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Verfahrensgang

LG Potsdam, Urt. vom 12.12.2019 – 4 O 74/19
OLG Brandenburg, Urt. vom 14.10.2020 – 4 U 229/19, IPRspr 2020-200

Rechtsgebiete

Insolvenz- und Anfechtungsrecht
Allgemeine Lehren → Ordre public

Leitsatz

Ein Verstoß gegen den anerkennungsrechtlichen ordre public des Art. 26 EuInsVO a.F. liegt nicht vor, wenn die von einem mitgliedsstaatlichen Insolvenzverfahren betroffene Person im Staat der Verfahrenseröffnung (hier: England) zureichenden Rechtsschutz suchen kann. Dies hat zur Folge, dass ein Gläubiger auch im Falle einer durch Täuschung erschlichenen Zuständigkeitsentscheidung Rechtsschutz im Staat der Verfahrenseröffnung suchen kann und muss, wenn dessen Recht entsprechende Rechtsschutzmöglichkeiten vorsieht.

Der Umstand, dass ein Insolvenzgläubiger keine verfahrensrechtliche Möglichkeit hatte, sich in dem ausländischen Insolvenzverfahren Gehör zu verschaffen, begründet für sich genommen keinen Verstoß gegen den anerkennungsrechtlichen ordre public nach Art. 26 EuInsVO a.F.

In Fällen des Erschleichens einer Restschuldbefreiung durch Täuschung über die internationale Zuständigkeit des Insolvenzgerichts in einem anderen Mitgliedsstaat der EU ist auch die Geltendmachung eines Anspruchs aus § 826 BGB davon abhängig, dass der Gläubiger von den Rechtsschutzmöglichkeiten des Insolvenzforumsstaats Gebrauch macht. Würden die Entscheidungen gleichwohl im Rahmen eines sachrechtlichen Anspruchs am Maßstab des Rechts des anerkennenden Mitgliedsstaats überprüft und ggf. in ihren Wirkungen korrigiert, bliebe der europarechtliche Grundsatz gegenseitigen Vertrauens in die wechselseitige Anerkennung von Entscheidungen in Insolvenzverfahren eine formale Hülle. [LS der Redaktion]

Rechtsnormen

BGB § 170; BGB § 242; BGB § 254; BGB § 812; BGB § 826
EuGVVO 1215/2012 Art. 8
EuInsVO 1346/2000 Art. 3; EuInsVO 1346/2000 Art. 16; EuInsVO 1346/2000 Art. 25; EuInsVO 1346/2000 Art. 26
InsO § 300; InsO § 301; InsO § 305; InsO § 305 ff.
InsolvA 1986 (UK) s. 282
ZPO § 148; ZPO § 183; ZPO § 184; ZPO § 189; ZPO § 519; ZPO § 520; ZPO § 529

Sachverhalt

Die Klägerin nimmt den Beklagten zu 1. und die Beklagte zu 2. auf Zahlung von Geldbeträgen in Anspruch, die diese jeweils im Wege der Zwangsvollstreckung aus einem zwischen den Parteien geschlossenen gerichtlichen Vergleich sowie aus einem Kostenfestsetzungsbeschluss erlangt haben. Darüber hinaus verlangt die Klägerin von beiden Parteien die Freigabe eines weiteren durch die Drittschuldnerin des von den Beklagten erwirkten Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses beim AG Köln hinterlegten Betrages. Bei der Klägerin handelt es sich um eine ehemalige Mandantin des Beklagten zu 1., der gleichzeitig Direktor der in Z... geschäftsansässigen Beklagten zu 2. ist. Die Parteien führten in den Jahren 2009/2010 vor dem LG Berlin einen Rechtsstreit, in dem der Beklagte zu 1. die Klägerin auf Zahlung von Anwaltshonorar in Anspruch nahm und die Beklagte zu 2. Vergütung für in Z... erbrachte Geschäftsbesorgungsleistungen geltend machte. Mit Beschluss vom 9.3.2010 stellte das LG Berlin gemäß § 278 VI ZPO fest, dass die Parteien einen Vergleich geschlossen haben, wonach die hiesige Klägerin an den hiesigen Beklagten zu 1. und an die hiesige Beklagte zu 2. zu zahlen hatte. Mit dem am 14.5.2010 erlassenen Kostenfestsetzungsbeschluss wurden Erstattungsansprüche der hiesigen Beklagten gegen die hiesige Klägerin tituliert. Am 16.7.2013 wurde durch den High Court of Justice in London über das Vermögen der Klägerin ein Insolvenzverfahren (bankruptcy) eröffnet. In diesem Verfahren wurde ihr am 16.7.2014 Restschuldbefreiung (discharge from bankruptcy) erteilt. Am 17.2.2018 erließ das AG Köln aufgrund der zugunsten der Beklagten in dem Verfahren des LG Berlin titulierten Ansprüche einen Pfändungs- und Überweisungsbeschluss betreffend Honorarforderungen der Klägerin gegen die … Germany GmbH (im Folgenden: Drittschuldnerin).

