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Verfahrensgang

BGH, Urt. vom 10.09.2015 – IX ZR 304/13, IPRspr 2015-292

Rechtsgebiete

Insolvenz- und Anfechtungsrecht

Leitsatz

Eine Anwendung des Ordre-public-Vorbehalts gemäß Art. 26 EuInsVO kommt nur und ausnahmsweise in Betracht, wenn das Ergebnis der Anerkennung oder Vollstreckung der in einem anderen Mitgliedstaat erlassenen Entscheidung gegen einen wesentlichen Rechtsgrundsatz verstieße und deshalb in einem nicht hinnehmbaren Gegensatz zur Rechtsordnung des Anerkennungs- oder Vollstreckungsmitgliedstaats stünde.

Ein Verstoß gegen die öffentliche Ordnung gemäß Art. 26 EuInsVO folgt nicht daraus, dass das Berufungsgericht sich nicht von einer ordnungsgemäßen Prüfung durch einen (hier: englischen) Richter des anderen Staats hat überzeugen können. [LS der Redaktion]

Rechtsnormen

EuInsVO 1346/2000 Art. 3; EuInsVO 1346/2000 Art. 16; EuInsVO 1346/2000 Art. 25; EuInsVO 1346/2000 Art. 26
InsolvA 1986 (UK) s. 278; InsolvA 1986 (UK) s. 281; InsolvA 1986 (UK) s. 282
ZPO § 293

Sachverhalt

Die Parteien streiten um die Wirkungen eines britischen Insolvenzverfahrens im Inland. Anlass ist die Inanspruchnahme des Bekl. durch die Kl. aus einer Bürgschaft. Der Bekl. war alleiniger Aktionär und Vorstand der H. AG (fortan: Gesellschaft) und hatte sich für Darlehensforderungen der Kl. gegen die Gesellschaft selbstschuldnerisch verbürgt. Nachdem die Gesellschaft in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten war, kündigte die Kl. ein Darlehen in Höhe von 1.41 Mio. € fristlos und nahm den Bekl. aus der Bürgschaft in Anspruch. Es kam zu vorgerichtlicher Korrespondenz, die der Bekl. zunächst aus dem Iran und später aus dem Vereinigten Königreich führte. Auf Antrag des Bekl. wurde dort 2011 ein Insolvenzverfahren über dessen Vermögen eröffnet. Nachdem die Darlehensschuld durch Verwertung anderer Sicherheiten teilweise zurückgeführt werden konnte, hat die Kl. den Bekl. vor dem LG Köln aus der Bürgschaft auf Zahlung von 165 696,44 € nebst Zinsen in Anspruch genommen. Der Bekl. hat sich der Inanspruchnahme mit dem Hinweis auf das britische Insolvenzverfahren widersetzt. Das LG hat den Bekl. antragsgemäß verurteilt. Die Berufung des Bekl. hat das OLG zurückgewiesen. Mit seiner vom Senat zugelassenen Revision begehrt der Bekl. weiterhin die Abweisung der Klage.

Aus den Entscheidungsgründen:

[5] I. Das Berufungsgericht hat einen Verstoß gegen die öffentliche Ordnung gemäß Art. 26 EuInsVO angenommen, weshalb der Einwand des Bekl., im Vereinigten Königreich sei ein Insolvenzverfahren nach englischem Recht über sein Vermögen anhängig, nicht durchgreife. Der Bekl. habe den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen einzig in das Vereinigte Königreich verlegt, um sich rechtsmissbräuchlich den berechtigten Forderungen seiner Gläubiger zu entziehen. Zwar müsse im Grundsatz anerkannt werden, dass sich ein ausländisches Insolvenzgericht für örtlich zuständig erkläre. Dass insoweit eine ordnungsgemäße Prüfung stattgefunden habe, ergebe sich aus den vom Bekl. vorgelegten Dokumenten jedoch nicht, ergänzenden Vortrag habe er nicht gehalten.

II. [6] Dies hält rechtlicher Prüfung nicht stand. Aufgrund der bisher vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen kann ein Verstoß gegen die öffentliche Ordnung im Sinne des Art. 26 EuInsVO nicht angenommen werden.

