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Verfahrensgang

OLG Hamm, Beschl. vom 06.01.2017 – 3 UF 106/16, IPRspr 2017-128

Rechtsgebiete

Ehe und andere familienrechtliche Lebens- und Risikogemeinschaften → Scheidung, Trennung
Verfahren → Berücksichtigung ausländischer Rechtshängigkeit und Rechtskraft

Leitsatz

Der Einwand der anderweitigen Rechtshängigkeit ist im Ehescheidungsverfahren in allen Instanzen ein von Amts wegen unabhängig von etwaigen Anträgen oder Verfahrensrügen zu berücksichtigendes Verfahrenshindernis, so dass ein Scheidungsverbundbeschluss im Beschwerdeverfahren auch ohne ausdrücklichen Antrag in entsprechender Anwendung der §§ 113 I 2 FamFG, 538 II 1 Nr. 7, 3 ZPO aufgehoben und das Verfahren zur erforderlichen dortigen Aussetzung an das Familiengericht zurückverwiesen werden kann.

Die anderweitige Rechtshängigkeit wegen eines im Libanon vor dem Schariagericht zeitlich vorrangig eingereichten und zugestellten Ehescheidungs- und Abendgabe-Antrags gegenüber dem (vom selben Ehegatten) später anhängig und rechtshängig gemachten Ehescheidungsverbundverfahren vor dem deutschen Familiengericht folgt aus Art. 33, 34 LugÜ II beziehungsweise § 261 III Nr. 1 ZPO analog.

Nach diesen Vorschriften ist gegenüber dem engen deutschen Rechtshängigkeits- und zweigliedrigen Streitgegenstandsbegriff (identischer Sachantrag und Lebenssachverhalt) zur Vermeidung unvereinbarer gerichtlicher Kollisionen bei der Beurteilung der zwischenstaatlichen anderweitigen Rechtshängigkeit ein einheitlicher, den Begriff des „prozessualen Anspruchs“ autonom auslegender weiter Verfahrensgegenstandsbegriff geboten, wonach es entscheidend darauf ankommt, ob bei wertender Betrachtung der „Kernpunkt“ beider Verfahren der Gleiche ist. Ein vor dem Familiengericht rechtshängiges verschuldensunabhängiges Ehescheidungsverfahren nach den §§ 1564 ff. BGB beruht insoweit auf dem gleichen Kernpunkt wie ein schon zuvor im Libanon vor dem dortigen Schariagericht rechtshängig gewordenes, von der Ehefrau wegen nachgewiesenen Verschuldens des Ehemanns beantragtes Ehescheidungs- und Abendgabe-Verfahren nach den Art. 337 bis 345 des libanesischen Familiengesetzes in der Fassung vom 16.7.1962.

Rechtsnormen

BGB § 1564; BGB §§ 1564 ff.; BGB §§ 1565 ff.
EGBGB Art. 17
EuEheVO 2201/2003 Art. 3
EuGVVO 1215/2012 Art. 29 ff.
FamFG § 98; FamFG § 113; FamFG § 117
FamG 1917 (Libanon) Art. 337 ff.; FamG 1917 (Libanon) Art. 343
LugÜ II Art. 33 f.
Rom III-VO 1259/2010 Art. 5; Rom III-VO 1259/2010 Art. 8
ZPO § 253; ZPO § 261; ZPO § 538

Sachverhalt

Streitig ist die Aufhebung und Zurückverweisung des Scheidungsverbundbeschlusses eines deutschen Familiengerichts wegen anderweitiger Rechtshängigkeit im Hinblick auf einen zeitlich vorrangig eingereichten und zugestellten Ehescheidungs- und Abendgabe-Antrag vor dem Schariagericht im Libanon.

Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]B. ... Bei dem aus den nachfolgenden Gründen durchgreifenden, der wirksamen Ehescheidung durch den angefochtenen Beschluss entgegenstehenden Einwand der doppelten Rechtshängigkeit gemäß den §§ 113 I 2 FamFG, 261 II Nr. 1 ZPO (analog wegen des Auslandsbezugs zu dem parallelen Scheidungsverfahren im Libanon) handelt es sich nämlich um ein von Amts wegen zu beachtendes, unabhängig von Anträgen oder Verfahrensrügen der Beteiligten in allen Instanzen einschl. der Revisionsinstanz zu berücksichtigendes Verfahrenshindernis (vgl. RGZ 160, 345; BGH, NJW 1986, 2195 (IPRspr. 1985 Nr. 167); OLG Frankfurt a.M., Beschl. vom 30.7.2015 – 4 UF 151/15, juris Rz. 2; Zöller-Greger, ZPO, 31. Aufl., § 261 Rz. 11). Auf eine dies nicht beachtende und daher schon verfahrensrechtlich unzulässige Entscheidung sind in Ehe- und Familienstreitsachen die Regelungen der §§ 117 II 1 FamFG, 538 II 1 Nr. 7, 3 ZPO über die ohne Antrag von Amts wegen gebotene Aufhebung und Zurückverweisung einer unzulässigen Teilentscheidung entsprechend anzuwenden (MünchKommFamFG-Fischer, 2. Aufl., § 117 II FamFG; s. allg. zu verfahrensrechtlich unzulässigen familiengerichtlichen Beschlüssen Keidel-Sternal, FamFG, 18. Aufl., § 69 Rz. 14a N. 47).

[2]I. ... Zwar sind das FamG und ihm folgend der Senat für Verfahren wie das vorliegende grundsätzlich international zuständig und auch befugt, eine nach dem Scharia-Recht im Libanon geschlossene Ehe zu scheiden. Hieran sind das FamG und der Senat indes vorliegend im Ergebnis durch die Rechtshängigkeit des parallelen, von der ASt. im Libanon vor dem Schariagericht anhängig und rechtshängig gemachten Ehescheidungs- und Morgengabeverfahrens gehindert.

[3]II. ... 1. Die internationale Zuständigkeit der deutschen Familiengerichte im vorliegenden Fall ergibt sich entgegen der erstinstanzlichen Beurteilung nicht aus § 98 I Nr. 1 FamFG, sondern vielmehr aus Art. 3 I lit. a EuEheVO, während die grundsätzliche Anwendbarkeit deutschen Ehescheidungsrechts aus Art. 8 lit. a Rom-III-VO folgt und die Scharia-Heiratsurkunde keine abweichende Rechtswahl nach Art. 5 Rom-III-VO darstellt. Das deutsche Versorgungsausgleichsrecht findet grunds. nach Art. 17 III 1 EGBGB Anwendung (vgl. zu sämtlichen Gesichtspunkten OLG Hamm, Beschl. vom 22.4.2016 – II-3 UF 262/15 (IPRspr 2016-120), FamRZ 2016, 1926 ff., juris).

[4]2. Des Weiteren ergibt sich aus der vorstehend zit. Entscheidung des Senats, dass materiell-rechtlich eine einseitige Zerrüttung der Ehe im Sinne der §§ 1565 ff. BGB aufgrund eines Scheidungsantrags der Ehefrau nach § 1564 BGB grundsätzlich zum Ausspruch der Scheidung auch einer vor einem libanesischen Schariagericht geschlossenen islamisch-sunnitischen Ehe führen kann. Zudem hat der Senat dort festgestellt, dass die daran anknüpfende Pflicht des Ehemanns zur Zahlung einer vereinbarten Braut-Abendgabe den Ausspruch der Scheidung nach dem deutschen Recht aufgrund des Grundsatzes des ordre public nicht hindert, auch wenn sich der Ehemann auf die diesbezüglichen einschränkenden Voraussetzungen nach dem Scheidungsrecht des libanesischen FGB beruft.

[5]3. Nach dem Ergebnis der vor dem Senat durchgeführten schriftlichen Anhörung der Beteiligten und der Einholung amtlicher Übersetzungen der Unterlagen zu dem weiteren, vor dem libanesischen Schariagericht geführten Verfahren steht indes zur Überzeugung des Senats fest, dass die Rechtshängigkeit dieses früher als das vorliegende Verfahren anhängig gemachten Scheidungsverfahrens im Libanon der vorliegenden Rechtshängigkeit entgegensteht und das FamG daher verfahrensfehlerhaft über den Scheidungsantrag entschieden hat.

