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Verfahrensgang

AG Lennestadt, Vorlagebeschl. vom 11.01.2021 – 3 C 232/20, IPRspr 2021-255
EuGH, Beschl. vom 21.09.2021 – C-30/21
AG Lennestadt, Versäumnisurt. vom 28.04.2022 – 3 C 232/20
AG Lennestadt, Urt. vom 12.01.2023 – 3 C 232/20, IPRspr 2023-290

Rechtsgebiete

Zuständigkeit → Gerichtsbarkeit

Leitsatz

Das Gericht legt dem Europäischen Gerichtshof gemäß Artikel 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union folgende Frage zur Entscheidung vor:

Ist Art. 1 Abs. 1 Brüssel Ia-VO dahin auszulegen, dass ein gerichtliches Verfahren, das von einer staatlichen Gesellschaft zur Beitreibung einer Gebühr mit Strafcharakter wegen der unbefugten Nutzung einer mautpflichtigen Straße gegen eine natürliche Person mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat eingeleitet wird, in den Anwendungsbereich dieser Verordnung fällt?

Rechtsnormen

AEUV Art. 267
EuGVVO 1215/2012 Art. 1

Sachverhalt

Die Klägerin ist eine ungarische Aktiengesellschaft mit Sitz in Budapest und macht gegen den in Deutschland wohnenden Beklagten Ansprüche auf sogenannte Ersatzmaut (Zusatzgebühr) für das Befahren des gebührenpflichtigen Autobahnnetzes in Ungarn geltend. Die deutsche Bezeichnung der Klägerin lautet Nationale Mauterhebung Geschlossene Dienstleistungs-​AG (NMGD AG). Das ungarische Straßenverkehrsgesetz enthält unter § 15 Abs. 1 die Regelung, dass der Minister in einer Verordnung den Verkehr mit bestimmten Fahrzeugen von der Entrichtung einer Gebühr abhängig machen kann. In § 33/A Abs. 1 ist geregelt, dass für die Nutzung der in einem separaten Gesetz festgelegten öffentlichen Landstraßen in einem bestimmten Zeitraum eine Gebühr (Nutzungsgebühr), bei Nichtentrichtung eine Zusatzgebühr zu zahlen ist. Auf der Grundlage dieser gesetzlichen Ermächtigung ist die Verordnung des Ministers für Wirtschaft und Verkehr Nr. 36/2007 (III. 26.) GKM über die Maut für Autobahnen, Autostraßen und Hauptstraßen (in der Folge: Mautverordnung) erlassen worden. Für die Entrichtung der in der Mautverordnung festgelegten Gebühren haftet der eigetragene Halter des Fahrzeugs. Dies ergibt sich unmittelbar aus § 15 Abs. 2 des ungarischen Straßenverkehrsgesetzes. Unter § 7/A Abs. 7 der Mautverordnung ist geregelt, dass die Zusatzgebühr (dazu sogleich) von der Klägerin kassiert wird. Nach § 1 der Mautverordnung erfolgt die Benutzung der mautpflichtigen Straßen „im Rahmen eines Zivilrechtsverhältnisses“. Die Höhe der regulären Gebühr ist in § 6 der Mautverordnung geregelt. Unter § 7/A Abs. 1 der Mautverordnung ist geregelt, dass eine Zusatz- oder Nachgebühr zu entrichten ist, wenn ein Kraftfahrzeug bei einer Kontrolle nicht über eine gültige Vignette verfügt. Unter § 7/A Abs. 10 in Verbindung mit Anlage 1 Ziffer 1 der Mautverordnung ist die Höhe dieser Nachgebühr reglementiert. Bei Zahlung innerhalb von 60 Tagen nach Erhalt einer Zahlungsaufforderung fällt eine einfache Zusatzgebühr an. Erfolgt die Zahlung nicht binnen 60 Tagen nach Erhalt der Zahlungsaufforderung, so erhöht sich die Zusatzgebühr. Die Klägerin hat die Ungarische Autobahn Inkasso GmbH (im Folgenden UAI GmbH) mit Sitz in Eggenfelden beauftragt und bevollmächtigt, in Deutschland registrierte und durch die Zusatzgebühr betroffene Kraftfahrzeuge bzw. deren Halter zu ermitteln und die Ersatzmaut beizutreiben. Grundlage für die Ermittlungen der UAI GmbH sind durch ein elektronisches System gefertigte Lichtbilder der jeweiligen Kfz-​Kennzeichen, durch welche die mutmaßlichen Mautverstöße der betreffenden Fahrzeuge festgestellt werden. An Hand der Kfz-​Kennzeichen holt die UAI GmbH eine Halterauskunft ein und mahnt sodann regelmäßig mit dem ersten Mahnschreiben die einfache Nachgebühr an. Neben der Ersatzmaut als solcher werden zugleich die bei der UAI GmbH angefallenen Inkassogebühren geltend gemacht. Zusätzlich werden die verauslagten Gebühren für die Halterermittlung dem Schuldner in Rechnung gestellt. Erfolgt auf das erste Mahnschreiben keine Zahlung, so wird mit weiteren Mahnschreiben die erhöhte Nachgebühr geltend gemacht. Der Beklagte ist Halter des Fahrzeugs mit dem deutschen amtlichen Kennzeichen OE-​... Mit diesem Fahrzeug befuhr der Beklagte am 19.12.2019 um 23:24 Uhr in Ungarn jedenfalls kurzzeitig eine mautpflichtige Straße, bevor er nach etwa 15 bis 20 km an einer Tankstelle eine elektronische Mautvignette erwarb. Mit Mahnschreiben vom 10.03.2020 forderte die von der Klägerin beauftragte UAI GmbH den Beklagten zur Zahlung der Ersatzmaut nebst angefallener Gebühren auf. Nachdem keine Reaktion des Beklagten erfolgte, wurde mit weiterem Mahnschreiben vom 13.05.2020 die erhöhte Nachgebühr angemahnt. Daneben wurden Bearbeitungsgebühren, Auslagen für die Halterauskunft, eine Auslagenpauschale und die Umsatzsteuer geltend gemacht.