Am 30.4.2018 ging beim LG Berlin eine Vollstreckungsgegenklage der Klägerin ein, mit der diese gleichzeitig die einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung beantragte. Das LG Berlin gewährte den Beklagten durch formlose Übersendung des Schriftsatzes an die in der Klageschrift als Prozessbevollmächtigte für beide Parteien angegebene Rechtsanwaltskanzlei, der u.a. auch der Beklagte zu 1. angehört, zunächst rechtliches Gehör, stellte jedoch bereits mit Beschluss vom 8.5.2018 befristet bis zum 30.5.2018 die Zwangsvollstreckung einstweilen ein. Die Zustellung der Klage erfolgte am 6.7.2018 an die Kanzlei des Beklagten zu 1. Mit Beschluss vom 18.12.2018 hat das Landgericht Berlin das Verfahren in Ansehung der streitgegenständlichen Zahlungsanträge abgetrennt und das Verfahren mit weiterem Beschluss vom 21.02.2019 an das LG Potsdam verwiesen. Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Gegen dieses Urteil wenden sich die Beklagten mit ihrer Berufung, mit der sie die vollständige Klageabweisung erreichen wollen. Die Beklagten beantragen, das Urteil des LG Potsdam aufzuheben und die Sache an das LG zurückzuverweisen. Die Klägerin beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]II.

[2]Die Berufung ist zulässig; sie ist insbesondere innerhalb der Fristen der §§ 519, 520 ZPO eingelegt und begründet worden. In der Sache hat sie jedoch lediglich wegen eines geringfügigen Teils der geltend gemachten Zinsansprüche Erfolg.

[3]A. ... B. Die Klage ist zulässig.

[4]1. ... 3. Das Landgericht hat seine internationale Zuständigkeit für die Klage gegen die Beklagte zu 2. zu Recht gemäß Art. 8 Nr. 1 EuGVVO daraus hergeleitet, dass der Beklagte zu 1. seinen Wohnsitz im Bezirk des Landgerichts Potsdam hat. Nach dieser Vorschrift kann eine Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaats hat, „auch verklagt werden, wenn mehrere Personen zusammenverklagt werden, vor dem Gericht des Ortes, an dem einer der Beklagten seinen Wohnsitz hat, sofern zwischen den Klagen eine so enge Beziehung gegeben ist, dass eine gemeinsame Verhandlung und Entscheidung geboten erscheint, um zu vermeiden, dass in getrennten Verfahren widersprechende Entscheidungen ergehen.“ Auch wenn man berücksichtigt, dass diese Regelung eng auszulegen ist und nicht etwa eine allgemeine Zuständigkeit kraft Sachzusammenhangs begründet (Zöller-Geimer, ZPO, 33. Aufl., Art. 8 EuGVVO Rn. 1), sind die Voraussetzungen hier zu bejahen. Grundlage des von der Klägerin gegenüber beiden Beklagten geltend gemachten bereicherungsrechtlichen Anspruchs ist die von beiden Beklagten gemeinsam betriebene Zwangsvollstreckung im Wege des zugunsten beider Beklagter ergangenen Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses wegen Forderungen aus dem gemeinsam erwirkten gerichtlichen Vergleich vom 09.03.2010 und dem zugunsten beider Beklagter ergangenen Kostenfestsetzungsbeschluss vom 14.05.2010, gegen die sich die Klägerin u.a. gegenüber beiden Beklagten mit derselben Einwendung der Unzulässigkeit der Zwangsvollstreckung infolge der ihr erteilten Restschuldbefreiung wendet. Dies reicht für die Annahme eines einheitlichen Lebenssachverhalts im Sinne des Art. 8 Nr. 1 EuGVVO aus, auch wenn man berücksichtigt, dass in dem Vergleich vom 09.03.2010 für beide Beklagten unterschiedliche Ansprüche in unterschiedlicher Höhe tituliert sind und die Klägerin sich im Verhältnis zur Beklagten zu 2. nicht nur auf die Einwendung der Restschuldbefreiung, sondern auch auf die Einwendung der Erfüllung stützt. Jedenfalls in Bezug auf alle anderen Fragen ist eine gemeinsame Verhandlung und Entscheidung geboten, um widersprechende Entscheidungen zu vermeiden.

