläger war seit März 2018 bei der Fluggesellschaft R… DAC als First Officer auf dem Muster Boeing 737-800 beschäftigt und am Flughafen in Nürnberg stationiert. Sein Arbeitsverhältnis ging zum 1.1.2020 im Weg des Betriebsübergangs auf die Beklagte über. Diese ist eine zur irischen R…-Gruppe gehörende Fluggesellschaft mit Sitz in Malta und Heimatbasis auf dem Flughafen von Malta. Sie führt an verschiedenen Flughäfen in Deutschland, Italien, Frankreich, Malta und Rumänien internationale Flüge durch. Der Kläger ist Mitglied in der Pilotengewerkschaft Vereinigung Cockpit e.V. Im Arbeitsvertrag des Klägers vom 23.03.2018 wurde unter Ziffer 36.1 die Anwendbarkeit irischen Rechts vereinbart. Der Arbeitsvertrag wurde seitens der R… DAC in Irland unterzeichnet. Unter dem 09.09. und 05.11./07.11.2019 schlossen die R… DAC, die Beklagte und die Pilotengewerkschaft Vereinigung Cockpit e.V. einen Vergütungstarifvertrag (im Folgenden: VTV) für alle direkt bei R… DAC angestellte Piloten, die an deutschen Basen stationiert sind. In § 1 Ziffer 1 VTV wurde festgelegt, dass für diese rückwirkend zum 1.2.2019 deutsches Recht mit Ausnahme deutschen Steuerrechts und des Rechts zur betrieblichen Altersversorgung Anwendung findet. Mit Schreiben vom 20.1.2020 wurde dieser mit Wirkung zum 1.5.2020 nach Bergamo/Italien versetzt. Vorsorglich kündigte die Beklagte mit diesem Schreiben das bestehende Arbeitsverhältnis zum 30.4.2020 und bot gleichzeitig an, das Arbeitsverhältnis ab 1.5.2020 in Bergamo fortzusetzen. Mit Schreiben vom 06.02.2020 widersprach der Kläger der Versetzung und nahm die Änderungskündigung unter dem Vorbehalt an, dass die Änderung der Arbeitsbedingungen nicht sozial ungerechtfertigt ist. Der tatsächliche Beginn der Tätigkeit des Klägers in Italien wurde aufgrund der COVID-19-Pandemie einvernehmlich auf den 1.7.2020 verschoben. Am 9.7.2020 übersandte die Beklagte dem Kläger einen Arbeitsvertrag, der in Ziffer 32 die Anwendung italienischen Rechts auf das Arbeitsverhältnis vorsieht.

Mit Klage vom 17.2.2020, am gleichen Tag beim Arbeitsgericht Nürnberg eingegangen, hat der Kläger die Unwirksamkeit der Versetzung bzw. hilfsweise der vorsorglich ausgesprochenen Änderungskündigung geltend gemacht. Zudem hat er Weiterbeschäftigung zu den bisherigen Vertragsbedingungen begehrt und die Feststellung, dass das Arbeitsverhältnis auch nicht durch andere Beendigungstatbestände endet, sondern zu unveränderten Bedingungen über den 30.4.2020 hinaus fortbesteht, beantragt. Das Arbeitsgericht Nürnberg hat mit Endurteil vom 16.11.2020 die Klage abgewiesen. Dabei hat es seine internationale Zuständigkeit bejaht. Hiergegen hat die Beklagte Berufung eingelegt.

Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]B.

[2]Die Berufung ist jedoch in der Sache unbegründet. Zu Recht hat das Arbeitsgericht die Versetzung des Klägers nach Bergamo für wirksam erachtet. Eine Überprüfung der hilfsweise geltend gemachten Feststellung der Unwirksamkeit der vorsorglich ausgesprochenen Änderungskündigung war nicht veranlasst. Gleiches gilt für die hilfsweise beantragte Weiterbeschäftigung zu unveränderten Arbeitsbedingungen.

[3]I. Die internationale Zuständigkeit ist – was auch von den Parteien nicht in Zweifel gezogen wird – nach Art. 21 Nr. 2 lit. a EUGVVO gegeben, da der Kläger seine Arbeit zuletzt gewöhnlich von der Base in Nürnberg aus verrichtet hat (vgl. Zöller/Geimer, ZPO, 33. Aufl. 2020, Art. 21 EuGVVO, Rdnr. 6; zur Bedeutung des Begriffs der Heimatbasis als wichtigem Indiz für den Begriff des Ortes, an dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet vgl. BAG v. 07.05.2020, Az. 2 AZR 692/19 (IPRspr 2020-142)).

[4]II. Die Versetzung des Klägers nach Bergamo ist nach Ansicht des Berufungsgerichts vom Direktionsrecht der Beklagten nach § 106 GewO in Verbindung mit dem TVSP gedeckt. Die Frage, ob die Versetzungsklausel in Ziffer 6.1 des Arbeitsvertrages vom 23.03.2018 wirksam ist oder nicht, ist nach Auffassung des Berufungsgerichtes nicht entscheidungserheblich. Das erkennende Gericht schließt sich insoweit den sorgfältigen und weitgehend zutreffenden Ausführungen des Arbeitsgerichts sowie nach eigener Prüfung der Berufungsbegründung den zutreffenden rechtlichen Ausführungen des LAG Nürnberg vom 12.05.2021, Az. 2 Sa 29/21 (IPRspr 2021-356) bzw. des LAG Nürnberg vom 23.04.2021, Az. 8 Sa 450/20 (IPRspr 2021-256), an.