[6]a) Entgegen der von dem AGg. eingereichten Übersetzung der von einer libanesischen Rechtsanwältin der ASt. unter dem 9.3.2015 verfassten und am 21.4.2015 beim sunnitischen Schariagericht in J./Libanon eingereichten Antragsschrift begehrt diese dort nicht lediglich die Feststellung der Trennung der Beteiligten unter gleichzeitiger Verpflichtung des AGg. zur Zahlung der vereinbarten Brautgabe und einer weiteren Entschädigung ... aa) ... sondern – wie auch vorliegend – im Ergebnis die Ehescheidung ..., dort allerdings in Form eines vom nachgewiesenen Verschulden des Ehemanns abhängigen al tafreeq. Art. 343 lib. FGB von 1962 regelt insoweit nicht Trennungs-, sondern Scheidungsvoraussetzungen in Verbindung mit der Abendgabe.

[7]bb) ... (1) Dies ergibt sich zum einen aus der Kommentierung bei Bergmann-Ferid-Henrich, Int. Ehe- und Kindschaftsrecht [Stand: 1.3.1996] zu Art. 337 ff. lib. FGB 1962 und aus der Tatsache, dass die in der Antragsschrift der ASt. an das Schariagericht ebenfalls beantragte Brautgabe nicht bei Trennung, sondern bei Ehescheidung fällig wird. Dem ist neben dem Senat (aaO) auch anderweitige obergerichtliche Rspr. gefolgt und hat festgestellt, dass die Art. 337–345 lib. FGB die Voraussetzungen für die Auflösung islamisch-sunnitisch geschlossener Ehen wegen Streitigkeiten der Eheleute und daraus folgender Unerträglichkeit des weiteren Zusammenlebens regeln (vgl. OLG Zweibrücken, Urt. vom 16.11.2001 – 2 UF 80/00 (IPRspr. 2001 Nr. 72)) ...

[8](2) Soweit demgegenüber von der ASt. erstmals im Beschwerdeverfahren vorgetragen worden ist, dass die Rechtshängigkeit der Ehescheidung im Libanon erst durch die Vorlage der Entscheidung des Schariagerichts vor dem staatlichen Gericht begründet werde, knüpft dies an die nach dem oben Gesagten unzutreffende Weichenstellung an, dass das Schariagericht nur die Trennung der Eheleute feststelle und erst mit der Vorlage dieses Beschlusses beim staatlichen Gericht dort der Antrag gestellt werde, dass die Ehe aufgrund der Feststellung des Schariagerichts zu scheiden sei.

[9](3) ... Durch den Inhalt der aktenkundigen Übersetzungen einschl. des diesbezüglichen Kommentars des amtlich bestellten und vereidigten Dolmetschers N L vom 3.11.2016 sieht der Senat es als erwiesen an, dass das von der ASt. im Libanon vor dem Schariagericht geführte Verfahren auf eine – ohne weitere Scheidungsklage vor einem staatlichen libanesischen Gericht voll rechtswirksame – Scheidung der Ehe der Beteiligten abzielt und insoweit anderweitige Rechtshängigkeit gegenüber dem vorliegenden Scheidungsverfahren besteht.

[10]b) Normativer Ansatz für die Frage der anderweitigen Rechtshängigkeit sind insoweit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Libanon nicht die nur zwischen EU-Mitgliedstaaten geltenden Regelungen der Art. 29 ff. EuGVO, sondern die Art. 33, 34 LugÜ II bzw. § 261 III Nr. 1 ZPO analog (vgl. Zöller-Geimer aaO Anh I Art. 29 EuGVVO Rz. 18). In Anlehnung an die bereits bei innereuropäischen mitgliedstaatlichen Verfahrenskollisionen nach der Rspr. des EuGH weit ausgelegten rechtlichen Grundsätze ist nach Auffassung des Senats erst recht für die Frage der anderweitigen Rechtshängigkeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Libanon nicht allein auf den engen deutschen zweigliedrigen Streitgegenstandsbegriff aus identischem Sachantrag und diesem zugrunde liegenden tatsächlichen Lebenssachverhalt abzustellen (vgl. Zöller-Vollkommer aaO Einl Rz. 60 ff.). Vielmehr erscheint zur Beurteilung der zwischenstaatlichen anderweitigen Rechtshängigkeit – losgelöst von den nationalstaatlichen Prozessordnungen – ein einheitlicher, den Begriff des ‚prozessualen Anspruchs’ autonom auslegender weiter Verfahrensgegenstandsbegriff als geboten. Zur Vermeidung ansonsten zwischenstaatlicher unvereinbarer gerichtlicher Kollisionen ist demnach nicht allein – wie nach deutschem Zivilprozessrecht – auf den identischen Klageantrag und Lebenssachverhalt abzustellen, sondern darauf, ob bei wertender Betrachtung der ‚Kernpunkt’ beider Verfahren der Gleiche ist (vgl. insges. Zöller-Geimer aaO Rz. 4, 20).

