PDF-Version

Verfahrensgang

AG München, Urt. vom 03.04.2020 – 191 C 8294/19, IPRspr 2020-18

Rechtsgebiete

Allgemeine Lehren → Ordre public

Leitsatz

Ein Anspruch auf Zahlung des ungarischen Straßenbenutzungsentgelts wird aus einem Rechtsverhältnis abgeleitet, das als Zivil- und Handelssache im Sinne des Art. 2 EuGVO zu qualifizieren ist.

Die sich aus dem ungarischen Recht ergebende erhöhte Nachgebühr, die erhoben wird, wenn die einfache "Nachgebühr" nicht innerhalb von 30 Tagen bezahlt wird, stellt einen Strafschadensersatzanspruch dar, der mit dem deutschen ordre public nicht vereinbar ist. [LS von der Redaktion neu gefasst]

Rechtsnormen

36/2007 (III. 26) GMK (Ungarn) § 1; 36/2007 (III. 26) GMK (Ungarn) § 7/A
BGB § 291
EUGVVO 44/2001 Art. 2
Rom II-VO 864/2007 Art. 2; Rom II-VO 864/2007 Art. 4; Rom II-VO 864/2007 Art. 4 ff.; Rom II-VO 864/2007 Art. 10; Rom II-VO 864/2007 Art. 26

Sachverhalt

Die Klägerin verlangt von der beklagten Omnibus-Halterin die Zahlung von zwei sog. "Nachgebühren" für die Nutzung von ungarischen Straßen am 04.05.2017, 18:33 Uhr und am 05.05.2017, 10:31 Uhr. Allerdings wurde für den 05.05.2017, jedoch erst um 16:17 Uhr, für diesen Bus eine Vignette gekauft. Die ungarische Mautverordnung regelt die Mautpflichtigkeit auf den Straßen Ungarns. Dabei handelt es sich nach dem Recht der Republik Ungarn um eine zivilrechtliche Forderung (§ 1 MautVO). Der Kostenschuldner ist nach § 15 II ung. Straßengesetz der Halter des Fahrzeugs. § 7/A Abs. 2 MautVO weist den Nutzungsanspruch der Klägerin zu.

Die Klägerin beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin zu zahlen.

Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]Die zulässige Klage ist nur zum Teil begründet.

[2]A. Die Klage ist zulässig.

[3]I. Die deutschen Gerichte sind nach Art. 2 EuGVO international zuständig. Der eingeklagte Anspruch auf Zahlung des ungarischen Straßenbenutzungsentgelts wird aus einem Rechtsverhältnis abgeleitet, das als Zivil- und Handelssache zu qualifizieren ist.

[4]Nach dem unstreitigen Klagevortrag handelt es sich bei dem klageweise verfolgten Zahlungsanspruch nicht um eine öffentlich-rechtliche, sondern um eine zivilrechtliche Forderung.

[5]Dem folgt das Gericht. Es steht den Staaten frei, wie sie ihr Recht ausgestalten. Danach lässt sich die Benutzung öffentlicher Straßen und Wege sowohl als ein hoheitliches Benutzungsverhältnis als auch als zivilrechtliches Rechtsverhältnis verstehen und gestalten. Entsprechend können damit auch Verstöße gegen vorab bestimmte Nutzungsbedingungen (wie hier die unterlassene Zahlung eines Entgelts für die Nutzung einer bestimmten Straße) innerhalb beider Systeme ausgestaltet werden. Nach dem Wortlaut des ungarischen Rechts (siehe Anlagen K 1-3) wählte Ungarn eine einheitliche zivilrechtliche Gestaltung, bei der sowohl die Nutzung als auch die Rechtsfolgen einer unzulässigen, bedingungswidrigen Straßennutzung mit den Mitteln des Privatrechts geregelt werden ...

[6]B. Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zahlung eines (einfach erhöhten) Nutzungsentgelts in Höhe von noch ... €; die weitergehende Klage war abzuweisen.

[7]I. Auf das eingeklagte Rechtsverhältnis findet nach Art. 2, 4 Rom-II-VO das ungarische Recht Anwendung.