[7] 1. Nach Art. 16 I EuInsVO wird die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens durch ein nach Art. 3 der VO zuständiges Gericht eines Mitgliedstaats in allen übrigen Mitgliedstaaten anerkannt, sobald die Entscheidung im Staat der Verfahrenseröffnung wirksam ist. Ohne weitere Förmlichkeiten werden die zur Durchführung und Beendigung eines Insolvenzverfahrens ergangenen Entscheidungen ebenfalls anerkannt, wenn diese von einem Gericht getroffen worden sind, dessen Eröffnungsentscheidung nach Art. 16 EuInsVO anerkannt wird (Art. 25 I EuInsVO).

[8] Die Formulierung des Art. 16 I EuInsVO – ‚durch ein nach Art. 3 zuständiges Gericht’ – ist nicht dahingehend zu verstehen, dass im Anerkennungsstaat zu prüfen ist, ob das Gericht für die Verfahrenseröffnung zuständig war. Dies verbietet der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens (vgl. Erwgr. 22 zur EuInsVO). Dieser verlangt, dass die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten die Entscheidung zur Eröffnung eines Insolvenzverfahrens anerkennen, ohne die vom ersten Gericht hinsichtlich seiner Zuständigkeit angestellte Beurteilung überprüfen zu können (EuGH, Urt. vom 2.5.2006 – Eurofood IFSC Ltd, Rs C-341/04, Slg. 2006 I-3813 Rz. 38 ff.; vom 21.1.2010 – MG Probud Gdynia sp. z o.o., Rs C-444/07, Slg. 2010 I-00417 Rz. 29). Dies gilt auch für die Anerkennung der zur Durchführung und Beendigung eines Insolvenzverfahrens ergangenen Entscheidungen im Sinne des Art. 25 I EuInsVO (EuGH, Urt. vom 21.1.2010 aaO Rz. 30 ff.).

[9] Nach Art. 26 EuInsVO kann sich jeder Mitgliedstaat allerdings weigern, ein in einem anderen Mitgliedstaat eröffnetes Insolvenzverfahren anzuerkennen oder eine in einem solchen Verfahren ergangene Entscheidung zu vollstrecken, soweit diese Anerkennung oder diese Vollstreckung zu einem Ergebnis führt, das offensichtlich mit seiner öffentlichen Ordnung, insbesondere mit den Grundprinzipien oder den verfassungsmäßig garantierten Rechten und Freiheiten des Einzelnen, unvereinbar ist (EuGH, Urt. vom 21.1.2010 aaO Rz. 33).

[10] 2. Eine Anwendung des Ordre-public-Vorbehalts gemäß Art. 26 EuInsVO kommt in Betracht, wenn das Ergebnis der Anerkennung oder Vollstreckung der in einem anderen Mitgliedstaat erlassenen Entscheidung gegen einen wesentlichen Rechtsgrundsatz verstieße und deshalb in einem nicht hinnehmbaren Gegensatz zur Rechtsordnung des Anerkennungs- oder Vollstreckungsmitgliedstaats stünde. Es muss sich bei diesem Verstoß um eine offensichtliche Verletzung einer in der Rechtsordnung des Anerkennungs- oder Vollstreckungsmitgliedstaats als wesentlich geltenden Rechtsnorm oder eines dort als grundlegend anerkannten Rechts handeln (EuGH, Urt. vom 28.3.2000 – Dieter Krombach ./. André Bamberski, Rs C-7/98, Slg. 2000 I-01935 Rz. 37; vom 11.5.2000 – Régie nationale des usines Renault S.A. ./. Maxicar S.p.A. u. Orazio Formento, Rs C-38/98, Slg. 2000 I-02973 Rz. 30; vom 2.4.2009 – Marco Gambazzi ./. DaimlerChrysler Canada Inc. u. CIBC Mellon Trust Company, Rs C-394/07, Slg. 2009 I-2563 Rz. 27; vom 28.4.2009 – Meletis Apostolides ./. David Charles Orams u. Linda Elizabeth Orams, Rs C-420/07, Slg. 2009 I-3571 Rz. 59; vom 6.9.2012 – Trade Agency Ltd. ./. Seramico Investments Ltd., Rs C-619/10, RIW 2012, 781 Rz. 51). Der Ordre-public-Vorbehalt des Art. 26 EuInsVO kann demnach nur in Ausnahmefällen einschlägig sein (EuGH, Urt. vom 2.5.2006 aaO Rz. 62; vom 21.1.2010 aaO Rz. 34).

[11] 3. Diesen Anforderungen wird die angefochtene Entscheidung nicht gerecht.

