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Verfahrensgang

VG Freiburg, Urt. vom 02.11.2020 – A 1 K 10261/17, IPRspr 2020-32

Rechtsgebiete

Allgemeine Lehren → Ermittlung, Anwendung und Revisionsfähigkeit ausländischen Rechts
Öffentliches Recht (ab 2020) → ohne Unterteilung

Leitsatz

Es gibt keine Palästinensische Staatsangehörigkeit i.S.v. § 3 I Nr. 2 Buchstabe a AsylG, weil es sich bei den Palästinensischen Autonomiegebieten faktisch und völkerrechtlich nur um teil-autonome Gebiete handelt.

Palästinenser, die im Juli 1988 im Westjordanland gelebt und deshalb die Jordanische Staatsangehörigkeit besaßen, haben diese durch die Loslösung des Westjordanlandes von Jordanien verloren.

Sie sind, wenn sie nicht eine andere Staatsangehörigkeit erworben haben, staatenlos i.S.v. § 3 I Nr. 2 Buchstabe b AsylG. [LS von der Redaktion neu gefasst]

Rechtsnormen

6/1954 StAG (Jordanien) Art. 3; 6/1954 StAG (Jordanien) Art. 8; 6/1954 StAG (Jordanien) Art. 9
AsylG § 3
Disengagement 1988 (Jordanien) Art. 2; Disengagement 1988 (Jordanien) Art. 13; Disengagement 1988 (Jordanien) Art. 15
Oslo I (Israel) Art. IV; Oslo I (Israel) Art. VIII
Oslo II (Israel) Art. IX § 2; Oslo II (Israel) Art. IX § 5; Oslo II (Israel) Art. XII; Oslo II (Israel) Art. XI § 2
StaatenlosenÜ Art. 1

Sachverhalt

Die Kläger sind Palästinenser. Der Kläger zu 1) stammt aus Palästina. Er ist 1960 in ... geboren worden, das im Gouvernement Tulkarem liegt. Seine Ehefrau, die Mutter der Kläger zu 2) bis 4) wurde 1974 in Amman, Jordanien, als Tochter palästinensischer Eltern geboren. Sie hat eine UNRWA-Registrierungskarte vorgelegt (VAS 156). Für die Kläger zu 2) bis 4) wurden palästinensische Geburtsurkunden vorgelegt. Danach sind die Kläger zu 2) und 3) 2001 bzw. 2003 in Bengasi, Libyen, und der Kläger zu 4) 2008 in Amman, Jordanien, geboren worden. Im Sommer 2014 reisten die Kläger von Italien kommend in das Bundesgebiet ein. Am 31.3.2015 wurden ihre Asylanträge aufgenommen. Bei seiner Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) gab der Kläger zu 1) an, er habe Palästina 1991 erstmals verlassen und sei zunächst für fünf bis sechs Monate nach Jordanien gegangen. Einen jordanischen Reisepass habe er, wie bereits sein Vater, schon länger besessen. Schließlich sei er nach Bengasi, Libyen, gezogen. Im August 2014 habe er Libyen verlassen. Er habe zwischenzeitlich über seine in Palästina lebenden Verwandten einen neuen Personalausweis beantragt. Er selbst könne nach Palästina einreisen, nicht aber seine Frau. Bei ihrer Anhörung durch das Bundesamt gab die Ehefrau des Klägers zu 1) an, ihre Familie habe Palästina im Jahr 1948 verlassen. Sie sei nach der Scheidung ihrer Eltern im Jahr 1986 mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern zu Verwandten der Mutter nach Libyen gezogen. Sie habe einen jordanischen Reisepass und eine jordanische Geburtsurkunde besessen, beides sei verbrannt. Im August 2014 sei die Familie wegen des Krieges über Italien nach Deutschland geflohen. Während sie, als Angehörige einer Familie, die 1948 aus Palästina nach Jordanien geflohen sei, nach Jordanien zurückkehren könne, gelte dies nicht für ihren Ehemann. Jordanien stelle Palästinensern, deren Familien 1967 geflohen seien, nur zeitliche befristete Reisepässe zur Durchreise aus, gewähre ihnen aber kein Aufenthaltsrecht in Jordanien. Umgekehrt könne sie nicht nach Palästina reisen, weil ihre Familie bereits 1948 geflohen sei und Israel ein Rückkehrrecht verneine.