[5]4. Entgegen der Auffassung der Beklagten fehlt es auch nicht an einer wirksamen Zustellung der Klage gegen die Beklagte zu 2.

[6]Die Frage, ob die Zustellung der Klage an einen Beklagten wirksam und die Klage rechtshängig geworden ist, beurteilt sich nach dem anzuwendenden deutschen Zivilprozessrecht. Das deutsche Recht bestimmt autonom, unter welchen Voraussetzungen eine Auslandszuständigkeit notwendig ist oder ob eine Inlandszustellung genügt (BGH, Urteil vom 07.12.2010 - VI ZR 48/10 (IPRspr 2010-245b) Rn. 8; Zöller-Geimer, § 183 Rn. 14).

[7]Danach hätte zwar gemäß §§ 183, 184 ZPO eine Zustellung an die Beklagte zu 2. im Wege der Auslandszustellung - hier in Bezug auf das „Wie“ der Zustellung nach den Regeln der EuGZVO - bewirkt werden müssen, solange nicht die Beklagte zu 2. im Inland einen Zustellungsbevollmächtigten benannt hatte. Es mag auch zweifelhaft sein, ob eine Zustellung an die im Ausland ansässige Beklagte zu 2. gemäß § 170 BGB ohne weiteres an den Beklagten zu 1. in dessen Funktion als Direktor der Beklagten zu 2. hätte erfolgen können. Diese Fragen können jedoch letztlich dahinstehen, weil ein etwaiger Mangel der mit der Verfügung des Landgerichts Berlin vom 03.07.2018 bewirkten Zustellung der Klageschrift sowie des (diese um die streitgegenständlichen Zahlungsansprüche erweiternden) Schriftsatzes vom 21.06.2018 jedenfalls gemäß § 189 ZPO geheilt worden ist ...

[8]C. Die Klage ist auch begründet.

[9]I. ... II. zu Recht hat das Landgericht den, in diesem Verhältnis in Höhe von ... € erhobenen, Anspruch aus § 812 Abs. 1 S. 1, 2. Alt BGB auch gegenüber dem Beklagten zu 1. als begründet erachtet.

[10]1. Bis zur Beendigung der Zwangsvollstreckung durch Befriedigung infolge der Zahlung der Drittschuldnerin am 08.05.2018 wäre eine Vollstreckungsgegenklage der Klägerin begründet gewesen, weil ihr gegen die mit dem gerichtlichen Vergleich vom 09.03.2010 und dem Kostenfestsetzungsbeschluss vom 14.05.2010 titulierten Ansprüche des Beklagten zu 1. die materiell-rechtliche Einwendung der fehlenden Durchsetzbarkeit der Ansprüche infolge der der Klägerin in dem englischen Insolvenzverfahren am 16.07.2014 erteilten Restschuldbefreiung zustand.

