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Verfahrensgang

LG Wuppertal, Urt. vom 22.04.2020 – 3 O 369/19
OLG Düsseldorf, Urt. vom 21.05.2021 – 16 U 220/20, IPRspr 2021-243

Rechtsgebiete

Zuständigkeit → Versicherungs-, Verbraucher-, Arbeitsgerichtsstand
Vertragliche Schuldverhältnisse → Verbraucherrecht

Leitsatz

Rechtsgeschäfte zur privaten Geldanlage gelten - wie aus Art. 17 Abs. 1 EuGVVO ersichtlich - grundsätzlich nicht als (selbständige) berufliche oder gewerbliche Tätigkeit gemäß den Vorschriften der EuGVVO.

Für das Merkmal des "Ausrichtens" im Sinne von Art. 17 Abs. 1 lit. c) EuGVVO ist der Zeitpunkt des Vertragsschlusses entscheidend; es kommt nicht auf die Klageeinreichung an.

Für die Annahme der internationalen Zuständigkeit am Wohnsitz des Verbrauchers ist auch unerheblich, ob dieser den Vertragspartner oder einen Rechtsnachfolger des Vertragspartners verklagt. [LS der Redaktion]

Rechtsnormen

BGB § 312
BrexitAbk Art. 67; BrexitAbk Art. 126
EuGVVO 1215/2012 Art. 4; EuGVVO 1215/2012 Art. 5; EuGVVO 1215/2012 Art. 17; EuGVVO 1215/2012 Art. 18; EuGVVO 1215/2012 Art. 19; EuGVVO 1215/2012 Art. 25
Rom I-VO 593/2008 Art. 6
ZPO §§ 12 ff.; ZPO § 138; ZPO § 513; ZPO § 517; ZPO § 519; ZPO § 520; ZPO § 546

Sachverhalt

Auf die Darstellung des Tatbestandes wird gemäß § 540 Abs. 2 ZPO in Verbindung mit § 313a ZPO verzichtet.

Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]II.

[2]Nachdem die Klägerin ihre Klageforderung in der Hauptsache in Höhe eines Teilbetrages von ... EUR mit Einwilligung der Beklagten zurückgenommen hat, ist die zulässige Berufung vollumfänglich begründet.

[3]A.

[4]Die Berufung ist zulässig. Sie ist form- sowie fristgerecht eingelegt und begründet worden, §§ 517, 519, 520 ZPO.

[5]1.

[6]Soweit die Beklagte rügt, dass das Landgericht seine sachliche und örtliche Zuständigkeit zu Unrecht angenommen habe, steht dies nicht zur Überprüfung durch den Senat, § 513 Abs. 2 ZPO. Das Gleiche gilt für die Prüfung der funktionellen Zuständigkeit und der Zuständigkeitsverteilung zwischen Zivilkammer und Kammer für Handelssachen (vgl. Heßler, in: Zöller, ZPO, 33. Auflage, § 513 Rn. 7; Ball, in: Musielak/Voit, ZPO, 17. Auflage, § 513 Rn. 7 mit weiteren Nachweisen).

[7]2.

[8]Anderes gilt indessen für die internationale Zuständigkeit. Diese regelt, ob eine Streitsache mit Auslandsbeziehung von deutschen oder ausländischen Gerichten entschieden werden soll. Sie ist in jedem Rechtszug auch ohne Rüge von Amts wegen zu prüfen (vgl. BGH, Urteil vom 28. November 2002, Az.: III ZR 102/02 (IPRspr. 2002 Nr. 157), NJW 2003, 426 - 429; Urteil vom 17. Dezember 1998, Az.: IX ZR 196/97 (IPRspr. 1998 Nr. 229), NJW 1999, 1395 - 1396; Urteil vom 21. November 1996, Az.: IX ZR 264/95 (IPRspr. 1996 Nr. 160), NJW 1997, 397 - 399; Urteil vom 2. Juli 1991, Az.: XI ZR 206/90 (IPRspr. 1991 Nr. 166b), NJW 1991, 3092 - 3093; Patzina, in: Mün chner Kommentar, ZPO, 6. Auflage, § 12 Rn. 69; Heßler, in: Zöller, ZPO, 33. Auflage, § 513 Rn. 8; Ball, in: Musielak/Voit, ZPO, 17. Auflage, § 513 Rn. 7).Mit Recht hat das Landgericht seine internationale Zuständigkeit bejaht.