Den Gesamtbetrag macht die Klägerin nunmehr mit ihrer Klage geltend.

Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]D) Fragen des Gerichts

[2]Das vorlegende Gericht hat im Rahmen der Prüfung seiner Zuständigkeit zu entscheiden, ob sich die internationale Zuständigkeit nach den Vorschriften der EuGVVO (Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Neufassung), Brüssel-​Ia-​Verordnung) richtet. Insoweit hat das Gericht erhebliche Zweifel, ob es sich bei dem vorliegenden Rechtsstreit um eine Zivilsache im Sinne von Art. 1 EuGVVO handelt oder nicht vielmehr um eine öffentlich-​rechtliche Streitigkeit, auf die die EuGVVO nicht anwendbar ist. Das Gericht geht diesbezüglich davon aus, dass für die Beantwortung dieser Frage nicht - wie die Klägerin meint - das nationale Recht maßgeblich ist, sondern vielmehr eine autonome Auslegung erforderlich ist. Der Begriff der Zivil- und Handelssache ist unter Berücksichtigung der Ziele und der Systematik der EuGVVO sowie der allgemeinen Rechtsgrundsätze auszulegen, die sich aus der Gesamtheit der innerstaatlichen Rechtsordnungen ergeben (EuGH, Urteil vom 14.10.1976 - Rs. 29/76, LTU Lufttransportunternehmen GmbH & Co. KG ./. Eurocontrol, Slg. 1976, S. 1541 (ECLI:EU:C:1976:137); EuGH, Urteil vom 11.06.2015, Fahnenbrock u. a., C-​226/13, C-​245/13 und C-​247/13, EU:C:2015:383, Rn. 35).

[3]In einem ebenfalls im weitesten Sinne mit dem Straßenverkehr zusammenhängenden Verfahren hat der Europäische Gerichtshof bereits entschieden, dass ein Zwangsvollstreckungsverfahren, das von einer im Eigentum einer Gebietskörperschaft stehenden Gesellschaft zur Beitreibung einer nicht beglichenen und keinen Strafcharakter aufweisenden, sondern lediglich das Entgelt für eine erbrachte Leistung darstellenden Gebühr für die Nutzung eines öffentlichen Parkplatzes, mit dessen Betrieb diese Gesellschaft von der Gebietskörperschaft betraut wurde, gegen eine natürliche Person mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat eingeleitet wird, in den Anwendungsbereich der EuGVVO fällt (EuGH, Urteil vom 09.03.2017, Pula Parking d.o.o./Tederahn, C-​551/15, ECLI:EU:C:2017:193).

[4]Das Gericht geht jedoch davon aus, dass die vorgenannte Entscheidung nicht auf den vorliegenden Rechtsstreit übertragbar ist. In dem Sachverhalt, der dem Urteil vom 09.03.2017 zugrunde lag, wurde dem Verkehrsteilnehmer ein Parkschein ausgestellt (Rn. 16 des Urteils des EuGH vom 09.03.2017). Vergleichbar im vorliegenden Fall wäre es, wenn der Beklagte eine Vignette gekauft hätte, vorbehaltlich der Frage, ob dadurch tatsächlich ein zivilrechtlicher Vertrag geschlossen worden wäre oder ob es sich nicht vielmehr um eine öffentlich-​rechtliche Gebühr für eine staatliche Leistung handelt, nicht zuletzt deshalb, da die maßgeblichen nationalen Regelungen (auch) im Regelungsbereich der Richtlinien 1992/62/EG und 2006/38/EG liegen.

[5]Allerdings hat der Beklagte im vorliegenden Fall ja zunächst gerade keine Vignette gekauft, weshalb die Klägerin eine in der deutschen Übersetzung der vorgelegten ungarischen Rechtstexte als „Zusatzgebühr“ oder „Nachgebühr“ bezeichnete Gebühr anstelle (und nicht etwa zusätzlich; vgl. die Zahlungsaufforderungen vom 10.03.2020 und 13.05.2020, Bl. 37 und 38 der Akte) der eigentlichen Maut geltend macht. Hierbei handelt es sich nach Einschätzung des Gerichts um eine einseitig durch öffentlich-​rechtliche Norm festgesetzte Strafgebühr, die nicht nur ein Entgelt für eine erbrachte Leistung darstellt (anders als in dem Urteil des EuGH vom 09.03.2017, vgl. dort Rn. 36). Das Gericht sieht deshalb gewichtige Anhaltspunkte dafür, die Festsetzung und Durchsetzung dieser Gebühr mit Strafcharakter als hoheitlichen Akt zu werten mit der Folge, dass auf den vorliegenden Rechtsstreit die Regelungen der EuGVVO nicht anwendbar sind.

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