[11]a) Die Durchführung des Insolvenzverfahrens in England und die Erteilung der Restschuldbefreiung (discharge from bancruptcy) durch den High Court of Justice in London am 16.07.2014 hat das Landgericht aufgrund der im Termin vom 07.11.2019 vorgelegten Urkunden, deren Existenz und Authentizität die Beklagten nachfolgend auch nicht mehr bestritten haben, mit gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO für den Senat bindender Wirkung festgestellt.

[12]b) Diese Entscheidung des englischen Insolvenzgerichts ist nach den Regelungen der EuInsVO in der hier maßgeblichen bis zum 25.06.2017 geltenden Fassung anzuerkennen.

[13]aa) Nach Art. 16 Abs. 1 EuInsVO a.F. wird die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens durch ein nach Art. 3 zuständiges Gericht eines Mitgliedsstaats in allen übrigen Mitgliedsstaaten anerkannt, sobald die Entscheidung im Staat der Verfahrenseröffnung wirksam ist. Ebenso werden nach Art. 25 Abs. 1 EuInsVO a.F. die zur Durchführung und Beendigung eines Insolvenzverfahrens ergangenen Entscheidungen eines Gerichts, dessen Eröffnungsentscheidung nach Art. 16 anerkannt wird, ebenfalls ohne weitere Förmlichkeiten anerkannt. Gemäß Art. 26 EuInsVO a.F. (ordre public) kann sich ein Mitgliedsstaat lediglich insoweit weigern, ein in einem anderen Mitgliedsstaat eröffnetes Insolvenzverfahren anzuerkennen oder eine in einem solchen Verfahren ergangene Entscheidung zu vollstrecken, wie diese Anerkennung oder diese Vollstreckung zu einem Ergebnis führt, das offensichtlich mit seiner öffentlichen Ordnung, insbesondere mit den Grundprinzipien oder den verfassungsmäßig garantierten Rechten und Freiheiten des einzelnen, unvereinbar ist.

[14]Auf der Grundlage dieser Regelungen ist - dies insbesondere in Bezug auf die Erteilung der Restschuldbefreiung in einem in England durchgeführten Insolvenzverfahren, die bereits nach einer Wohlverhaltensphase von nur einem Jahr erteilt wird - in Deutschland in Rechtsprechung und Literatur diskutiert worden, ob Gerichte bei der Anerkennung von Entscheidungen in Insolvenzverfahren in einem anderen Mitgliedsstaat der EU prüfen dürfen, ob das über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens entscheidende Gericht tatsächlich das zuständige Gericht im Sinne des Art. 16 i.V.m. Art. 3 EuInsVO a.F. war oder ob jedenfalls bei missbräuchlicher Erschleichung der Zuständigkeit eines Gerichts (forum shopping) eine Anerkennung gemäß Art. 26 EuInsVO a.F. zu versagen ist. Diese Fragen sind jedoch - wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat - durch die Entscheidung des BGH vom 10.09.2015 - IX ZR 304/13 (IPRspr 2015-292) - geklärt. Danach verbietet der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, die Formulierung in Art. 16 Abs. 1 EuInsVO a.F. dahingehend zu verstehen, dass im Anerkennungsstaat zu prüfen ist, ob das Gericht für die Verfahrenseröffnung zuständig war; das gilt gleichermaßen für die Anerkennung der zur Durchführung und Beendigung eines Insolvenzverfahrens ergangenen Entscheidungen im Sinne des Art. 25 EuInsVO a.F. (BGH a.a.O. Rn. 8). Auch ein Verstoß gegen die öffentliche Ordnung gemäß Art. 26 EuInsVO a.F. kann nicht allein mit der Begründung angenommen werden, das Gericht des Anerkennungsstaates habe sich nicht davon überzeugen können, ob das Insolvenzgericht seine internationale Zuständigkeit überhaupt ordnungsgemäß geprüft hat; jedenfalls bis zur Grenze der Willkür begründen Fehler bei der Annahme der internationalen Zuständigkeit keinen Verstoß gegen die deutsche öffentliche Ordnung (BGH a.a.O. Rn. 13). Da die zulässigen Gründe für die Nichtanerkennung der in einem Mitgliedsstaat getroffenen Entscheidungen über die Eröffnung, Durchführung und Beendigung eines Insolvenzverfahrens auf das unbedingt notwendige Maß beschränkt sein sollen, ist Art. 26 EuInsVO a.F. vielmehr dahin zu verstehen, dass dessen Anwendung nicht unbedingt notwendig ist, wenn die von einem mitgliedsstaatlichen Insolvenzverfahren betroffene Person im Staat der Verfahrenseröffnung zureichenden Rechtsschutz suchen kann. Dies hat zur Folge, dass ein Gläubiger auch im Falle einer durch Täuschung erschlichenen Zuständigkeitsentscheidung Rechtsschutz im Staat der Verfahrenseröffnung suchen kann und muss, wenn das Recht des Eröffnungsstaates eine entsprechende Rechtsschutzmöglichkeit vorsieht (BGH a.a.O. Rn. 21).