Mit Bescheid vom 08.11.2017, den Klägern zugestellt am 09.11.2017, lehnte das Bundesamt die Anträge Kläger auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und des subsidiären Schutzstatus ab. Am 23.11.2017 haben die Kläger gegen diesen Bescheid Klage erhoben. Sie beantragen zuletzt, die Beklagte zu verpflichten, ihnen den subsidiären Schutz zuzuerkennen. Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]... III. Die Klage ist auch begründet. Die Kläger haben Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus ...

[2]1. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus liegen vor.

[3]a) ... b) Hieran gemessen können die Kläger subsidiären Schutz beanspruchen. Die Kläger sind staatenlos (aa); [...] ...

[4]aa) Die Kläger sind staatenlos im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe b AsylG.

[5]Staatenloser im Sinne dieser Vorschrift ist eine Person, die kein Staat aufgrund seines Rechts als Staatsangehörigen ansieht, sog. De-jure-Staatenloser, und nicht gerade eine Ausbürgerung oder Nichtanerkennung als asylrechtlich relevante Verfolgungsmaßnahme in Rede steht (vgl. BVerwG, Urt. v. 26.02.2009 - 10 C 50.07 -, BVerwGE 133, 203 = juris, Rn. 25).

[6](1) Dabei ist zunächst festzuhalten, dass eine palästinensische Staatsangehörigkeit nicht besteht und es deshalb nicht darauf ankommt, ob die Kläger von der palästinensischen Autonomiebehörde oder von anderen Staaten (etwa von Jordanien, dazu sogleich) als Staatsangehörige eines palästinensischen Staates betrachtet und behandelt werden. Das gilt selbst dann, wenn es hierfür auf die Frage der im Falle von Palästina fehlenden Anerkennung durch die Bundesrepublik Deutschland und der Mehrzahl der anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union, unter ihnen Frankreich, Italien und Spanien, sowie den Vereinigten Staaten und Japan (vgl. hierzu Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages, Zur Staatenlosigkeit von Palästinensern und zur Anerkennung Palästinas und der von seinen Behörden ausgegebenen Reisedokumente, WD 2-3000-057/18, Stand: 07.05.2018, S. 2 f.,11; vgl. auch BT-Drs. 19/2083, S. 23: „Die Palästinensischen Gebiete vermitteln keinen der deutschen Staatsangehörigkeit vergleichbaren ausländischen Status [...].“), die von der Anerkennung der von der palästinensischen Autonomiebehörde ausgestellten Reisepässe als Dokument der Identitätsfeststellung zu Reisezwecken zu unterscheiden ist (vgl. Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages, a.a.O., S. 9), nicht ankommen sollte, und sich die Frage der Staatsangehörigkeit einer Person wie im Bereich des Internationalen Privatrechts in Übereinstimmung mit Art. 1 Abs. 1 des Übereinkommens über die Rechtsstellung der Staatenlosen vom 28.09.1954 (BGBl. II 1977 S. 235) - das für die unter dem Schutz der UNRWA stehenden Flüchtlinge nach Art. 1 Abs. 2 UAbs. 1 freilich keine Anwendung findet (vgl. hierzu BVerwG, Urteil v. 23.02.1993 - 1 C 45.90 -, BVerwGE 92, 116 = juris, Rn. 15) - nach dem Recht des Staates richtet, dessen Staatsangehörigkeit in Frage steht. Dies wird für das Internationale Privatrecht damit begründet, dass im Ausgangspunkt jeder Staat selbst bestimmt, wen er als seinen Staatsangehörigen betrachtet (vgl. nur Lorenz, in: BeckOK BGB, Art. 5 EGBGB Rn. 2).

