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Verfahrensgang

LG München I, Urt. vom 04.02.2021 – 31 S 10317/20
LG München I, Urt. vom 04.02.2021 – 31 S 10317/20, IPRspr 2021-15

Rechtsgebiete

Allgemeine Lehren → Ordre public
Rechtsgeschäft und Verjährung → Stellvertretung

Leitsatz

Gemäß Art. 1 Abs. 2 lit. g) Rom I-VO ist die Frage, ob ein Vertreter die Person, für deren Rechnung er zu handeln vorgibt, Dritten gegenüber verpflichten kann, vom Anwendungsbereich der Rom I-VO ausgenommen. Diese Bereichsausnahme betrifft insbesondere die rechtsgeschäftliche Vertretung, so dass alle Fragen der Vollmacht und auch solche des Rechtsscheins vom sachlichen Anwendungsbereich der Rom I-VO ausgenommen sind.

Eine erhöhte Zusatzgebühr (hier: ungarische Mautgebühr), die viermal so hoch wie die Grund-Zusatzgebühr, die Grund-Zusatzgebühr wiederum fünfmal so hoch wie die eigentliche Gebühr ist, verstößt gegen den Ordre-public-Vorbehalt des Art. 26 Rom II-VO i.V.m. Art. 40 Abs. 3 Nr. 1 u. 2 EGBGB. [LS der Redaktion]

Rechtsnormen

36/2007 (III. 26) GMK (Ungarn) § 7/A (10)
EGBGB Art. 40
GKG § 47; GKG § 48
Rom I-VO 593/2008 Art. 1; Rom I-VO 593/2008 Art. 21
Rom II-VO 864/2007 Art. 26
ZPO § 97; ZPO § 513; ZPO § 529; ZPO § 543; ZPO § 546; ZPO § 708

Sachverhalt

Die Klägerin machte gegen den Beklagten in erster Instanz Ansprüche auf Zahlung einer Zusatzgebühr und einer erhöhten Zusatzgebühr geltend. Mit dem Fahrzeug, dessen Halter der Beklagte ist, wurden in Ungarn in 2017 und 2018 21 Fahrten ohne Vignette zurückgelegt. Der Beklagte vermietete das Fahrzeug zu den streitgegenständlichen Zeitpunkten an einen Dritten. Der Beklagte wurde wegen der Verstöße zur Zahlung aufgefordert. Hinsichtlich der weiteren Verstöße folgten weitere Schreiben mit Zahlungsaufforderungen.

Das Amtsgericht hat den Beklagten zur Zahlung der Grund-Zusatzgebühr und zur Zahlung von Inkassokosten verurteilt; die Klage hinsichtlich der erhöhten Zusatzgebühr hat das Amtsgericht abgewiesen. Die Klägerin begehrt mit der Berufung die Verurteilung des Beklagten zur Zahlung auch der erhöhten Zusatzgebühr. Sie beantragt, das Urteil des Amtsgerichts München vom 20.07.2020, AZ 174 C 21102/19, abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin zu zahlen. Der Beklagte beantragt Zurückweisung der Berufung.

Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]II.

[2]Die zulässige Berufung bleibt in der Sache ohne Erfolg, da die angefochtene Entscheidung weder auf einer Rechtsverletzung i.S.d. § 546 ZPO beruht, noch die nach § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen eine andere Entscheidung rechtfertigen, § 513 ZPO.

[3]Aus den von der Klägerin vorgelegten Urteilen ergibt sich folgendes: Teilweise wurde die erhöhte Zusatzgebühr im Anwendungsbereich der Rom I-VO zugesprochen (vgl. LG Freiburg i.B., Beschluss vom 13.07.2020 - 3 S 45/20; LG Nürnberg-Fürth, Urteil vom 30.07.2019 - 16 S 9176/18 (IPRspr 2019-41); AG München, Urteil vom 26.08.2020 - 122 C 1082/20; AG Wolfratshausen, Urteil vom 17.08.2020 - 6 C 91/20). Teilweise wurde die erhöhte Zusatzgebühr im Anwendungsbereich der Rom II-VO zugesprochen (AG Senftenberg, Urteil vom 02.11.2020 - 22 C 219/19; AG München, Urteil vom 20.10.2020 - 154 C 19524/19).

