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Verfahrensgang

ArbG Nürnberg, Urt. vom 29.10.2020 – 9 Ca 797/20
LAG Nürnberg, Urt. vom 23.04.2021 – 8 Sa 450/20, IPRspr 2021-256
BAG, Urt. vom 30.11.2022 – 5 AZR 336/21, IPRspr 2022-124

Rechtsgebiete

Arbeitsrecht → Individualarbeitsrecht
Allgemeine Lehren → Rechtswahl
Zuständigkeit → Versicherungs-, Verbraucher-, Arbeitsgerichtsstand

Leitsatz

Tarifvertrags-Statut und Arbeitsvertrags-Statut können auseinanderfallen. Tarifvertragsparteien können mit normativer Wirkung für in der betreffenden deutschen Gewerkschaft organisierte Arbeitnehmer, deren Arbeitsvertrag ausländischem Recht unterliegt, Tarifverträge schließen, d.h. der Tarifvertrag kann Arbeitsverhältnisse umfassen, die selbst einer ausländischen Rechtsordnung unterliegen. Dabei kann durch den Tarifvertrag auch eine Bestimmung des Arbeitsvertrags-Statuts erfolgen, d.h. der Tarifvertrag kann eine Regelung treffen, nach der das Arbeitsvertrags-Statut deutsches Recht sein soll. [LS der Redaktion]

Rechtsnormen

EuGVVO 1215/2012 Art. 21
GewO § 106
KSchG §§ 1 ff.
Rom I-VO 593/2008 Art. 3; Rom I-VO 593/2008 Art. 8

Sachverhalt

Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer Versetzung, hilfsweise um die Wirksamkeit einer vorsorglich erklärten Änderungskündigung und um Weiterbeschäftigung. Der Kläger war seit Januar 2018 bei der Fluggesellschaft R… DAC als Captain auf dem Muster Boing 737-800 beschäftigt und von Beginn an am Flughafen in Nürnberg stationiert. Sein Arbeitsverhältnis ging zum 1.1.2020 im Weg des Betriebsübergangs auf die Beklagte über. Diese ist eine zur irischen R…-Gruppe gehörende Fluggesellschaft mit Sitz in Malta und Heimatbasis auf dem Flughafen von Malta. Sie führt an verschiedenen Flughäfen in Deutschland sowie in Italien, Frankreich, Malta und Rumänien internationale Flüge durch. Der Kläger ist Mitglied in der Vereinigung Cockpit e.V. Im Arbeitsvertrag des Klägers vom 5.12.2017 wurde unter Ziffer 35 die Anwendbarkeit von irischem Recht vereinbart. Der Vertrag wurde seitens der Arbeitgeberin in Irland unterzeichnet. Unter dem 09.09. und 05.11./07.11.2019 schlossen durch die R… DAC, die Beklagte und die Pilotengewerkschaftsvereinigung Cockpit e.V. einen Vergütungstarifvertrag (im Folgenden: VTV) für direkt bei R… angestellte Piloten, die in Deutschland stationiert sind sowie einen Tarifsozialplan (im Folgenden TVSP) bezüglich der Stilllegung/Einschränkung von Stationierungsorten für die Piloten der R… in Deutschland. In § 1 Ziffer 1 VTV wurde festgelegt, dass für alle an deutschen Basen stationierten Piloten rückwirkend zum 1.2.2019 deutsches Recht, mit Ausnahme deutschen Steuerrechts und des Rechts zur betrieblichen Altersversorgung Anwendung findet. Die R… DAC und die Beklagte informierten mit Schreiben vom 2.12.2019 gemeinsam die in Deutschland stationierten Piloten über den bevorstehenden Betriebsübergang. Mit zweisprachigem Schreiben vom 20.1.2020 wurde der Kläger mit Wirkung zum 1.5.2020 nach Bologna/Italien versetzt. Vorsorglich kündigte die Beklagte das bestehende Arbeitsverhältnis zum 30.4.2020 und bot gleichzeitig an, das Arbeitsverhältnis ab 1.5.2020 in Bologna als neuem Arbeitsort fortzusetzen. Mit Schreiben vom 5.2.2020 widersprach der Kläger der Versetzung und nahm die Änderungskündigung unter dem Vorbehalt an, dass die Änderung der Arbeitsbedingungen nicht sozial ungerechtfertigt oder aus anderen Gründen rechtsunwirksam ist. Der tatsächliche Beginn der Tätigkeit des Klägers in Italien wurde aufgrund der COVID-19-Pandemie einvernehmlich auf den 1.7.2020 verschoben.