[12] a) Das Berufungsgericht hat unterstellt, dass der Bekl. den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen (vgl. Beck, ZVI 2011, 355, 358 ff.) tatsächlich in das Vereinigte Königreich verlegt hatte. Es hat für ausschlaggebend gehalten, dass die Verlegung durch den Schuldner erfolgt sei, um sich den berechtigten Forderungen seiner Gläubiger zu entziehen, was als rechtsmissbräuchlich anzusehen sei. Diese Erwägung trägt nicht. Ein Verstoß gegen die inländische öffentliche Ordnung liegt nicht schon dann vor, wenn das mitgliedstaatliche Gericht einen in seinem Zuständigkeitsbereich allein zur Erlangung der Restschuldbefreiung begründeten Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners anerkennt.

[13] b) Ein Verstoß gegen die öffentliche Ordnung gemäß Art. 26 EuInsVO folgt auch nicht daraus, dass sich das Berufungsgericht nicht hat davon überzeugen können, ob eine ordnungsgemäße Prüfung durch den englischen Richter habe stattgefunden. Jedenfalls bis zur Grenze der – im Streitfall nicht festgestellten – Willkür begründen Fehler bei der Annahme der internationalen Zuständigkeit keinen Verstoß gegen die deutsche öffentliche Ordnung (vgl. Schmidt-Brinkmann, InsO, 18. Aufl., Art. 26 EuInsVO Rz. 8; Flöther/Wehner in Ahrens-Gehrlein-Ringstmeier, InsO, 2. Aufl., Art. 26 EuInsVO Rz. 10a; Mohrbutter-Ringstmeier-Wenner, Hb. Insolvenzverwaltung, 9. Aufl., Kap. 20 Rz. 193).

[14] III. Der die Berufung zurückweisende Beschluss kann folglich keinen Bestand haben. Die Sache ist nicht zur Endentscheidung reif, weil es an Feststellungen zum Inhalt des englischen Rechts fehlt.

[15] 1. Nach § 293 ZPO hat der Tatrichter ausländisches Recht von Amts wegen zu ermitteln. Wie er sich diese Kenntnis verschafft, liegt in seinem pflichtgemäßen Ermessen. Jedoch darf sich die Ermittlung des fremden Rechts nicht auf die Heranziehung der Rechtsquellen beschränken, sondern muss auch die konkrete Ausgestaltung des Rechts in der ausländischen Rechtspraxis, insbes. die ausländische Rspr., berücksichtigen. Der Tatrichter ist gehalten, das Recht als Ganzes zu ermitteln, wie es sich in Lehre und Rspr. entwickelt hat. Er muss dabei die ihm zugänglichen Erkenntnisquellen ausschöpfen (BGH, Urt. vom 23.6.2003 – II ZR 305/01 (IPRspr. 2003 Nr. 1b), NJW 2003, 2685, 2686; vom 14.1.2014 – II ZR 192/13 (IPRspr 2014-276), WM 2014, 357 Rz. 15).

[16] 2. Vom Inhalt des englischen Rechts hängt ab, ob der Bekl. passiv prozessführungsbefugt und die Klage deshalb zulässig ist. Die Prozessführungsbefugnis kann beeinflusst werden durch die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens und durch dessen Einstellung oder Aufhebung (BGH, Beschl. vom 25.9.2008 – IX ZB 205/06 (IPRspr 2008-230), ZInsO 2008, 1279 Rz. 7). Dies gilt auch für ein Insolvenzverfahren nach englischem Recht. Auf die Frage, ob das Verfahren Wirkungen im Inland zeitigt, kommt es nicht an, wenn die Prozessführungsbefugnis auch unter Berücksichtigung des englischen Rechts anzunehmen ist.

[17] a) Das Berufungsgericht hat bislang keine Feststellungen über die Durchführung und eine etwaige Beendigung des am 26.8.2011 eröffneten Insolvenzverfahrens getroffen. Nach dem im Revisionsverfahren gehaltenen Parteivortrag hat der Bekl. am 26.8.2012 Restschuldbefreiung (discharge from bankruptcy) erlangt. Mit der Restschuldbefreiung dürfte das Insolvenzverfahren abgeschlossen worden sein [vgl. Insolvency Act 1986, s. 278 (b); Zilkens, Die discharge in der englischen Privatinsolvenz, 2006, 91; Renger, Wege zur Restschuldbefreiung nach dem Insolvency Act 1986, 2012, 130]. Jedenfalls ab diesem Zeitpunkt könnte die Kl. wieder berechtigt gewesen sein, ihren Bürgschaftsanspruch außerhalb des englischen Insolvenzverfahrens zu verfolgen, was auf die passive Prozessführungsbefugnis des Bekl. schließen ließe (vgl. BGH, Urt. vom 14.1.2014 aaO Rz. 11).