[4]1. Die Klägerin stützt den Anspruch auf Zahlung der erhöhten Zusatzgebühr zu Unrecht auf einen Vertrag zwischen den Parteien. Der Anwendungsbereich der Rom I-VO ist nicht eröffnet. Gemäß Art. 1 Abs. 1 Rom-I VO gilt die Verordnung für vertragliche Schuldverhältnisse in Zivil- und Handelssachen, die eine Verbindung zum Recht verschiedener Staaten aufweisen. Der Beurteilung des Amtsgerichts, es fehle bereits an einem vertraglichen Schuldverhältnis zwischen den Parteien, ist sowohl für die zehn Fälle im Zeitraum 26.11.2017 bis 21.01.2018 als auch für die elf Fälle ab dem 18.04.2018 zu folgen.

[5]a. Hinsichtlich der Entscheidungen, in denen die erhöhte Zusatzgebühr im Anwendungsbereich der Rom I-VO zugesprochen worden ist, ist festzustellen, dass lediglich der zivilrechtliche Charakter der Streitigkeit begründet wird; auf die Frage, wie das Vertragsverhältnis zwischen Klägerin und Halter entsteht, wird dort nicht eingegangen.

[6]b. Der ungarische Lehrstuhlinhaber führt in seinem Rechtsgutachten aus, dass das Rechtsverhältnis zwischen dem Halter des Fahrzeugs und dem Betreiber der Autobahn in der Ungarischen Rechtsordnung seit jeher eindeutig als Vertragsverhältnis angesehen worden sei (S. 5, Ziffer 13). Es genüge ein konkludenter Vertragsschluss; durch die Inanspruchnahme der Autobahn werde eine Verpflichtung gegenüber dem Betreiber der Autobahn freiwillig übernommen, wodurch ein vertragliches Schuldverhältnis entstehe (S. 6, Ziffer 16). Daran ändere nichts, dass Fahrzeughalter und Fahrer nicht immer identisch sind; dem Gesetzgeber stehe es zu, typische Lebensverhältnisse zugrunde zu legen und die Regelungen auf diese zu beziehen (S. 6, Ziffer 17). Ob der Halter die Vermutung, dass er das Fahrzeug gefahren und dadurch den Vertrag abgeschlossen hat, im Allgemeinen widerlegen kann, sei nicht erheblich; selbst wenn in Einzelfällen der Halter nicht selber fährt, könne seine Verpflichtung zur Zahlung der Gebühren und Nachgebühren als typisierende Gesetzgebung angesehen werden, welche die Qualifikation des Rechtsverhältnisses als Vertragsverhältnis nicht berühre (S. 7, Ziffer 18). Insoweit ist anzumerken, dass kein Anscheinsbeweis dafür besteht, dass der Fahrzeughalter auch der Fahrzeugführer ist, denn Halter- und Fahrereigenschaft fallen in der Lebenswirklichkeit häufig auseinander (BGH, Urteil vom 18.12.2019 - XII ZR 13/19, BeckRS 2019, 35600, Rz. 32).

[7]c. Gemäß Art. 1 Abs. 2 lit. g) Rom I-VO ist die Frage, ob ein Vertreter die Person, für deren Rechnung er zu handeln vorgibt, Dritten gegenüber verpflichten kann, vom Anwendungsbereich der Rom I-VO ausgenommen. Diese Bereichsausnahme betrifft insbesondere die rechtsgeschäftliche Vertretung, so dass alle Fragen der Vollmacht und auch solche des Rechtsscheins vom sachlichen Anwendungsbereich der Rom I-VO ausgenommen sind (BeckOGK/Paulus , Stand: 01.10.2020, Art. 1 Rom I-VO Rn. 94). Die damit erfassten Fragen der Vertretungsmacht können daher noch vom nationalen Gesetzgeber geregelt und von den nationalen Gerichten unionsrechtskonform entschieden werden (BeckOK-BGB/Spickhoff , 56. Ed.- Stand: 01.11.2020, Art. 1 Rom I-VO Rn. 41).

[8]d. Hinsichtlich der ersten zehn Fälle kommt eine Bevollmächtigung unter keinem denkbaren Gesichtspunkt in Betracht.

[9]aa. ... bb. ... e. Auch hinsichtlich der weiteren elf Fälle kommt eine Bevollmächtigung nicht in Betracht.