[15]Entsprechendes gilt für einen Verstoß gegen das Recht eines Insolvenzgläubigers auf rechtliches Gehör. Zwar ist Art. 26 EuInsVO a.F. bei einem offensichtlichen Verstoß gegen das - auch in dem allgemeinen unionsrechtlichen Rechtsgrundsatz, dass jedermann Anspruch auf ein faires Verfahren hat - verankerte Recht auf rechtliches Gehör anwendbar. Auch insoweit ist jedoch zum einen zu prüfen, ob das Recht der Beklagten auf rechtliches Gehör nach englischem Recht tatsächlich verletzt worden ist, wobei ggf. auch nachträgliche Rechtsschutzmöglichkeiten einzubeziehen sind (BGH a.a.O. Rn. 25). Zum anderen reicht selbst der Umstand, dass der Gläubiger keine verfahrensrechtliche Möglichkeit hatte, sich in dem ausländischen Verfahren Gehör zu verschaffen, allein nicht aus, um der ausländischen Entscheidung Anerkennung zu versagen. Vielmehr muss gemäß Art. 26 EuInsVO die Anerkennung oder Vollstreckung der Entscheidung in dem Mitgliedsstaat zu einem Ergebnis führen, das offensichtlich mit der inländischen Rechtsordnung unvereinbar ist.

[16]bb) Nach diesen Grundsätzen ist das Landgericht zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, dass die Behauptungen der Beklagten, die Klägerin habe den Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen („center of main interest“) tatsächlich zu keinem Zeitpunkt und damit auch nicht zum Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens am 16.07.2013 in London gehabt und die Beklagten überdies entgegen ihren Verpflichtungen in dem englischen Insolvenzverfahren nicht in dem von ihr zu erstellenden Gläubigerverzeichnis (list of creditiors) als Gläubiger angegeben, nicht ausreichen, um der der Klägerin am 16.07.2014 erteilten Restschuldbefreiung gemäß Art. 26 EuInsVO a.F. die Anerkennung zu versagen, weil sie wegen dieser Einwendungen Rechtsschutz vor den englischen Gerichten erlangen können.

[17]Denn nach dem Section 282 (1) (a) Insolvency Act 1986, kann der Eröffnungsbeschluss annulliert werden, „wenn dieser aus Gründen, die bei dessen Erlass schon vorlagen, nicht hätte ergehen dürfen“. Die danach mögliche Annullierung der Entscheidung über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens hätte gleichzeitig zur Folge, dass damit auch die Restschuldbefreiung entfällt. Der Insolvency Act enthält auch keine Beschränkung des zur Beantragung der Annullierung berechtigten Personenkreises und eine solche Entscheidung kommt auch noch nach Erteilung der Restschuldbefreiung in Betracht (BGH, Urteil vom 10.09.2015 - IX ZR 304/13 (IPRspr 2015-292) - Rn. 26; ergänzend Goslar NZI 2012, 912). Die nachträgliche Annullierung eines vor einem High Court of Justice in England durchgeführten Insolvenzverfahrens im Falle des Bekanntwerdens eines Erschleichens der internationalen Zuständigkeit des englischen Gerichts entspricht auch nicht lediglich der normativen Rechtslage, sondern ebenso der entsprechenden Rechtsanwendung in der Praxis, wie die Entscheidung des High Court of Justice in Birmingham vom 29.08.2012 - 2012 EWHC 2432 (CH) - belegt (vgl. dazu nur Goslar a.a.O mit ausführlicher Darstellung des Inhalts dieser Entscheidung). Besteht danach für den Beklagten zu 1. nach dem englischen Recht die Möglichkeit, die Annullierung der Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu beantragen, folgt daraus gleichzeitig, dass er sich im Eröffnungsstaat des über das Vermögen der Klägerin durchgeführten Insolvenzverfahrens, d.h. in England, auch nachträglich wegen seiner Behauptung, die Klägerin habe sich die internationale Zuständigkeit des englischen Insolvenzgerichts durch Täuschung über den Mittelpunkt ihres Interesses erschlichen, Gehör verschaffen kann.