Mit Klage vom 17.2.2020 machte der Kläger die Unwirksamkeit der Versetzung und Änderungskündigung geltend, begehrte Weiterbeschäftigung zu den bisherigen Bedingungen und beantragte des Weiteren die Feststellung, dass das Arbeitsverhältnis auch nicht durch andere Beendigungstatbestände endet, sondern zu unveränderten Bedingungen über den 30.4.2020 hinaus fortbesteht. Das Arbeitsgericht Nürnberg hat mit Endurteil vom 29.10.2020 die Klage abgewiesen. Dabei bejahte es eine internationale Zuständigkeit. Gegen das Endurteil des Arbeitsgerichts Nürnberg legten die Klägervertreter mit Schriftsatz vom 7.12.2020 Berufung ein.

Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]B.

[2]Im Übrigen ist die Berufung unbegründet. Zu Recht hat das Arbeitsgericht im Ergebnis und auch weitgehend mit zutreffender Begründung die Versetzung des Klägers nach Bologna für wirksam erachtet. Eine Überprüfung der sozialen Wirksamkeit der vorsorglich ausgesprochenen Änderungskündigung war somit nicht veranlasst.

[3]I.

[4]Die internationale Zuständigkeit ist – was auch von den Parteien nicht in Zweifel gezogen wird – nach Art. 21 Nr. 2 a) EUGVVO gegeben, da der Kläger seine Arbeit zuletzt gewöhnlich von der Base in Nürnberg aus verrichtet hat.

[5]II.

[6]Die Versetzung nach Bologna ist nach Ansicht des Berufungsgerichts vom Direktionsrecht der Beklagten nach § 106 GewO in Verbindung mit dem Tarifsozialplan gedeckt.

[7]Die Frage, ob die Versetzungsklausel in Ziffer 6.1 des Arbeitsvertrages wirksam ist oder nicht, ist nach Auffassung des Berufungsgerichtes nicht entscheidungserheblich.

[8]Fehlt es – wie hier – an einer Festlegung des Ortes der Leistungspflicht im Arbeitsvertrag, ergibt sich der Umfang des Weisungsrechtes des Arbeitgebers aus § 106 GewO. Auf die Zulässigkeit eines darüber hinaus vereinbarten Versetzungsvorbehaltes kommt es dann nicht an (BAG, Urteil v. 28.08.2013, Az. 10 AZR 537/12, in juris recherchiert).

[9]1. Der Umfang des Weisungsrechtes ist nach § 106 GewO zu bestimmen. Es fehlt an einer Festlegung des Ortes der Leistungspflicht im Arbeitsvertrag. Vorliegend ergibt sich bereits aus § 106 GewO und aus den besonderen Umständen des Einzelfalles grundsätzlich ein Weisungsrecht der Beklagten zu einem weltweiten Einsatz des Klägers.

[10]a) Der Umfang des Direktionsrechts ist vorliegend trotz der Vereinbarung irischen Rechts in Ziffer 35 des Arbeitsvertrages vom 22.01.2018 nach § 106 GewO zu bestimmen.