[11]c) ... aa) Zwischen dem vorliegenden Verfahren und dem Verfahren im Libanon besteht Identität der Beteiligten – der antragstellenden Ehefrau und des Ehemannes als AGg.

[12]bb) Der Hauptsachantrag ist bei beiden Verfahren auf den Ausspruch der Scheidung der am 15.10.2009 vor dem Schariagericht geschlossenen Ehe der Beteiligten gerichtet ...

[13]dd) Des Weiteren ist auch der Ratio des zwischenstaatlichen Kollisionsrechts, nämlich Doppelprozesse und widersprüchliche Entscheidungen unterschiedlicher internationaler Gerichte über den im Wesentlichen gleichen Verfahrensgegenstand zu vermeiden (vgl. Zöller-Geimer aaO Rz. 2), erhebliche Bedeutung bei der Auslegung der doppelten Rechtshängigkeit beizumessen. Würde die vom FamG mit dem angefochtenen Beschl. vom 12.5.2016 ausgesprochene Ehescheidung der Beteiligten im Fall einer bestätigenden Entscheidung des Senats rechtskräftig, wären die auf den 9.9.2016 anberaumt gewesene und ggf. durchgeführte Verhandlung vor dem Schariagericht in J./Libanon über den dortigen Scheidungsantrag der ASt. und die dortige Gerichtsentscheidung – sei es eine etwaige den Scheidungsantrag zurückweisende Entscheidung oder die mittlerweile mit Schriftsatz vom 9.11.2016 behauptete Ehescheidung im Libanon – faktisch gegenstandslos, obwohl das Verfahren dort früher an- und rechtshängig geworden ist.

[14]ee) Zudem ist der Senat angesichts des gesamten Akteninhalts, insbes. der Anhängigkeit des Verfahrens im Libanon bereits am 21.4.2015 und der – die erfolgte Zustellung des Scheidungsantrags der ASt. an ihn indizierenden – Kenntnis des AGg. von dem dortigen Antrag schon bei Zustellung des vorliegenden Antrags (...) der Überzeugung, dass die vorliegend gemäß den §§ 113 I 2 FamFG, 253 I, 261 I ZPO am 1.12.2015 eingetretene Rechtshängigkeit zeitlich nach der Zustellung des libanesischen Scheidungsantrags an den AGg. erfolgt ist. Vor diesem Hintergrund hätte das FamG nicht über die Ehescheidung und den Versorgungsausgleich entscheiden dürfen, sondern hätte das vorliegende Verfahren bis zur Rechtskraft der Entscheidung über den früher rechtshängig gewordenen parallelen Scheidungsantrag im Libanon nicht betreiben dürfen und aussetzen müssen – selbst wenn es das Schariagericht für international unzuständig gehalten haben sollte (vgl. Zöller-Geimer aaO Rz. 12).

Fundstellen

Bericht

Streicher, FamRB, 2017, 164

LS und Gründe

NJW-RR, 2017, 326
NZFam, 2017, 211, m. Anm.Leipold
FamRZ, 2018, 51
IPRax, 2018, 263
IPRax, 2019, 263

nur Leitsatz

RNotZ, 2017, 339
FF, 2018, 86

Aufsatz

Andrae, IPRax, 2018, 243

Permalink

https://iprspr.mpipriv.de/2017-128

Lizenz

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