[10]aa. ... bb. ... 2. Das Amtsgericht hat den Anspruch, soweit er auf eine unerlaubte Handlung gestützt wird, ebenfalls zu Recht verneint. Auf die Frage, ob der Anwendungsbereich der Rom II-VO eröffnet ist, kommt es nicht an, denn die erhöhte Zusatzgebühr verstößt jedenfalls gegen den ordre-public-Vorbehalt des Art. 26 Rom II-VO i.V.m. Art. 40 Abs. 3 Nr. 1 u. 2 EGBGB.

[11]a. Gemäß Art. 26 Rom II-VO kann die Anwendung einer Vorschrift des nach der Rom II-VO bezeichneten Rechts nur versagt werden, wenn ihre Anwendung mit der öffentlichen Ordnung (“ordre public“) des Staates des angerufenen Gerichts offensichtlich unvereinbar ist.

[12]Nach Erwägungsgrund Nr. 32 rechtfertigen es Gründe des öffentlichen Interesses, dass die Gerichte der Mitgliedstaaten unter außergewöhnlichen Umständen die Vorbehaltsklausel (ordre public) und Eingriffsnormen anwenden können. Insbesondere kann die Anwendung einer Norm des nach der Rom II-VO bezeichneten Rechts, die zur Folge haben würde, dass ein unangemessener, über den Ausgleich des entstandenen Schadens hinausgehender Schadensersatz mit abschreckender Wirkung oder Strafschadensersatz zugesprochen werden könnte, je nach der Rechtsordnung des Mitgliedstaats des angerufenen Gerichts als mit der öffentlichen Ordnung (“ordre public“) dieses Staates unvereinbar angesehen werden.

[13]Gemäß Art. 40 Abs. 3 EGBGB können Ansprüche, die dem Recht eines anderen Staates unterliegen, nicht geltend gemacht werden, soweit sie (Nr. 1) wesentlich weiter gehen als zur angemessenen Entschädigung des Verletzten erforderlich oder (Nr. 2) offensichtlich anderen Zwecken als einer angemessenen Entschädigung des Verletzten dienen. Diese Norm wird in den Entscheidungen, die im Anwendungsbereich der Rom II-VO die erhöhte Zusatzgebühr zusprechen, nicht thematisiert.

[14]b. Ausgehend hiervon verstößt die erhöhte Zusatzgebühr gegen den ordre-public-Vorbehalt des deutschen Rechts. Die erhöhte Zusatzgebühr ist ausweislich der obigen Angaben viermal so hoch wie die Grund-Zusatzgebühr, die Grund-Zusatzgebühr wiederum ist fünfmal so hoch wie die eigentliche Gebühr. Ein Zusammenhang mit dem Schaden ist nicht erkennbar, zumal die Inkassokosten als Nebenforderung separat eingeklagt werden. In den Zahlungsaufforderungen (vgl. Anlagen K6 etc.) wird formuliert: „Zahlungstermin: spätestens am 60. Tag nach Zustellung dieses Schreibens gemäß Mautverordnung Nr. 36/2007 (III. 26.) GKM. Bei verspäteter Zahlung erhöht sich der Betrag, gemäß § 7/A (10) Nr. 36/2007 (III. 26.) GKM, durch die Erhöhung der Ersatzmaut auf (...). “ Daraus ergibt sich, dass Anknüpfungspunkt für die erhöhte Zusatzgebühr allein die Versäumung des Zahlungstermins ist.

[15]3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergeht nach § 708 Nr. 10 ZPO. Der Streitwert wurde nach §§ 47, 48 GKG festgesetzt.

[16]4. Die Revision war zuzulassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat und die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung die Entscheidung des Bundesgerichtshofs erfordert (§ 543 Abs. 2 Nr. 1 u. 2 ZPO). Dies gilt insbesondere hinsichtlich der Frage, ob ein Verstoß gegen den ordre-public-Vorbehalt (Art. 26 Rom II-VO bzw. Art. 21 Rom I-VO) vorliegt oder nicht.

Fundstellen

Aufsatz

Staudinger/Scharnetzki, DAR, 2021, 191

LS und Gründe

DAR, 2021, 213
NJOZ, 2021, 1457

Permalink

https://iprspr.mpipriv.de/2021-15

Lizenz

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