[11]aa) Nach Art. 3 Abs. 1 Rom-I-VO gilt grundsätzlich die freie Rechtswahl. Vorliegend haben die Vertragsparteien ausdrücklich eine Rechtswahl getroffen und die Anwendung irischen Rechts vereinbart. Die Rechtswahl ist im internationalen Arbeitsvertragsrecht jedoch in mehrerer Hinsicht eingeschränkt, d.h. unabhängig von einer Vereinbarung über das anzuwendende Recht setzen sich bestimmte zwingende Normen aus Gründen des Arbeitnehmerschutzes durch. Zunächst folgt aus Art. 8 Abs. 1 Satz 2 Rom-I-VO, dass durch die Rechtswahl dem Arbeitnehmer nicht der Schutz der zwingenden Normen des Rechts entzogen werden darf, welches bei objektiver Anknüpfung nach Art. 8 Abs. 2, Abs. 3 oder Abs. 4 Rom-I-VO anzuwenden wäre. Zwingende Vorschriften in diesem Sinne sind Normen, die dem Schutz der Beschäftigten dienen und vertraglich nicht abdingbar sind, z.B. die §§ 1 bis 14 KSchG, sowie die AGB-Kontrolle (Erfurter Kommentar, 20. Aufl., Rom-I-VO, § 9 Rz. 19). Anzuwenden ist die für den Arbeitnehmer günstigere Norm, wobei für den Günstigkeitsvergleich zusammengehörige Regelungskomplexe zu vergleichen sind (sog. Sachgruppenvergleich) (so auch Temming in Preis, Der Arbeitsvertrag, 6. Aufl., § 220, Entsendung Rz. 9, m.w.H.).

[12]Somit sind auf das Arbeitsverhältnis des Klägers die deutschen Arbeitnehmerschutzvorschriften anzuwenden.

[13]bb) Insoweit sieht der zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Versetzung anwendbare VTV auch ausdrücklich vor, dass rückwirkend ab 01.01.2019 für alle an deutschen Bases stationierten Piloten deutsches Recht zur Anwendung kommt. Eine solche Vereinbarung des Arbeitsvertrags-Statuts ist nach Ansicht des Berufungsgerichtes zulässig.

[14]Auf das Tarifvertrags-Statut findet der auf Individualarbeitsverträge abstellende Art. 8 Rom-I-VO zwar keine Anwendung, wohl aber Art. 3 Rom-I-VO bezüglich der freien Rechtswahl der Tarifvertragsparteien. Grundsätzlich besteht eine Regelungskompetenz der Tarifvertragsparteien jedoch nur für Arbeitsverhältnisse, die deutschem Arbeitsrecht unterliegen (Preis, Der Arbeitsvertrag, 6. Aufl., § 220 Entsendung, c) Tarifrecht, Rz. 18 m.w.H.). Tarifvertrag-Statut und Arbeitsvertrag-Statut können auseinanderfallen. Tarifvertragsparteien können mit normativer Wirkung für in der betreffenden deutschen Gewerkschaft organisierte Arbeitnehmer, deren Arbeitsvertrag ausländischem Recht unterliegt, Tarifverträge schließen, d.h. der Tarifvertrag kann Arbeitsverhältnisse umfassen, die selbst einer ausländischen Rechtsordnung unterliegen. Dabei kann durch den Tarifvertrag auch eine Bestimmung des Arbeitsvertrags-Statuts erfolgen, d.h. der Tarifvertrag kann eine Regelung treffen, nach der das Arbeitsvertrags-Statut deutsches Recht sein soll (so auch Henssler/Moll/ Bepler, Der Tarifvertrag, 2. Aufl., Teil 17 Rz. 32, 56, m.w.H.).

[15]Dies haben die Tarifvertragsparteien in § 1 des VTV vorliegend geregelt. Ab 01.02.2019 finden auf Arbeitsverträge aller bei R… direkt angestellten Piloten, die an deutschen Basen stationiert sind (Homebase) deutsches Recht Anwendung, d.h. unabhängig davon, ob sie auf der Grundlage eines deutschen Arbeitsvertrages tätig sind. Die Anwendung dieses Tarifvertrages auf das Arbeitsverhältnis der Piloten setzt aber unabdingbar voraus, dass dieser nur Geltung entfaltet, wenn und solange dieser auf einer deutschen Base stationiert ist.

[16]Die Wirksamkeit der Versetzungsmaßnahme ist somit nach deutschem Recht zu beurteilen.

[17]b) ...

Fundstellen

LS und Gründe

BeckRS, 2021, 14601

Permalink

https://iprspr.mpipriv.de/2021-256

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