[9]2.1.

[10]Die Zivilprozessordnung regelt die internationale Zuständigkeit nicht ausdrücklich und unmittelbar, sondern grundsätzlich mittelbar durch stillschweigende Verweisung auf die Vorschriften gemäß §§ 12 ff. ZPO über den Gerichtsstand: Soweit nach diesen Vorschriften ein deutsches Gericht örtlich zuständig ist, ist es nach deutschem Recht auch international zuständig (vgl. BGH, Urteil vom 29. Juni 2010, Az.: VI ZR 122/09 (IPRspr. 2010 Nr. 227), NJW-​RR 2010, 1554 - 1558; Urteil vom 2. März 2010, Az.: VI ZR 23/09 (IPRspr. 2010 Nr. 213), NJW 2010, 1752 - 1754; Urteil vom 22. November 1994, Az.: XI ZR 45/91 (IPRspr. 1994 Nr. 145), NJW 1995, 1225 - 1226; Beschluss vom 14. Juni 1965,. Az.: GSZ 1/65 (IPRspr. 1964–1965 Nr. 224), NJW 1965, 1665 - 1666).

[11]2.2.

[12]Nach diesen Maßstäben ist die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte gegeben (so auch OLG Celle, Beschluss vom 29. Januar 2021, Az.: 9 U 66/20, zitiert nach juris).

[13]a. Die internationale Zuständigkeit in Zivil- und Handelssachen richtet sich hier nach der EuGVVO. Die Vorschriften der EuGVVO gelten auch nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU für vor dem Ablauf der bis zum 31. Dezember 2020 andauernden Übergangszeit eingeleitete gerichtliche Verfahren, Art. 67 Abs. 1, Art. 126 BrexitAbk. Das Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich vom 24. Dezember 2020 hat für den vorliegenden Rechtsstreit aufgrund seiner vorherigen Einleitung unerheblich, da dieses Abkommen erst Wirkungen ab dem Austrittstag entfaltet.

[14]b. Nach Art. 4 Abs. 1 EuGVVO sind Personen, die ihren Wohnsitz in dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates haben, grundsätzlich vor den Gerichten dieses Staates zu verklagen. Abweichend von dieser Regel können Personen jedoch vor den Gerichten eines anderen Mitgliedstaates verklagt werden, wenn eine besondere Zuständigkeit nach der Verordnung gegeben ist, Art. 5 Abs. 1 EuGVVO. So liegen die Dinge hier.

[15]aa. Die im Vereinigten Königreich ansässige Beklagte kann vor einem deutschen Gericht verklagt werden, weil die internationale Zuständigkeit für Verbrauchersachen im Sinne von Art. 17, 18 EuGVVO begründet ist. Der Senat stimmt mit dem Landgericht darin überein, dass die Klägerin den Vertrag über die Genussrechtsbeteiligung als Verbraucher geschlossen hat. Auch die Beklagte behauptet nicht, dass der Erwerb der Genussrechte der beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit der Klägerin diente.