[8]1. Die Rom-I-VO ist nicht auf das Rechtsverhältnis der Parteien anzuwenden. Weder die Benutzung der ungarischen Straßen noch die Rechtsfolgen einer unterlassenen Mautzahlung werden danach durch einen Vertrag geregelt.

[9]Allerdings wird in verschiedenen Entscheidungen (z.B. AG München Urt. vom 11.2.2018, 243 C 5183/18; AG Passau Urt. vom 0.03.2019, 15 C 476/18; AG Rosenheim Urt. vom 02.01.2019, 15 C 650/18) von einem "Vertragsverhältnis" gesprochen. Dies überzeugt nicht und wird dort auch nicht näher begründet. Insbesondere wird nicht erklärt, wann, wo und welche Willenserklärungen abgegeben werden sollen und warum der nicht vor Ort anwesende KFZ-Halter aus einem Vertrag verpflichtet werden kann.

[10]Möglicherweise kommt ein Vertragsverhältnis zustande, wenn ein KFZ-Nutzer (vorab) eine Vignette erwirbt. Die Klägerin trägt aber nicht vor, ob und welche Erklärungen anlässlich des Erwerbs einer Vignette (an einem Automaten oder an einem Schalter) von dem Handelnden abgegeben werden oder ob sonst anhand einer (klaren) Beschilderung entlang der Straßen das Vorliegen einer konkludenten Willenserklärung angenommen werden kann. Aus den mitgeteilten Vorschriften zum ungarischen Recht lässt sich dazu nichts entnehmen. Insbesondere spricht § 1 Satz 1 des ung. Gesetzes [MautVO] (Anlage K 1) nicht von einem Vertrag, sondern von einer "Benutzung". Das Recht Ungarns knüpft danach sowohl die regulären Benutzungsentgelte als auch die erhöhten Entgelte für den Fall festgestellter Mautverstöße an einen Realakt, nämlich die Straßenbenutzung und die Feststellung von Mautverstößen an. Die gegenteilige Behauptung der Klägerin im Schriftsatz vom 06.12.2019, Seite 3 (= Bl. 55 d.A.) findet in deren eigenen Vortrag zum ungarischen Recht keine Stütze.

[11]Hier geht es zudem ausschließlich um die tatsächliche Straßennutzung, ohne dass zuvor eine Vignette erworben wurde. Auch ist es eine reine Fiktion, einen Nutzungsvertrag mit dem Halter des jeweiligen Fahrzeugs anzunehmen. Die Klägerin führt selbst aus, dass wegen Mautverstößen immer nur der Halter des Fahrzeugs haftet, nicht aber der Fahrer (Schriftsatz vom 24.02.2020, Seite 2 = Bl. 77 d.A.). Es gibt aber keinen tatsächlichen Anhaltspunkt dafür, dass der Halter dem Fahrer "konkludent sein Einverständnis" gibt, beim Befahren der ungarischen Straßen auf seine Kosten zu handeln. Diese Behauptung ist eine reine Fiktion und zeigt, dass eine vertragliche Grundlage für den Abschluss eines Benutzungsvertrages allenfalls zwischen dem Fahrer und dem Träger des Straßennetzes denkbar erscheint (zum deutschen Recht: BGH, Urt. vom 18.12.2019, XII ZR 13/19). Es steht dem ungarischen Gesetzgeber auch nicht zu, unbegrenzte Vollmachten zur vertraglichen Verpflichtung eines im Ausland befindlichen Dritten vorzusehen.

[12]Die hier eingeklagte erhöhte Nachgebühr nach § 7/A Abs. 1 MautVO wird dadurch ausgelöst, dass bei einer Kontrolle keine gültige Berechtigung festgestellt werden kann. Es ist für das Gericht nicht erkennbar, wie bei diesem Sachverhalt ein Vertragsverhältnis zwischen den Parteien dieses Prozesses entstanden sein soll. Die eingeklagte "Nachgebühr" wird vielmehr aus einem gesetzlichen Schuldverhältnis, das an den Realakt der Straßennutzung ohne vorherige Mautzahlung anknüpft, abgeleitet.

[13]Die ROM-I-VO ist daher nicht anzuwenden.

[14]2. Der sachliche Anwendungsbereich der ROM-II-VO ist eröffnet.