[18] b) Sollte das englische Recht der Prozessführungsbefugnis des Bekl. weiterhin entgegenstehen, wäre die Klage zulässig, wenn das im Vereinigten Königreich eröffnete Insolvenzverfahren in Deutschland nicht anzuerkennen sein sollte. Auch dies kann nicht ohne Feststellungen zum Inhalt des englischen Rechts beurteilt werden.

[19] aa) Die Kl. hat sich darauf berufen, der Bekl. habe die Eröffnung des englischen Insolvenzverfahrens durch Täuschung des Insolvenzrichters über den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen erlangt. Tatsächlich habe der Bekl. weiterhin in Deutschland gelebt, so dass der englische Insolvenzrichter international nicht zuständig gewesen sei.

[20] (1) Im Schrifttum wird teilweise angenommen, dass der inländische Gläubiger von der Einlegung eines Rechtsbehelfs in dem Mitgliedstaat der Verfahrenseröffnung absehen und sich stattdessen im Inland auf einen Verstoß gegen die öffentliche Ordnung berufen kann, wenn der Schuldner die Eröffnungsentscheidung durch Täuschung des Gerichts erlangt hat (so etwa Mankowski, KTS 2011, 185, 205 f.; Schmidt-Brinkmann aaO; Uhlenbruck-Lüer, InsO, 14. Aufl., Art. 26 EuInsVO Rz. 6). Danach wäre ein Verstoß gegen die öffentliche Ordnung im Sinne des Art. 26 EuInsVO im Streitfall schon dann anzunehmen, wenn es der darlegungs- und beweisbelasteten Kl. (vgl. BGH, Urt. vom 14.11.1996 – IX ZR 339/95 (IPRspr. 1996 Nr. 233), BGHZ 134, 79, 91 f.; Beschl. vom 18.9.2001 – IX ZB 104/00 (IPRspr. 2001 Nr. 185), WM 2002, 143, 144; vom 6.10.2005 – IX ZB 360/02 (IPRspr 2005-159), WM 2006, 597, 598) gelänge, die behauptete Täuschung nachzuweisen. Auf eine Rechtsschutzmöglichkeit im Vereinigten Königreich käme es nicht an. Andere Autoren gehen davon aus, dass auch die Erlangung einer Eröffnungsentscheidung infolge Täuschung des Gerichts – soweit möglich – durch Einlegung eines Rechtsbehelfs im Eröffnungsstaat geltend gemacht werden muss (Jacoby, GPR 2007, 200, 204 f.; Mehring, ZInsO 2012, 1247,1250; Priebe, ZInsO 2012, 2074, 2083; Vallender, ZInsO 2009, 616, 620; Flöther/Wehner in Ahrens-Gehrlein-Ringstmeier aaO).

[21] (2) Richtig ist die letztgenannte Ansicht. Nach Erwgr. 22 zur EuInsVO sollen die zulässigen Gründe für eine Nichtanerkennung der in einem Mitgliedstaat getroffenen Entscheidungen über die Eröffnung, Durchführung und Beendigung eines Insolvenzverfahrens auf das unbedingt notwendige Maß beschränkt sein. Dies verdeutlicht den Ausnahmecharakter des Ordre-public-Vorbehalts gemäß Art. 26 EuInsVO. Dessen Anwendung ist nicht unbedingt notwendig, wenn die von einem mitgliedstaatlichen Insolvenzverfahren betroffene Person im Staat der Verfahrenseröffnung zureichenden Rechtsschutz suchen kann. Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens gebietet es daher, dass die betroffene Person die Gerichte im Eröffnungsstaat anruft, wenn sie meint, der Schuldner habe die Eröffnungsentscheidung durch Täuschung über den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen erschlichen. Damit verbundene Erschwernisse für die Person sind zur Verbesserung der Effizienz und Wirksamkeit der Insolvenzverfahren mit grenzüberschreitender Wirkung (vgl. Erwgr. 2 zur EuInsVO) hinzunehmen.