[7]Ob diese durch den Gedanken des Vertrauensschutzes im Rechtsverkehr begründete Betrachtungsweise (vgl. v. Hein, in: MüKo-BGB, Bd. 12, 8. [Aufl.] 2020, Einleitung IPR Rn. 51), bei der es auf die diplomatische Anerkennung eines Staates durch die Bundesrepublik nicht ankommt, auf den hiesigen Kontext ohne weiteres übertraten werden kann, bedarf keiner Entscheidung. Denn die Bestimmung der Staatsangehörigkeit nach den Rechtsvorschriften eines anderen Staates setzt voraus, dass es ein anderes Gemeinwesen gibt, das die konstitutiven Merkmale eines Staates (Staatsgewalt, Staatsvolk, Staatsgebiet) erfüllt (vgl. G. Schulze, in: Heidel u.a., BGB Allgemeiner Teil, Art. 5 EGBGB Rn. 7). Dies ist bei Palästina nicht der Fall. Vielmehr handelt es sich lediglich um teil-autonome Gebiete (vgl. VG Magdeburg, Beschluss vom 17.10.2018 - 8 B 183/18 -, juris, Rn. 12 m.w.N.), und zwar nicht nur in tatsächlicher, sondern auch in (völker-)rechtlicher Hinsicht: Nach den beiden sogenannten Osloer Abkommen (Israel-Palestine Liberation Organization Agreement vom 13.09.1993 [Oslo I]; Israel-Palestinian Negitiotions. Interim Agreement on the West Bank and the Gaza Strip vom 28.09.1995 [Oslo II]) ist die Herrschaftsgewalt gerade noch nicht vollständig auf die Palästinensische Autonomiebehörde übergegangen (Art. IV Oslo I, Art. XI § 2 Oslo II: „except for issues that will be negotiated in the permanent status negotiations“), vielmehr ist Israel weiterhin für die äußere Sicherheit (einschließlich der Grenzen nach Ägypten und Jordanien) und für die Sicherheit der Israelis und Siedler im Allgemeinen zuständig (Art. VIII Oslo I, Art. XII Oslo II). Die Pflege auswärtiger Beziehungen ist, jedenfalls im Ausgangspunkt, ebenfalls nicht auf die Palästinensische Autonomiebehörde übergegangen (vgl. Art. IX § 5 Oslo II). Zwar ist es ihr erlaubt, Personenstandsregister zu führen und Dokumente auszustellen (Art. IX § 2 a.E. Oslo II), ein Selbstbestimmungsrecht über die Staatsangehörigkeit ist jedenfalls nicht ausdrücklich übertragen worden.

[8](2) Das Gericht ist auf Grundlage der vom Kläger zu 1) und seiner Ehefrau im Verwaltungsverfahren sowie in der mündlichen Verhandlung gemachten Angaben und unter Berücksichtigung der hierzu verfügbaren Erkenntnismittel davon überzeugt, dass die Kläger nicht die jordanische Staatsangerhörigkeit besitzen.

[9](a) Dabei kommt - anders als das Bundesamt offenbar meint - eine Vermittlung der jordanischen Staatsangerhörigkeit durch ihre Ehefrau und Mutter selbst dann nicht in Betracht, wenn diese - entsprechend den Angaben in den Geburtsurkunden der Kläger zu 2) bis 4) (VAS 130 ff.) - die jordanische Staatsangehörigkeit besitzen sollte. Denn nach dem jordanischen Gesetz Nr. 6/1954 über die jordanische Staatsangehörigkeit (vgl. Salama, Länderbericht Jordanien, in: Bergmann u.a., Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht mit Staatsangehörigkeitsrecht, Länderbericht Jordanien, Stand 22.04.2020; zu den Regelungen auch ACCORD, Anfragebeantwortung zu Jordanien: Verweigerung der jordanischen Staatsbürgerschaft für Kinder eines staatenlosen Palästinensers und einer jordanischen Staatsbürgerin vom 05.12.2014) kann diese zwar - mit Zustimmung des Innenministers - nach einer Eheschließung mit einem Jordanier, nicht aber umgekehrt auf Grund einer Heirat mit einer Jordanierin erworben werden (Art. 8). Kinder von jordanischen Väter[n] sind kraft Gesetzes Jordanier (Art. 9); von einer jordanischen Mutter kann die Staatsangehörigkeit nur dann an ihr Kind weitergegeben werden, wenn dieses in Jordanien geboren wurde, was nur auf den Kläger zu 4) zutrifft, und dessen Vater von unbekannter Staatsangehörigkeit oder staatenlos ist oder dessen Abstammung gegenüber seinem Vater nicht gesetzlich festgestellt wurde (Art. 3 Nr. 4). In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass das Gesetz von der Existenz einer palästinensischen Staatsangerhörigkeit ausgeht (vgl. Art. 3 Nr. 2). Deshalb kommt auch im Falle des Klägers zu 4) ein Erwerb der jordanischen Staatsangehörigkeit von seiner Mutter nicht in Betracht.