[15]Die mit der Klage verfolgte (wegen der Nichtzahlung der regelmäßigen (Vorab-)Gebühr) massiv erhöhte "Nachgebühr" (hier wegen zweier Maut-Verstöße des Busses der Beklagten am 04.05.2017 und am 05.05.2017) wird aus einem gesetzlichen Schuldverhältnis, das durch das ungarische Straßenrecht begründet wird, abgeleitet.

[16]Das Gericht lässt es offen, ob dieses Schuldverhältnis als eine "ungerechtfertigte Bereicherung" (Art. 10 ROM-II-VO) zu qualifizieren ist, da das ungarische Recht bei einer Straßennutzung ohne Vignette von einer "unberechtigten Straßenbenutzung" spricht und daraus einen Zahlungsanspruch ableitet oder ob bei diesem Sachverhalt das Vorliegen einer "unerlaubten Handlung" (Art. 4 ff Rom-II-VO) gegeben ist, zumal der Schadensbegriff in der VO weit zu verstehen ist (Art. 2 Abs. 1).

[17]Danach wäre jeweils wegen der Nutzung ungarischer Straßen das Recht Ungarns (als Tatortrecht) heranzuziehen.

[18]II. In Anwendung des ungarischen Rechts hat die Klägerin gegen die Beklagte einen Zahlungsanspruch wegen der Benutzung des ungarischen Fernstraßennetzes mit dem auf die Beklagte zugelassenen Bus am 04.05. und am 05.05.2017 in Höhe von (noch) ... € (= ... €).

[19]1. Unstreitig befuhr der Bus der Beklagten an beiden Tagen die von der Mautregelung erfassten Straßen, ohne dass zuvor eine Vignette gelöst worden war.

[20]a) Schuldner des mit dieser gesetzlichen Regelung ausgelösten Entgelts/Gebühr ist der Halter des Fahrzeugs, hier die Beklagte. Auf eine Vollmacht zugunsten des Fahrers kommt es nicht an, da sich die Haftung der Beklagten schon aus ihrer Haltereigenschaft ergibt.

[21]Diese gesetzliche Regelung muss nach der Rom-II-VO angewandt werden. Das Gericht sieht darin auch keinen Verstoß gegen den ordre public.

[22]aa) Allerdings ist das zwingende Anknüpfen der "Gebühren"-Schuld beim Halter des KFZ (ohne Entlastungsmöglichkeit) nicht unproblematisch. Diese Ausgestaltung erweitert seine allgemeine Gefährdungshaftung, ohne dass sich in diesem Vorgang die besondere Gefährlichkeit des Kraftfahrzeugs (die sonst deren Rechtfertigung bildet) abbildet. Vielmehr dürfte es allein der Verwaltungsvereinfachung dienen, die erhöhten Nutzungsentgelte bei dem leicht ermittelbaren Fahrzeughalter und nicht beim (meist unbekannten) Fahrer anzuknüpfen. Damit widerspricht das ungarische Recht in seiner konkreten Ausgestaltung dem Schuldprinzip, insbesondere wenn man als Kontrollmaßstab eine vergleichbare Verletzung der StVO heranzieht.

[23]Gleichwohl verneint das Gericht einen [Ordre-public-Verstoß], solange die damit anknüpfende Sanktion noch verhältnismäßig und angemessen ist. Es ist einem Gesetzgeber zuzugestehen, typische Vorfälle, die an die Nutzung des KFZ anknüpfen, haftungsrechtlich dem Halter zuzuordnen. Dazu zählen auch Entgelte, die sich aus der Nutzung von öffentlichen Straßen ergeben. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass der Halter in der Regel eine ihm auferlegte - vermeidbare - Zahlungspflicht im Innenverhältnis auf den Fahrer abwälzt.

[24]b) Die Beklagte schuldet der Klägerin das nach § 7/A i.V.m. Anlage 1 Ziffer 1 zur Mautordnung einfach erhöhte Mautentgelt in Höhe von ... € (= ... €; "einfache Zusatzgebühr").

[25]Die gesetzliche Zahlungspflicht für die Nutzung der Schnellstraße zusammen mit der gesetzlichen Halterhaftung ist nach Art. 26 Rom-II-VO nicht zu beanstanden.