[22] Dies haben das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union durch die kürzlich erfolgte Neufassung der EuInsVO [VO (EU) 2015/848 des Europäischen Parlaments und des Rates über Insolvenzverfahren vom 20.5.2015 (ABl. Nr. L 141/19)] bestätigt. Art. 5 I dieser Verordnung sieht das Recht (auch) jedes Gläubigers vor, die Eröffnungsentscheidung aus Gründen der internationalen Zuständigkeit anzufechten. Dabei handelt es sich um eine von mehreren Schutzvorkehrungen, um betrügerisches oder missbräuchliches Forum Shopping zu verhindern (vgl. Erwgr. 29 zur VO i.V.m. Erwgr. 34 ‚darüber hinaus’). Danach kann und muss der Gläubiger auch im Fall einer durch Täuschung erschlichenen Zuständigkeitsentscheidung Rechtsschutz im Staat der Verfahrenseröffnung suchen. Nichts anderes gilt nach derzeit noch geltender Rechtslage, wenn das Recht des Eröffnungsstaats eine entsprechende Rechtsschutzmöglichkeit vorsieht.

[23] bb) Die Kl. hat sich ferner darauf berufen, sie habe keinerlei Möglichkeit gehabt, zur internationalen Zuständigkeit des Colchester County Court Stellung zu nehmen. Sie hat hierzu vorgetragen, das Schreiben des Official Receiver vom 6.10.2011, mittels dessen sie über die Verfahrenseröffnung informiert werden sollte, sei nicht zugegangen. Bis zur Zustellung der Klagerwiderung am 26.4.2012 habe die Kl. keinerlei Kenntnis von dem englischen Insolvenzverfahren gehabt.

[24] (1) Nach der Rspr. des EuGH ist Art. 26 EuInsVO anwendbar, wenn die Entscheidung zur Eröffnung eines Insolvenzverfahrens unter offensichtlichem Verstoß gegen das Grundrecht auf rechtliches Gehör einer von einem solchen Verfahren betroffenen Person ergangen ist. Dabei geht es um den allgemeinen unionsrechtlichen Rechtsgrundsatz, dass jedermann Anspruch auf ein faires Verfahrens hat. Der Richter im Inland kann sich nicht darauf beschränken, seine eigenen Vorstellungen von der Mündlichkeit des Verfahrens und von der fundamentalen Rolle, die diese in seiner Rechtsordnung spielt, zu übertragen. Vielmehr muss er anhand sämtlicher Umstände beurteilen, ob die betroffene Person in dem mitgliedstaatlichen Verfahren hinreichend die Möglichkeit hatte, gehört zu werden (EuGH, Urt. vom 2.5.2006 aaO Rz. 65 ff.).

[25] (2) Das Berufungsgericht wird deshalb unter Würdigung sämtlicher Umstände zu prüfen haben, ob sich die Kl. nach englischem Recht hinreichend Gehör verschaffen und zur internationalen Zuständigkeit des Colchester City Court Stellung nehmen konnte. Eine Rechtsschutzmöglichkeit könnte auch in dem Verfahren zur Annullierung englischer Insolvenzeröffnungsentscheidungen zu erblicken sein.

[26] Gemäß Insolvency Act 1986, s. 282 (1) (a) kann der Eröffnungsbeschluss annulliert werden, wenn dieser aus Gründen, die bei dessen Erlass schon vorlagen, nicht hätte ergehen dürfen. Da der Insolvency Act keine Regelung enthält, durch welche der berechtigte Personenkreis beschränkt wird, dürften alle Betroffenen berechtigt sein, die Annullierung zu beantragen. Der Antrag soll auch noch nach Eintritt der Restschuldbefreiung gestellt werden können und mit der dann erfolgenden Annullierung die bereits eingetretene Durchsetzungssperre entfallen (Mehring aaO 1250 f.; Goslar, NZI 2012, 912, 915 f.; Priebe aaO 2081; Renger aaO 98 ff.; vgl. auch High Court of Justice Birmingham, 29.8.2012, Case No. 957 of 2010).