[18]Für den möglichen weiteren Gehörsverstoß infolge der beklagtenseits behaupteten von der Klägerin unterlassenen Eintragung als Gläubiger in der list of creditors gilt nichts anderes. Denn selbst wenn - was zwischen den Parteien streitig ist - der Beklagte zu 1. im Falle einer pflichtgemäßen Angabe als Gläubiger der Klägerin bei ordnungsgemäßer Durchführung des englischen Insolvenzverfahrens durch den Insolvenzverwalter angeschrieben worden und ihm damit rechtliches Gehör gewährt worden wäre, wäre der Restschuldbefreiung aufgrund dieses Gehörsverstoßes nur dann gemäß Art. 26 EuInsVO a.F. die Anerkennung zu versagen, wenn darüber hinaus feststünde, dass sich die Klägerin tatsächlich die Zuständigkeit des englischen Insolvenzgerichts erschlichen hat, indem sie die von ihr angegebene Anschrift als Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen lediglich vorgetäuscht hat (BGH, Urteil vom 10.09.2015 - XI ZR 304/13 (IPRspr 2015-292) - Rn. 27). Isoliert betrachtet kann eine auf einer Pflichtverletzung des Insolvenzschuldners beruhende Verletzung des Rechts eines Gläubigers auf Wahrnehmung seiner Interessen in einem Insolvenzverfahren nämlich bereits deshalb keinen Verstoß gegen den deutschen ordre public begründen, weil auch im deutschen Recht nach den Regelungen zum Verbraucherinsolvenzverfahren gemäß § 305 ff. InsO ein entsprechender Gehörsverstoß der wirksamen Erteilung einer Restschuldbefreiung nicht entgegen steht. Gibt nämlich der Schuldner in dem gemäß § 305 Abs. 1 Nr. 3 InsO mit dem Eröffnungsantrag vorzulegenden Gläubigerverzeichnis nicht sämtliche Gläubiger an, kann dies ebenfalls zur Folge haben, dass dem Schuldner schließlich gemäß § 300 InsO Restschuldbefreiung erteilt wird, ohne dass die nicht angegebenen Gläubiger in dem Verfahren beteiligt worden wären. Auch diese Restschuldbefreiung wirkt gemäß § 301 InsO - ebenso wie nach englischem Recht - gegen alle Insolvenzgläubiger, unabhängig davon, ob sie ihre Forderungen angemeldet haben (und deshalb im Insolvenzverfahren Gehör erhalten haben) oder nicht.

[19]Kommt es danach aber für die Versagung der Anerkennung der Restschuldbefreiung gemäß Art. 26 EuInsVO a.F. auch unter dem Gesichtspunkt einer Verletzung des Rechts des Beklagten zu 1. als Insolvenzgläubiger auf rechtliches Gehör entscheidend darauf an, ob die Klägerin sich die internationale Zuständigkeit des englischen Insolvenzgerichts erschlichen hat, so gilt auch insoweit, dass der Beklagte zu 1. mit seinem Einwand Rechtsschutz in England hätte suchen müssen und - bis zu einer abweichenden Entscheidung der dortigen Gerichte - die durch den High Court of Justice in London getroffene Entscheidung vom 16.07.2014 über die Restschuldbefreiung für die Klägerin anzuerkennen war und ist.

