PDF-Version

Verfahrensgang

AG Schleswig, Beschl. vom 03.02.2021 – 920 F 9/20, IPRspr 2021-109
OLG Schleswig, Hinweisbeschl. vom 08.03.2021 – 15 UF 31/21, IPRspr 2021-303
OLG Schleswig, Beschl. vom 25.03.2021 – 15 UF 31/21

Rechtsgebiete

Kindschaftsrecht → Kindesentführung
Kindschaftsrecht → Sorgerecht, Vormundschaft

Leitsatz

Das Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes gilt nach Art. 3 HKÜ als widerrechtlich, wenn dadurch das Sorgerecht verletzt wird, das einer Person allein oder gemeinsam nach dem Recht des Staates zusteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und dieses Recht im Zeitpunkt des Verbringens oder Zurückhaltens allein oder gemeinsam tatsächlich ausgeübt wurde.

Das Sorgerecht richtet sich nach dem Recht des Staates, in dem das Kind seinen rechtmäßigen gewöhnlichen Aufenthalt hat (hier: Finnland). In Finnland sind die Eltern gemäß § 6 Abs. 1 des Gesetzes über das Sorge- und Umgangsrecht vom 08. April 1983/361 i.d.F. vom 15.03.2019/352 gemeinsam sorgeberechtigt. Die elterliche Gewalt wird von beiden Elternteilen ausgeübt. [LS der Redaktion]

Rechtsnormen

1983/361 SorgerechtG (Finnland) § 6
EuEheVO 2201/2003 Art. 11
HKÜ Art. 3; HKÜ Art. 4; HKÜ Art. 12; HKÜ Art. 13
IntFamRVG § 12

Sachverhalt

Der Antragsteller begehrt von der Antragsgegnerin die sofortige Rückführung des gemeinsamen Kindes M. S., geboren 2018, nach Finnland auf der Grundlage des Haager Kindesentführungsübereinkommens (im Folgenden: HKÜ). Die beteiligten Eltern von M. S. sind nicht miteinander verheiratet. Sie lernten sich 2010 in L. kennen und zogen 2017 gemeinsam nach Finnland. Sie haben zwei gemeinsame Kinder. Das zweite gemeinsame Kind, M. S., wurde 2018 in Finnland geboren. Die Vaterschaft des Kindes wurde anerkannt. Der Antragsteller ist mitsorgeberechtigt. Die gemeinsame elterliche Sorge für das Kind wurde in dem finnischen Bevölkerungsdatensystem registriert. Bei M. wurde nach der Geburt eine globale Entwicklungsstörung (Chromosomendefekt, Hypotonie) diagnostiziert. Seit M.´s Geburt waren zahlreiche Termine im Krankenhaus notwendig. Diese fanden überwiegend in H. und H. statt. M. erhielt auch eine regelmäßige Physiotherapie, die in H. durchgeführt wurde. Sie hatte einen besonderen Förderplatz im Kindergarten. Nach einem Streit im Jahr 2019 trennten sich die Eltern und die Antragsgegnerin begab sich im April 2019 zunächst in ein Frauenhaus und zog dann mit den Kindern aus der gemeinsamen Wohnung aus. Ab Mai 2019 verbrachte die Antragsgegnerin noch die Wochenenden gemeinsam mit den Kindern beim Antragsteller und die Familie verbrachte gemeinsam einen zweiwöchigen Urlaub. Anfang 2020 äußerte die Antragsgegnerin den Wunsch, mit den Kindern zurück nach Deutschland zu ziehen. Am 04.02.2020 bestätigten die Eltern vor dem Jugendamt einen Vertrag über den Wohnort von M. und über das Umgangsrecht. Nach diesem Vertrag sollte M. bei der Antragsgegnerin wohnen und das Recht haben ihren Vater jeweils an drei aufeinanderfolgenden Wochenenden zu sehen. Im Juli 2020 erhielt der Antragsteller ein anwaltliches Schreiben der Antragsgegnerin, in dem sie die Übertragung der elterlichen Sorge verlangte im Hinblick auf einen beabsichtigten Umzug nach Deutschland. Anderenfalls wurde die Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens angekündigt. Der Antragsteller war mit einer Übertragung der elterlichen Sorge nicht einverstanden. Der Antragsteller traf seine Kinder am 1. und 2.8.2020. Nach dem Umgang kehrten die Kinder wie gewohnt zur Antragsgegnerin zurück und der Antragsteller hat seitdem seine Kinder nicht mehr gesehen. Am 11.8.2020 teilte die Antragsgegnerin dem Antragsteller per WhatsApp-Nachricht mit, dass sie mit den Kindern nach Deutschland gezogen sei. Die Antragsgegnerin wurde mit Schreiben vom 21.9.2020 zur freiwilligen Rückführung des Kindes aufgefordert. Die Antragsgegnerin kam dieser Aufforderung nicht nach.