[27] (3) Allein der Umstand, dass der Gläubiger keine verfahrensrechtliche Möglichkeit hatte, sich in dem ausländischen Verfahren Gehör zu verschaffen, reicht allerdings nicht aus, um der ausländischen Entscheidung die Anerkennung zu versagen. Vielmehr muss gemäß Art. 26 EuInsVO die Anerkennung oder die Vollstreckung der Entscheidung in dem Mitgliedstaat zu einem Ergebnis führen, das offensichtlich mit der inländischen öffentlichen Ordnung, insbesondere mit den Grundprinzipien oder den verfassungsmäßig garantierten Rechten und Freiheiten des Einzelnen, unvereinbar ist (vgl. Flöther/Wehner in Ahrens-Gehrlein-Ringstmeier aaO Rz. 6; HK-InsO-Stephan, 7. Aufl., Art. 26 EuInsVO Rz. 2; Kübler-Prütting-Bork-Kemper, InsO, 2010, Art. 26 Rz. 4; Mohrbutter-Ringstmeier-Wenner aaO). Ein solches Ergebnis könnte dann gegeben sein, wenn festgestellt wird, dass der Bekl. sich rechtsmissbräuchlich die Zuständigkeit des Insolvenzgerichts im Vereinigten Königreich erschlichen hat, indem er die Verlegung des Mittelpunkts seiner hauptsächlichen Interessen vorgetäuscht hat.

[28] Die Kl. hat mit ihrer im Revisionsverfahren erhobenen Gegenrüge geltend gemacht, für den Fall, dass es tatsächlich darauf ankomme, ob der Bekl. den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen nur zum Schein in das Vereinigte Königreich verlegt habe, hätte sie sich auf einen entspr. Hinweis zum Beweis für ihre Behauptung, dass der Bekl. weiter in Deutschland gewohnt habe, auf das Zeugnis der Ehefrau des Bekl. berufen. Sollte es nach der Feststellung des englischen Rechts durch das Berufungsgericht hierauf noch ankommen, weil für die Kl. keine Möglichkeit gegeben war oder ist, ihre Rechte im englischen Insolvenzverfahren wahrzunehmen, wird ihr Gelegenheit zu geben sein, ihren Vortrag insoweit noch zu ergänzen und Beweis für den ihr obliegenden Nachweis der Zuständigkeitserschleichung anzutreten.

[29] 3. Ist die Klage deshalb zulässig, weil der Bekl. zwischenzeitlich Restschuldbefreiung erlangt hat und daher (wieder) prozessführungsbefugt ist, kann der streitgegenständliche Bürgschaftsanspruch ohne weiteres durchsetzbar sein, wenn die Restschuldbefreiung den Bürgschaftsanspruch nicht umfasst (vgl. dazu Insolvency Act 1986, s. 281; Zilkens aaO 77 f.; Renger aaO 111 ff.; jeweils zur Reichweite der Restschuldbefreiung). Für den Fall, dass der Bürgschaftsanspruch von der Restschuldbefreiung erfasst wird, kann die Klage nur dann begründet sein, wenn die Restschuldbefreiung in Deutschland nicht anzuerkennen ist. Die vorstehenden Ausführungen unter 2. b) gelten sinngemäß. Da der Ordre-public-Vorbehalt des Art. 26 EuInsVO sowohl für die Eröffnungsentscheidung nach Art. 16 I EuInsVO gilt als auch auf Entscheidungen im Sinne des Art. 25 I EuInsVO anzuwenden ist, kann offen bleiben, ob es sich bei der Restschuldbefreiung nach englischem Recht um einen Fall des Art. 25 I EuInsVO handelt oder ob wegen der im Regelfall automatisch eintretenden Befreiung (vgl. Renger aaO 104 f.; Priebe aaO 2079) Art. 16 I EuInsVO einschlägig ist (vgl. Vallender aaO 618; Mansel in FS von Hoffmann, 2011, 683, 685; Mankowski aaO 201).

Fundstellen

LS und Gründe

DB, 2015, 2751
WM, 2015, 2248
ZInsO, 2015, 2434
ZIP, 2015, 2331
Europ. Leg. Forum, 2016, 79
MDR, 2016, 55
NZI, 2016, 93, mit Anm. Mankowski
WuB, 2016, 122, mit Anm. Lüttringhaus, 2016, 122
ZVI, 2016, 63

nur Leitsatz

DB, 2016, 100, mit Anm. Landry
EWiR, 2016, 19, mit Anm. Vallender

Bericht

NJW-Spezial, 2016, 23

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https://iprspr.mpipriv.de/2015-292

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