[20]2. Entgegen der Auffassung der Beklagten ist es der Klägerin auch nicht deshalb gemäß § 242 BGB nach dem Grundsatz „dolo petit, quo petit, quod statim redditurus est“ verwehrt, ihren Anspruch auf Rückzahlung der infolge der Vollstreckung des Beklagten zu 1. aus dem Vergleich vom 09.03.2010 und dem Kostenfestsetzungsbeschluss vom 14.05.2010 erlangten Beträge auf die Einwendung der Restschuldbefreiung zu stützen, weil sie dem Beklagten zu 1. die von diesem aufgrund des Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses erlangten Beträge wegen eines ihm seinerseits zustehenden Schadensersatzanspruchs aus § 826 BGB alsbald zurückgewähren müsste.

[21]Allerdings trifft es zu, dass grundsätzlich in Fällen des Erschleichens einer Restschuldbefreiung durch Täuschung oder bewusstes Verschweigen einer Gläubigerforderung die Annahme einer unerlaubten Handlung im Sinne des § 826 BGB und ein darauf gestützter Schadenersatzanspruch in Betracht kommt (BGH, Urteil vom 06.11.2008 - IX ZB 34/08 - Rn. 11).

[22]Es mögen auch durchaus gewichtige Gründe dafür sprechen, dass der Vortrag der Beklagten für die Annahme einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung des Beklagten zu 1. im Sinne des § 826 BGB zumindest nahelegt. Immerhin geht dieser Vortrag dahin, dass die Klägerin in dem im Jahr 2013 vor dem High Court of Justice in London geführten Insolvenzverfahren sowohl zu ihrem Wohnsitz in London, wo sie nach der Behauptung der Beklagten niemals gelebt haben soll, als auch in Bezug auf ihre Gläubiger - insoweit habe sie nur diejenige Freundin als Gläubigerin angegeben, die das Insolvenzverfahren beantragt hatte - falsche Angaben gemacht habe. Träfe dieser Vortrag zu, wäre in diesem Verhalten der Klägerin eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung (auch) des Beklagten zu 1. zu sehen, dem - unstreitig - sowohl aus dem gerichtlichen Vergleich vom 09.03.2010 als auch aus dem Kostenfestsetzungsbeschluss vom 14.05.2010 im Jahr 2013 offene Forderungen gegen die Klägerin zustanden. Denn ein derartiges, in der Täuschung des Insolvenzgerichts über einen Wohnsitz der Klägerin in London bei gleichzeitigem Verschweigen von Gläubigerforderungen (mit Ausnahme derjenigen der antragstellenden Freundin) bestehendes Verhalten der Klägerin wäre sowohl objektiv als auch subjektiv (auch) im Verhältnis zum Beklagten zu 1. als verwerflich zu erachten. Es ließe sich nämlich nur damit erklären, dass die Klägerin die Möglichkeit der Durchführung eines Insolvenzverfahrens in England dazu nutzen wollte, um innerhalb eines Zeitraums von nur einem Jahr in den Genuss der Restschuldbefreiung zu gelangen und so ihrer Gläubiger ledig zu werden, ohne dass diese darauf würden Einfluss nehmen können. Ob der Vortrag der Beklagten in allen Einzelheiten hinsichtlich sämtlicher Anspruchsvoraussetzungen des § 826 BGB ausreicht, um in eine Beweisaufnahme - etwa im Wege der vom Beklagten beantragten Parteivernehmung der Klägerin - einzutreten, oder ob die Klägerin eine sekundäre Darlegungslast trifft mit der Folge, dass deren bisheriges Bestreiten unzureichend wäre, bedarf jedoch keiner abschließenden Entscheidung.