[5]1. Die Wirksamkeit der streitgegenständlichen Versetzung von Nürnberg nach Bergamo ist nach deutschem Recht zu überprüfen. Dies gilt trotz der Vereinbarung irischen Rechts in Ziffer 36.1 des Arbeitsvertrags vom 23.03.2018 sowohl für die Prüfung der Versetzungsklausel im Arbeitsvertrag als auch für die Frage, ob die Versetzung billigem Ermessen im Sinne des § 106 Satz 1 GewO entspricht.

[6]a. Nach Art. 3 Abs. 1 Rom-I-VO gilt grundsätzlich die freie Rechtswahl. Vorliegend haben die Vertragsparteien ausdrücklich eine Rechtswahl getroffen und die Anwendung irischen Rechts vereinbart. Die Rechtswahl ist im internationalen Arbeitsvertragsrecht jedoch in mehrfacher Hinsicht eingeschränkt, d.h. unabhängig von einer Vereinbarung über das anzuwendende Recht setzen sich bestimmte zwingende Normen aus Gründen des Arbeitnehmerschutzes durch. Zunächst folgt aus Art. 8 Abs. 1 Satz 2 Rom-I-VO, dass durch die Rechtswahl dem Arbeitnehmer nicht der Schutz der zwingenden Normen des Rechts entzogen werden darf, welches bei objektiver Anknüpfung nach Art. 8 Abs. 2, Abs. 3 oder Abs. 4 Rom-I-VO anzuwenden wäre. Bei objektiver Anknüpfung käme deutsches Recht zur Anwendung, da der Kläger an der Base in Nürnberg stationiert war und daher die Arbeit gewöhnlich von Deutschland aus verrichtet hat, Art. 8 Abs. 2 Satz 1, 2. Alt. Rom-I-VO (vgl. EuGH v. 14.09.2017, Az. C-168/16 und C-169/16; BAG v. 07.05.2020, a.a.O.). Zwingende Vorschriften in diesem Sinne sind Normen, die dem Schutz der Beschäftigten dienen und vertraglich nicht abdingbar sind, z.B. §§ 1 bis 14 KSchG sowie §§ 305 ff BGB (vgl. Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht/Schlachter, 21. Aufl. 2021, Art. 9 Rom I-VO, Rdnr. 19). Hierzu zählen auch Tarifnormen, sofern sie für das Arbeitsverhältnis konkret gelten, § 4 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 TVG (vgl. BAG v. 09.07.2003, Az. 10 AZR 593/02; ErfK/Schlachter, a.a.O., Art. 9 Rom I-VO, Rdnr. 19). Anzuwenden ist die für den Arbeitnehmer günstigere Norm, wobei für den Günstigkeitsvergleich zusammengehörige Regelungskomplexe als sog. Sachgruppenvergleich zu vergleichen sind (vgl. Preis/Temming, Der Arbeitsvertrag, 6. Aufl. 2020, § 220, Entsendung, Rdnr. 9; m.w.N.).

[7]b. Der zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Versetzung geltende VTV sieht ausdrücklich vor, dass rückwirkend ab 01.02.2019 für alle an deutschen Basen stationierten Piloten deutsches Recht zur Anwendung kommt.

[8]aa. Eine solche Vereinbarung des Arbeitsvertrags-Statuts durch einen Tarifvertrag ist zulässig. Die Notwendigkeit des tariflichen Schutzes kann bei grenzüberschreitenden Unternehmenstätigkeiten nicht geringer eingeschätzt werden als bei rein nationalen Sachverhalten. Die anwendbare Rechtsordnung kann die Arbeitsverhältnisse in so erheblichem Ausmaß gestalten, dass sie als tariflich regelbare Arbeitsbedingung einzuordnen ist (vgl. ErfK/Schlachter, a.a.O., Art. 9 Rom I-VO, Rdnr. 7; Kommentar zum europäischen Arbeitsrecht/Krebber, 3. Aufl. 2020, Art. 8 VO 593/2007/EG, Rdnr. 9; m.w.N.). Weitere Voraussetzung ist, dass der entsprechende Tarifvertrag das in Frage stehende Arbeitsverhältnis rechtlich erfasst und gestaltet. Dies ist bei Tarifgebundenheit nach §§ 3 Abs. 1 und 4 Abs. 2 TVG der Fall (vgl. EuArbRK/Krebber, a.a.O., Art. 8 VO 593/2007/EG, Rdnr. 9; m.w.N.). Im vorliegenden Fall liegt beiderseitige Tarifgebundenheit vor. Der Kläger ist Mitglied der tarifschließenden Pilotengewerkschaft Vereinigung Cockpit e.V.. Die Rechtsvorgängerin der Beklagten und diese selbst sind als tarifschließende Arbeitgeber Tarifpartei. Das Arbeitsverhältnis hätte ohne die im Arbeitsvertrag getroffene Rechtswahl deutschem Arbeitsrecht unterlegen. Die Parteien haben Nürnberg als Homebase des Klägers vereinbart. Aus der Gesamtheit der Umstände ergibt sich nicht, dass der Arbeitsvertrag eine engere Verbindung zu einem anderen Staat im Sinne von Art. 8 Abs. 4 Rom I-VO hatte.

[9]bb. Die Rechtswahl kann jederzeit geändert werden, Art. 3 Abs. 2 Rom I-VO. Dies haben die Tarifvertragsparteien für an den deutschen Basen stationierten Piloten getan, in dem sie deutsches Recht vereinbart haben. Hinzu kommt, dass die Beklagte und ihre Rechtsvorgängerin selbst Arbeitsvertrags- und Tarifvertragspartei sind. In einem solchen Fall wäre es ohnehin treuwidrig, sich weiterhin auf die Geltung irischen Rechts zu berufen.

[10]2. ...

Fundstellen

LS und Gründe

BeckRS, 2021, 52593

Permalink

https://iprspr.mpipriv.de/2021-259

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