[16](1) Soweit die Beklagte einwendet, dass Eigenkapitalgeber im Verhältnis zur Gesellschaft niemals als Verbraucher handelten, vermag der Senat dem nicht beizutreten. Rechtsgeschäfte zur privaten Geldanlage gelten - wie aus Art. 17 Abs. 1 EuGVVO ersichtlich - grundsätzlich nicht als (selbständige) berufliche oder gewerbliche Tätigkeit gemäß den Vorschriften der EuGVVO (vgl. BGH, Beschluss vom 6. Mai 2013, Az.: X AZR 65/13 (IPRspr 2013-203b), NJW-​RR 2013, 1399 - 1400). Diese Sichtweise steht im Einklang mit der gefestigten Rechtsprechung zu Verbraucherverträgen im Rahmen des § 312 Abs. 1 BGB. Auch insoweit geht der Rechtsprechung davon aus, dass der Erwerb einer Beteiligung an einer Publikumsgesellschaft ein Verbrauchervertrag sein kann, weil der Zweck des Beitritts nicht vorrangig darin besteht, Mitglied der Gesellschaft zu werden, sondern Kapital anzulegen (vgl. EuGH, Urteil vom 15. April 2010, C-​215/08, ZIP 2010, 772 - 775; BGH, Beschluss vom 12. Juli 2010, Az.: II ZR 160/09, ZIP 2010, 2497 - 2499). Es kann dahinstehen, ob etwas anderes für private Einlagen in Gesellschaften oder juristische Personen gilt, wenn der Anleger mit der betreffenden Gesellschaft oder juristischen Person beruflich oder gewerblich eng verbunden ist, denn dafür bestehen vorliegend keine Anhaltspunkte.

[17](2) Entgegen der von der Beklagten vertretenen Rechtsansicht erlangte die Klägerin auch nicht durch eine etwaige Umwandlung ihrer Genussrechte in B-​Stammaktien Unternehmereigenschaft. Der Klägerin kann die Verbrauchereigenschaft nicht einseitig durch Dritte entzogen werden. Die Umwandlung erfolgte erst nach Vertragsschluss und ohne Zustimmung der Klägerin, also allein durch die Restrukturierung der Rechtsvorgängerin der Beklagten. Im Übrigen bleibt es auch gegenüber der Rechtsnachfolgerin bei dem Verbrauchergerichtsstand aus Art. 17 Abs. 1 lit. c) EuGVVO, da andernfalls eine Entziehung allein durch Fusion möglich wäre (vgl. BGH, Urteil vom 9. Februar 2017, Az.: IX ZR 9/16 (IPRspr 2017-253), zitiert nach juris). Hinzu kommt, dass die Klägerin das streitbefangene Genussrechtsverhältnis unstreitig mit Wirkung zum 31. Dezember 2018 gekündigt hat. Folglich nahm die Klägerin an der von der Beklagten behaupteten Umwandlung der Genussrechte in B-​Stammaktien aufgrund der zum Stichtag vollzogenen Kündigung nicht teil.