Der Antragsteller beantragt daher, die Antragsgegnerin zu verpflichten, das Kind M. S. innerhalb einer angemessenen Frist nach Finnland zurückzuführen und sofern die Antragsgegnerin der Verpflichtung zu 1. nicht nachkommt, die Herausgabe des Kindes M. S. an den Antragsteller zum Zwecke der sofortigen Rückführung nach Finnland anzuordnen. Für den Fall der Zuwiderhandlung gegen die Herausgabe, beantragt er Regelungen zur Vollstreckung des Rückführungsbeschlusses.

Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]II.

[2]Der Antrag hat Erfolg.

[3]Der Rückführungsantrag ist zulässig. Das Amtsgericht Schleswig ist gem. § 12 Abs. 1 IntFamRVG zuständig.

[4]Der Rückführungsantrag ist auch begründet.

[5]Die Voraussetzungen der Rückführungsanordnung richten sich nach dem Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung vom 25. Oktober 1980 (HKÜ) in Verbindung mit Artikel 11 der Brüssel-IIa-VO.

[6]Das HKÜ findet Anwendung. Finnland Vertragsstaat im Verhältnis zu Deutschland, sodass das Übereinkommen zum Zeitpunkt des hier vorliegenden Sachverhalts galt.

[7]Es findet gem. Artikel 4 HKÜ auf M. Anwendung, weil sie das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hat.

[8]Gem. Artikel 12 Abs. 1 HKÜ ordnet das Gericht die sofortige Rückgabe des Kindes an, wenn ein Kind im Sinn des Artikels 3 widerrechtlich verbracht oder zurückgehalten worden ist und bei Eingang des Antrags bei dem Gericht des Vertragsstaats, in dem sich das Kind befindet, eine Frist von weniger als einem Jahr seit dem Verbringen oder Zurückhalten verstrichen ist.

[9]Die Jahresfrist war zwischen dem Verbringen im August 2020 und dem Eingang des Antrags am 30.12.2020 nicht verstrichen.

[10]Die Antragsgegnerin hat M. widerrechtlich im Sinne des Artikels 3 HKÜ nach Deutschland verbracht und hält sie widerrechtlich hier zurück. Das Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes gilt nach dieser Norm als widerrechtlich, wenn dadurch das Sorgerecht verletzt wird, das einer Person allein oder gemeinsam nach dem Recht des Staates zusteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und dieses Recht im Zeitpunkt des Verbringens oder Zurückhaltens allein oder gemeinsam tatsächlich ausgeübt wurde.

[11]Das Sorgerecht richtet sich nach dem Recht des Staates, in dem das Kind seinen rechtmäßigen gewöhnlichen Aufenthalt hat. In Finnland sind die Eltern gemäß [§ 6 Abs. 1] des Gesetzes über das Sorge- und Umgangsrecht vom 08. April 1983/361 i.d.F. vom 15.03.2019/352 gemeinsam sorgeberechtigt. Die elterliche Gewalt wird von beiden Elternteilen ausgeübt.