[23]Selbst wenn man den Vortrag der Beklagten als wahr unterstellt und die Anspruchsvoraussetzungen des § 826 BGB bejaht, hat das Landgericht den Anspruch im Ergebnis zu Recht als unbegründet erachtet. Dem Beklagten zu 1. fällt nämlich ein seinen Einwand aus § 242 BGB wegen eines Anspruchs aus § 826 BGB in vollem Umfang ausschließendes Mitverschulden im Sinne des § 254 BGB zur Last, weil er die ihm zur Verfügung stehende Rechtsschutzmöglichkeit des englischen Insolvenzrechts zur Annullierung des Insolvenzverfahrens nach dem Insolvency Act 1986, Section 282 (1) (a) nicht wahrgenommen hat. Hätte der Beklagte zu 1. diesen Weg beschritten und träfe seine Behauptung zu, die Klägerin habe den High Court of Justice in London über das Bestehen eines Mittelpunktes ihrer hauptsächlichen Interessen (center of main interest) in London als Voraussetzung für dessen internationale Zuständigkeit getäuscht, hätte er - wie bereits ausgeführt - die Annullierung des über das Vermögen der Klägerin durchgeführten Insolvenzverfahrens erreichen können. Mit einer Annullierung des Insolvenzverfahrens wäre aber auch die der Klägerin erteilte Restschuldbefreiung entfallen mit der Folge, dass dem Beklagten zu 1. ein Schaden, der darin besteht, dass die Klägerin der Vollstreckung des Beklagten zu 1. in ihre Forderungen gegen die Drittschuldnerin mit diesem Einwand entgegentreten konnte und nach erfolgter Zahlung der Drittschuldnerin das dadurch Erlangte vom Beklagten heraus verlangen kann, gar nicht entstanden wäre. Dem steht auch nicht entgegen, dass der Beklagte zu 1. erst im vorliegenden Verfahren aus dem Schriftsatz der Klägerin vom 26.04.2018 von der der Klägerin am 16.07.2014 in dem in England geführten Insolvenzverfahren erteilten Restschuldbefreiung erfahren haben mag; dass die Möglichkeit bestand, diesem Einwand durch die Wahrnehmung von nach englischem Recht bestehenden Rechtsschutzmöglichkeiten zu begegnen, musste der Beklagte zu 1. als Rechtsanwalt jedenfalls der Entscheidung des BGH vom 10.09.2015 - IX ZR 304/13 (IPRspr 2015-292) - entnehmen, auf die die Klägerin mit ihrem Schriftsatz vom 26.04.2018 ausdrücklich hingewiesen hat. Selbst wenn der Beklagte ein Annullierungsverfahren in England erst nach Erhalt dieses Schriftsatzes oder Zustellung der Vollstreckungsgegenklage der Klägerin am 06.07.2018 hätte in Gang setzen können, hätte er im vorliegenden Verfahren die Aussetzung wegen Vorgreiflichkeit gemäß § 148 ZPO beantragen können.

[24]Dass danach in Fällen des Erschleichens einer Restschuldbefreiung durch Täuschung über die internationale Zuständigkeit des Insolvenzgerichts in einem anderen Mitgliedsstaat der EU nicht nur die Versagung der Anerkennung gemäß Art. 26 EuInsVO a.F., sondern auch die Geltendmachung eines Anspruchs aus § 826 BGB davon abhängig ist, dass der Gläubiger von den Rechtsschutzmöglichkeiten Gebrauch macht, die ihm in dem Staat zur Verfügung stehen, in dem das Insolvenzverfahren geführt wurde, erscheint auch folgerichtig. Anderenfalls bliebe der europarechtlich gebotene Grundsatz gegenseitigen Vertrauens in die wechselseitige Anerkennung von Entscheidungen in Insolvenzverfahren eine formale Hülle, würden die Entscheidungen doch materiell gleichwohl durch die deutschen Gerichte im Rahmen eines Anspruchs aus § 826 BGB nach dem Maßstab deutschen Rechts überprüft und ggf. in ihren Wirkungen korrigiert.

[25]Darauf, in welcher Höhe dem Beklagten zu 1. aus § 826 BGB ein erstattungsfähiger Schadensersatzanspruch zustehen könnte, kommt es danach nicht mehr an.

[26]3. ...



Fundstellen

LS und Gründe

BeckRS, 2020, 35910

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https://iprspr.mpipriv.de/2020-200

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