[10](b) Der Kläger zu 1) hat auch im Übrigen nicht die jordanische Staatsangehörigkeit. Er stammt aus dem Westjordanland. Für die dort ansässigen Palästinenser geht das Gericht mit Blick auf die Jordanische Staatsangehörigkeit von folgendem aus (Donath/Schmidt, Die jordanische Staatsangerhörigkeit von Palästinensern, ZAR 2010, 391 [391 f.] m.w.N.):

[11]Sowohl das Westjordanland (West Bank) als auch das Gebiet östlich des Jordans (East Bank, Transjordanien) waren bis zum Ende des Ersten Weltkrieges Teil des Osmanischen Reiches und wurden nach dessen Niederlage im Ersten Weltkrieg britischem Mandat unterstellt. Bereits 1923 wurde jedoch die Verwaltung der East Bank von der Verwaltung der West Bank abgekoppelt und 1946 entstand aus dem östlich des Jordans gelegenen Transjordanien das heutige Haschemitische Königreich Jordanien. Nach dem Ersten Arabisch-Israelischen Krieg übernahm Jordanien im Zusammenhang mit der Entstehung Israels zunächst die Verwaltung des Westjordanlandes und gliederte dieses im April 1950 in sein Staatsgebiet ein. In dieser Zeit erhielten alle Palästinenser, die im damaligen Königreich Jordanien lebten - das heißt, sowohl im Gebiet östlich als auch westlich des Jordans - die jordanische Staatsangehörigkeit. Aus den Gebieten, die zu Israel gehörten, flüchteten zudem ebenfalls Palästinenser in jordanisches Staatsgebiet. Als Israel nach dem Sechstagekrieg 1967 das Westjordanland besetzte, flüchteten wiederum Tausende Palästinenser, die bereits die jordanische Staatsangehörigkeit besaßen, weiter nach Osten über den Jordan. Trotz israelischer Besetzung erhielt das Königreich Jordanien seinen Souveränitätsanspruch über das Westjordanland zunächst weiterhin aufrecht und verlieh auch entsprechend die jordanische Staatsangehörigkeit an die dort lebenden Palästinenser.

[12]Dies änderte sich erst im Juli 1988, als der jordanische König Hussein die Loslösung des Westjordanlandes von Jordanien verfügte. Als Folge dieser Entscheidung verloren die Palästinenser im Westjordanland auf einen Schlag die jordanische Staatsangehörigkeit. [...]

[13]Das jordanische Staatsangehörigkeitsgesetz von 1949 und 1954 sah gemäß seinem Ergänzungsgesetz Nr. 56 Ziffer 2 vor, dass den Palästinensern im Westjordanland die jordanische Staatsangehörigkeit verliehen wird. Während die palästinensischen Flüchtlinge aus dem Gazastreifen lediglich einen Flüchtlingsstatus in Jordanien erhielten, wurden die Palästinenser aus dem Westjordanland mit allen staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten in das Königreich Jordanien integriert. Daran änderte sich auch nach dem Sechstagekrieg 1967 nichts.

[14]Ein 1983 eingeführtes jordanisches Ausweissystem sah vor, dass Einwohner des Westjordanlandes oder solche, die zwar aus dem Westjordanland stammten, aber es nach 1983 dauerhaft und nicht in das jordanische Staatsgebiet östlich des Jordans verließen, grüne Reisedokumente erhielten und Palästinenser, die im Königreich Jordanien östlich des Jordans lebten, jedoch ursprünglich aus dem Westjordanland stammten, gelbe Reisedokumente erhielten. Neben diesen zur Reise nötigen Dokumenten wurden den Palästinensern zum Nachweis der jordanischen Staatsangehörigkeit Familienbücher erstellt. Dieses System, das ursprünglich dem erleichterten Reisen über den Jordan dienen sollte, kann sich - wie noch näher gezeigt werden wird - heute oft zum Nachteil für viele Palästinenser auswirken, die auf die jordanische Staatsangehörigkeit angewiesen sind. Nach der Entscheidung König Husseins, das Westjordanland vom Königreich Jordanien loszulösen, konkretisierten die darauf folgenden »Disengagement Rules« in Art. 2: »Every person residing in the West Bank before the date of 31/7/1988 will be considered as a Palestinian citizen and not as Jordanian.«

[15]Gemäß Art. 13 dieser Rules wurden alle Familienbücher der palästinensischen Bewohner des Westjordanlandes annulliert und nach Art. 15 durften sich Inhaber grüner Reisedokumente nicht mehr länger als einen Monat im Königreich Jordanien aufhalten.