[12]Die Antragsgegnerin hat M. ohne Zustimmung des Antragstellers nach Deutschland verbracht. Auch wenn die Antragsgegnerin angibt, der Antragsteller habe ihr zu einem früheren Zeitpunkt sein Einverständnis erteilt, musste ihr aufgrund der weiteren Korrespondenz klar gewesen sein, dass dieses Einverständnis jedenfalls nicht mehr zum Zeitpunkt des Verbringens von M. nach Deutschland bestand. Denn sie trägt selbst vor, dass der Antragsteller ihr zuletzt am 18.06.2020 damit gedroht habe, dass er sie finden und ins Gefängnis bringen würde, wenn sie ausreisen würde. Auch das anwaltliche Schreiben vom Juli 2020 spricht dafür, dass sie wusste, dass der Antragsteller mit einer Auswanderung der Kinder nicht einverstanden war.

[13]Durch das Verbringen des Kindes nach und das Zurückhalten in Deutschland gegen den Willen des Antragstellers verletzt die Antragsgegnerin das diesem - gemeinsam mit ihr - zustehende Sorgerecht.

[14]Die Voraussetzungen des Artikels 13 HKÜ, wonach eine Rückführung unter bestimmten Voraussetzungen nicht anzuordnen ist, liegen nicht vor. Es ist weder ersichtlich, dass die Rückgabe des Kindes mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist noch dass die Rückführung das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringt.

[15]Das Gericht ist nicht davon überzeugt, dass das Kindeswohl durch eine Rückführung gefährdet wird. Die medizinische Versorgung in Finnland ist nicht schlechter als in Deutschland. Finnland hat einen hohen medizinischen Standard und eine gute medizinische Versorgung ist gewährleistet. Eine Kindeswohlgefährdung ist auch nicht darin zu sehen, dass H. ca. 130 km vom Wohnort in Finnland entfernt liegt. Für einzelne Termine ist es durchaus zumutbar eine solche Strecke zurückzulegen. Für die medizinische Versorgung im Alltag ist ein Ärztezentrum in H. vorhanden und im 30 km entfernten Ort T. ein Krankenhaus. Jedenfalls ist ein Umzug nach Deutschland, um eine medizinische Versorgung gewährleisten zu können, nicht notwendig.

[16]Das Gericht sieht in der Rückführung auch sonst keine Kindeswohlgefährdung für M. Es ist dem entführenden Elternteil grundsätzlich zuzumuten, mit dem Kind in den früheren Aufenthaltsstaat zurückzukehren, wenn eine Kindeswohlgefährdung vor allem auf der Entführung beruht, da diese nicht durch die Ausnahmetatbestände des Art. 13 Abs. 1 legalisiert werden soll. Dass eine solche Rückkehr für den entführenden Elternteil unzumutbar ist, wird nur in Ausnahmefällen angenommen. Zu dieser Unzumutbarkeit zählen nicht die üblichen Unannehmlichkeiten durch die Rückreise und auch nicht Berufs- oder Wohnungswechsel, auch grundsätzlich nicht die Gefahr strafrechtlicher Verfolgung oder Belästigung durch häusliche Gewalt, insbesondere wenn diesen durch flankierende gerichtliche Maßnahmen oder durch Vorkehrungen des Antragstellers begegnet werden kann (BeckOGK/Markwardt, 1.11.2020, HKÜ Art. 13 Rn. 25, 26). Sollte die Antragsgegnerin nicht zusammen mit M. zurückziehen, kommt auch die Versorgung durch den Antragsteller als Kindesvater, ggf. unter Inanspruchnahme entsprechender Hilfen, in Betracht.

[17]Da der Ausnahmetatbestand des Art. 13 HKÜ nicht greift, ist die Rückführung des Kindes anzuordnen.

[18]Die sofortige Herausgabe des Kindes ist nicht anzuordnen. Das HKÜ garantiert lediglich den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes, erlaubt aber nicht von vornherein eine Änderung der Obhutsverhältnisse. Nur wenn die Antragsgegnerin die Rückführungsanordnung nicht persönlich umsetzt, gebietet es das Kindeswohl, ihr die Herausgabe an den Antragsteller oder eine Vertrauensperson aufzuerlegen, um die Rückführung nach Finnland durchzuführen.

[19]...

Fundstellen

LS und Gründe

BeckRS, 2021, 15182

Permalink

https://iprspr.mpipriv.de/2021-109

Lizenz

Copyright (c) 2024 Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht
Creative-Commons-Lizenz Dieses Werk steht unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
<% if Mpi.live? %> <% end %>