[18]bb. Die Rechtsvorgängerin der Beklagten hatte ihre operative Tätigkeit auch auf Deutschland ausgerichtet. Hierzu hat die Klägerin vorgetragen, die Rechtsvorgängerin der Beklagten habe die in Rede stehende Kapitalanlage deutschlandweit vertrieben. Auf Grundlage dieses unwidersprochen gebliebenen Vortrages der Klägerin, den der Senat seiner Entscheidung gemäß § 138 ZPO mithin zugrunde zu legen hatte, ist das Merkmal des "Ausrichtens" im Sinne von Art. 17 Abs. 1 lit. c) EuGVVO als erfüllt anzusehen. Entscheidend ist der Zeitpunkt des Vertragsschlusses; es kommt nicht auf die Klageeinreichung an (vgl. Stadler, in: Musielak/Voit, ZPO, 17. Auflage, EuGVVOnF Art. 17 Rn. 7). Für die Annahme der internationalen Zuständigkeit am Wohnsitz des Verbrauchers ist auch unerheblich, ob dieser den Vertragspartner oder einen Rechtsnachfolger des Vertragspartners verklagt. Dies gebietet der mit Art. 17 Abs. 1 lit. c) EuGVVO bezweckte Verbraucherschurz, denn andernfalls könnte sich der Vertragspartner des Verbrauchers durch Fusionen der Bindung des Verbrauchergerichtsstandes entziehen (vgl. BGH, Urteil vom 9. Februar 2017, Az.: IX ZR 67/16 (IPRspr 2017-252), zitiert nach juris). Dem Einwand der Beklagten, sie selbst habe keine berufliche oder gewerbliche Tätigkeit in dem Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland entfaltet, bleibt daher schon aus Rechtsgründen der Erfolg versagt. Die Beklagte kann auch nicht damit gehört werden, das Angebot von Genussrechten stelle sich als ein reines "Passivgeschäft" dar, das der Generierung von eigenkapitalähnlichen Mittel diene. Dies steht dem Begriff des "Ausrichtens" im Sinne von Art. 17 Abs. 1 lit. c) EuGVVO nicht entgegen. Der Europäische Gerichtshof hat den autonom auszulegenden Begriff des Ausrichtens derart umschrieben, dass der Gewerbetreibende für ein Ausrichten seinen Willen zum Ausdruck gebracht habe muss, Geschäftsbeziehungen zu Verbrauchern eines oder mehreren anderen Mitgliedstaaten, darunter des Wohnsitzmitgliedstaats des Verbrauchers, herzustellen (vgl. Gottwald, in: Münchner Kommentar, ZPO, 5. Auflage, Brüssel Ia-​VO Art. 17 Rn. 9 mit weiteren Nachweisen). Dementsprechend reicht es aus, dass sich die Rechtsvorgängerin der Beklagten zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses unstreitig im betreffenden Mitgliedstaat - hier: dem Wohnsitzstaat der Klägerin - um Kunden bemüht hat, ohne dass es darauf ankommt, dass dies mittelbar über einen deutschen Geschäftspartner - hier: die A. Vermögensanlangen AG mit Sitz in S. - erfolgte (vgl. OLG München, Urteil vom 16. März 2016, Az.: 15 U 2341/15 (IPRspr 2016-254), MDR 2016, 609 - 610). Die Klägerin war damit befugt, die Klage vor dem Gericht des Ortes zu erheben, an dem sie ihren Wohnsitz hat, Art. 18 Abs. 1 EuGVOO, woraus folgt, dass die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte gegeben ist.

[19]c. Gegenteiliges ergibt sich auch nicht aus der in § 12 Abs. 2 Satz 2 der Genussrechtsbedingungen getroffenen Vereinbarung, der zufolge Gerichtsstand der Sitz der Gesellschaft ist. Es bedarf keiner Entscheidung durch den Senat, ob diese Vereinbarung in Ansehung der in Art. 25 Abs. 4 EuGVVO in Verbindung mit Art. 19 EuGVVO getroffenen Regelung wirksam ist. Die Klausel ist nach ihrem Wortlaut schon nicht als ausschließliche Gerichtsstandsvereinbarung formuliert; sie beschränkt nicht das Recht des Genussrechtsinhabers, Verfahren vor einem anderen zuständigen Gericht anstrengen. Nichts anderes ergibt sich aus der Zustimmungserklärung der Klägerin zur Neufassung der Genussrechtsbedingungen (Anlage K 4). Die dort in § 4 Nr. 2 getroffene Regelung beschränkt ausdrücklich nicht das Recht des Genussrechtsinhabers, Verfahren vor einem anderen Gericht anzustrengen.

[20]B.

[21]Das Rechtsmittel hat in der Sache ganz überwiegend Erfolg.

[22]Das angefochtene Urteil beruht auf einer Rechtsverletzung im Sinne von § 546 ZPO durch das Landgericht und die zugrunde zu legenden Tatsachen rechtfertigen eine abweichende Entscheidung, § 513 Abs. 1 ZPO.

[23]1.

[24]Noch zutreffend ist das Landgericht gemäß Art. 6 Abs. 1 lit. b) Rom-​I VO von der Anwendbarkeit deutschen Rechts ausgegangen. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die landgerichtlichen Ausführungen im angefochtenen Urteil verwiesenen, denen auch die Beklagte nichts Substantielles entgegen zu setzen hat.

[25]2.

[26]Entgegen dem Landgericht steht der Klägerin gegen die Beklagte einen Rückzahlungsanspruch in Höhe der zuletzt geltend gemachten ... EUR zu.

[27]2.1 ...

Fundstellen

LS und Gründe

BeckRS, 2021, 27880

Permalink

https://iprspr.mpipriv.de/2021-243

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