[16]Diese Darstellung deckt sich mit anderen Erkenntnismitteln. So führt etwa das United States Department of State aus (Jordan 2019 Human Rights Report, S. 37 f.):

[17]Four groups of Palestinians resided in the country [...]. Those who migrated to the country and the Jordan-controlled West Bank after the 1948 Arab-Israeli war received full citizenship, as did those who migrated to the country after the 1967 war and held no residency entitlement in the West Bank [...] Refugees who fled Gaza after 1967 were not entitled to citizenship, and authorities issued them temporary travel documents without national numbers.

[18]Auch der Danish Immigration Service (Country of Report. Palestinien Refugee, Stand: Juni 2020, S. 58) hält fest:

[19]Following the 1988 detachment of the West Bank from Jordan, Palestinian residents in the West Bank were no longer considered Jordanian citizens. Palestinian residents in Jordan retained their citizenship.

[20]Das bedeutet, dass Palästinenser wie der Kläger zu 1), die 1988 im Westjordanland gelebt haben, ihre zuvor innegehabte jordanische Staatsangehörigkeit verloren haben. Dieser Verlust, der nicht als Verfolgungsmaßnahme geltend gemacht wird, führte nicht nur zu einer bloßen De-facto-Staatenlosigkeit, sondern zu einer De-jure-Staatenlosigkeit, weil es insofern maßgeblich darauf ankommt, wie der fragliche Staat sein eigenes Staatsangehörigkeitsrecht versteht. Haben deutsche Gerichte ausländisches Recht anzuwenden, ist dessen Inhalt so zu ermitteln, wie es tatsächlich im Ausland gilt (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.07.2012 - 10 C 2.12 (IPRspr 2012-3) -, BVerwGE 143, 369 = juris, Rn. 14; allgemein Prütting, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Aufl. 2020, §293 ZPO Rn. 17). Das muss für die ähnlich gelagerte Frage, wen ein Staat nach seinem Recht als Staatsangehöriger ansieht, entsprechend geltend. Die obersten jordanischen Gerichte haben entschieden, dass die königliche Entscheidung von 1988 einschließlich der die Abspaltung konkretisierenden Dekrete als unüberprüfbarer Akt des Souveräns ihrer Gerichtsbarkeit entzogen seien (vgl. Donath/Schmidt, ZAR 2010, 391 [394] m.w.N.). Vor diesem Hintergrund ist der Umstand, dass die Vereinbarkeit dieser Maßnahmen, mit denen die im Westjordanland lebenden Palästinenser aus der jordanischen Staatsverbund ausgeschlossen wurden, mit der jordanischen Verfassung und dem Völkerrecht bezweifelt wird (hierzu Donath/Schmidt, ZAR 2010, 391 [393 f.]), irrelevant.

[21]Vor diesem Hintergrund ist auch zwanglos zu erklären, warum der Kläger zu 1), der frühestens 1991 das erste Mal nach Jordanien gezogen ist, angegeben hat, er hätte wie sein Vater über einen jordanischen Pass verfügt.

[22]Auch der Umstand, dass der Kläger zu 1) angegeben hat, zuletzt über ein „vorläufiges jordanisches Dokument“ bzw. einen „Sonderpass für Palästinenser“ verfügt zu haben, spricht nicht notwendig dafür, dass er die jordanische Staatsangerhörigkeit besitze. Er ist vielmehr ohne Weiteres mit den Erkenntnissen über die Praxis der jordanischen Behörden vereinbar.

[23]So führt das United States Department of State (Jordan 2019 Human Rights Report, S. 37) aus:

[24]Those still holding residency in the West Bank after 1967 were no longer eligible to claim full citizenship, but they could obtain temporary travel documents without national identification numbers, provided they did not also carry a Palestinian Authority travel document.