[26]Dies gilt auch noch für die (einfach) erhöhte Nachgebühr (hier ... €). Insoweit stellt dies noch eine pauschale Schadensersatzregelung dar, die den Mehraufwand abbildet, der in der Verfolgung von Mautverstößen liegt.

[27]Eine Inhaltskontrolle, die nach der Angemessenheit dieser Beträge fragt, durch das angerufene Gericht findet nicht statt, da das ausländische Recht als solches anzuwenden ist; eine Verletzung des ordre public liegt darin (noch) nicht, da diese Regelungen an sich auch dem deutschen Recht der Leistungsstörung und den Grundgedanken des Schadensersatzrechts nicht völlig fremd sind.

[28]2. Dagegen ist der von der Klägerin verlangte Betrag von ... € für eine nicht innerhalb von 30 Tagen bezahlte "Nachgebühr" mit dem deutschen ordre public nicht mehr vereinbar (im Folgenden: "erhöhte Nachgebühr"). Die zugrunde liegende Bestimmung des ungarischen Rechts ist deshalb von deutschen Gerichten nicht anzuwenden.

[29]Das anzuwendende (Sach-)Recht darf nicht gegen den [o]rdre [p]ublic verstoßen (Art 26 Rom-II VO).

[30]Dies ist hier der Fall, indem das Recht Ungarns die erhöhte Nachgebühr allein wegen des Zeitablaufs (Nichtzahlung der einfachen Nachgebühr innerhalb von 30 Tagen) nochmals massiv erhöht (von ... € auf ... €). Diese Regelung stellt einen Strafschadensersatz dar, der gegen den ordre public verstößt (vgl. Palandt/Thorn, Rom-II-VO, Art. 26 Rdnr. 2).

[31]Eine schon als Strafe ausgestaltete erhöhte Schuld (wegen des Nicht-Lösens der Vignette im Wert von (hier) ... € wird bereits die einfach erhöhte Nachgebühr (hier: ... €) erhoben) wird allein wegen des Zeitablaufs nochmals pauschal und massiv verschärft, ohne dass sich der durch die unerlaubte Handlung des Täters (Benutzung der Straße ohne Vignette) feststellbare Schaden erhöht oder sonst verändert hat. Hinzu kommt, dass Rechtsverfolgungskosten nach der gesetzlichen Regelung zusätzlich verlangt werden, diese also nicht zur Rechtfertigung der (zweiten) Erhöhung herangezogen werden können. Diese Regelung widerspricht dem Kern des deutschen Schadensersatzrechts, das auch im Falle des Verzugs des deliktischen Schuldners nur den dadurch ausgelösten Verzugsschaden als weitere Schadensposition anerkennt.

[32]Die zur Rechtfertigung dieser Bestimmung von der Klägerin vorgebrachten Argumente überzeugen nicht. Der Vergleich mit dem OWi-Recht hinkt, weil nach dem ungarischen Recht bewusst keine hoheitliche Lösung und keine echte Strafsanktion gewählt wurde. Wählt der Gesetzgeber eine zivilrechtliche Ausgestaltung der Straßennutzung, muss er sich innerhalb dieses Systems bewegen. Die Stringenz der Regelung muss eingehalten werden, ein Rosinenpicken verbietet sich.

[33]3. ... 5. Die Zinsforderung war abzuweisen.

[34]Die Vorschrift des § 291 BGB findet auf die eingeklagte Forderung keine Anwendung. Der Zinsanspruch gem. § 291 BGB ist ein materiell-rechtlicher Anspruch, der lediglich durch die Rechtshängigkeit ausgelöst wird. § 291 BGB ist daher nur dann anwendbar, wenn das deutsche Recht als (Forderungs-)Statut für die Forderung berufen ist (siehe OLG München, Urteil vom 25.03.2015 - 15 U 458/14 (IPRspr 2015-43) -, juris mit zust. Anm. Mankowski EWiR 2015, 703).

[35]... 

Fundstellen

nur Leitsatz

EWiR, 2020, 691, mit Anm. Mankowski

LS und Gründe

MDR, 2020, 726

Permalink

https://iprspr.mpipriv.de/2020-18

Lizenz

Copyright (c) 2024 Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht
Creative-Commons-Lizenz Dieses Werk steht unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
<% if Mpi.live? %> <% end %>