[25]Gleichsinnig die Auskunft von ACCORD (Anfragebeantwortung zu Jordanien: Status eines palästinensischen Vaters in Jordanien [...] vom 15.01.2018):

[26]BADIL veröffentlicht im Jahr 2010 ein Interview eines Mitarbeiters von BADIL mit Anis F. Kassim, einem Experten im Bereich Internationales Recht, der als Rechtsanwalt in Jordanien tätig sei. Laut Kassim gebe es derzeit in Jordanien für Palästinenser fünf verschiedene Aufenthaltstitel mit jeweils unterschiedlichen Ausweisdokumenten. Die ersten zwei Kategorien seien in den 1980er-Jahren entstanden, als man Palästinensern, die gewöhnlich im Westjordanland gelebt hätten, grüne Ausweisdokumente ausgestellt habe. Palästinenser, die in Jordanien gelebt aber familiäre oder materielle Beziehungen zum Westjordanland gehabt hätten, seien mit gelben Ausweisdokumenten ausgestattet worden. Als sich Jordanien 1988 offiziell vom Westjordanland losgesagt habe, seien die grünen und gelben Ausweispapiere ein Kriterium geworden, um die Staatsangehörigkeit von Palästinensern festzulegen. Besitzer einer grünen Karte hätten von nun an als „palästinensische Bürger“ gegolten, während Besitzer von gelben Karten zu jordanischen Staatsbürgern erklärt worden seien. Mehr als eineinhalb Millionen Palästinenser seien durch diese Maßnahme staatenlos geworden. Eine dritte Kategorie seien Palästinenser mit gelben Ausweispapieren, die zwar nach der Lossagung Jordaniens vom Westjordanland ihre jordanische Staatsbürgerschaft behalten hätten, die jedoch seit Kurzem von der Aufhebung ihrer jordanischen Staatsangehörigkeit und der mit ihr verbundenen Rechte betroffen seien. Die vierte Kategorie seien Palästinenser mit blauen Ausweisdokumenten. Hierbei handle es sich um Palästinenser, die 1967 aus Gaza nach Jordanien geflohen seien und nie Staatsbürgerschaftsrechte erlangt hätten. [...]

[27]Laut einer Auskunft der jordanischen Botschaft in Ottawa würden Nicht-Jordaniern Reisedokumente ausgestellt, die allgemein als „zeitlich begrenzte Reisepässe“ bezeichnet würden und die nur für Reisezwecke verwendet würden. Palästinenser aus dem Westjordanland oder aus Gaza, die keinen Reisepass oder eine Staatsangehörigkeit eines anderen Landes besitzen würden, könnten ein solches Reisedokument beantragen. Einem Bericht des in Beirut und Amman ansässigen Think Tanks Al Quds Center for Political Studies zufolge gebe es drei Kategorien von Palästinensern in Jordanien. Zum einen gebe es Jordanier palästinensischer Abstammung, die über einen fünf Jahre gültigen Reisepass und eine nationale Identitätsnummer verfügen würden. Die zweite Kategorie seien Palästinenser aus dem Westjordanland, die ein fünf Jahre gültiges Reisedokument ohne nationale Identifikationsnummer besitzen würden. Der Besitzer eines solchen Reisedokuments gelte nicht als jordanischer Staatsbürger und verfüge zudem über eine grüne Karte für den Grenzübergang ins Westjordanland. Die dritte Kategorie bestehe aus Gaza-Palästinensern, die ein Reisedokument mit einer Gültigkeit von zwei Jahren ausgestellt bekommen würden, das ihnen den Zugang zu den Dienstleistungen für Staatsbürger verwehre.

[28]Damit decken sich die Angaben des Klägers in dem zum Zwecke der Sprachanalyse mit dem Dolmetscher geführten Gespräch, wonach er einen auf fünf Jahre gültigen „provisorischen jordanischen Passes“ gehabt habe (VAS 168).

[29](cc) Hat der Kläger zu 1) nach alledem die jordanische Staatsangehörigkeit im Jahr 1988 verloren, konnte er sie auch den Klägern zu 2) bis 4) nicht nach Art. 9 des jordanischen Gesetzes Nr. 6/1954 über die jordanische Staatsangehörigkeit vermitteln.

[30]bb) ...

Fundstellen

LS und Gründe

StAZ, 2021, 375

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