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Verfahrensgang

OLG Frankfurt/Main, Beschl. vom 21.09.2011 – 26 W 24/10, IPRspr 2012-259a
BGH, Beschl. vom 12.01.2012 – IX ZB 211/10, IPRspr 2012-259b
OLG Frankfurt/Main, Beschl. vom 12.01.2016 – 26 W 24/10, IPRspr 2016-282
BGH, Beschl. vom 13.10.2016 – IX ZB 9/16, IPRspr 2016-40

Rechtsgebiete

Vertragliche Schuldverhältnisse → Allgemeines Vertragsrecht
Anerkennung und Vollstreckung → Vermögensrechtliche Angelegenheiten

Leitsatz

Der Verbraucherbegriff des Art. 15 I EuGVO 2001 ist vom Gericht unter Beachtung der Systematik und der mit der Verordnung verfolgten Ziele autonom auszulegen.

Die Vorschrift betrifft den nicht berufs- oder gewerbebezogen handelnden privaten Endverbraucher. Lässt sich der Gegenstand eines Vertrags (hier: Erwerb eines finnischen Musterhauses im Rahmen einer künftigen Vertretertätigkeit) teilweise der beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit einer Vertragspartei zurechnen, handelt es sich – sofern nicht der beruflich-gewerbliche Zweck nur eine ganz untergeordnete Rolle spielt – nicht um eine Verbrauchersache im Sinne des Art. 15 I EuGVO 2001.

Eine zugunsten der (auch) beruflich-gewerblich handelnden Vertragspartei wirkende Zurechnung der Verbrauchereigenschaft einer nicht am Prozess beteiligten Mitverpflichteten (hier: Ehefrau) kommt nicht in Betracht. [LS der Redaktion]

Rechtsnormen

AEUV Art. 267
AVAG § 15
EUGVVO 44/2001 Art. 15; EUGVVO 44/2001 Art. 15 f.; EUGVVO 44/2001 Art. 15 ff.; EUGVVO 44/2001 Art. 16; EUGVVO 44/2001 Art. 35; EUGVVO 44/2001 Art. 44; EUGVVO 44/2001 Art. 45
EuGVÜ Art. 13
GG Art. 103
ZPO § 574

Sachverhalt

[Zu den vorgehenden Entscheidungen – OLG Frankfurt a.M. vom 21.9.2010 (26 W 24/10) und BGH vom 12.1.2012 (IX ZB 211/10) – siehe Band IPRspr. 2012 Nr. 259 a und b.]


Der AGg. wurde in Finnland durch Urteil des Landgerichts K. vom 14.3.2007 zur Zahlung an das finnische Unternehmen C. verurteilt. Das Landgericht nahm im Anschluss an die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs Finnlands vom 14.10.2005 seine internationale Zuständigkeit für die Klage des Unternehmens an, das unter Berufung auf einen am 18.2.2000 geschlossenen Vertrag über die Lieferung eines Holzhausbausatzes nach Deutschland vom AGg. Zahlung einer letzten Rate und Rückzahlung eines im Vertrag vorgesehenen Musterhausrabatts verlangt hatte. Die Parteien des finnischen Rechtsstreits hatten über die Einordnung des Vertrags als Verbrauchervertrag im Sinne des für den Rechtsstreit noch maßgeblichen EuGVÜ gestritten, weil der AGg. und C. am 18.2.2000 auch einen Agenturvertrag geschlossen hatten, aufgrund dessen der AGg. als Verkaufsvertreter für C. tätig werden sollte. Die ASt. begehrt die Vollstreckbarerklärung des Urteils unter Berufung auf eine zu ihren Gunsten erfolgte Abtretung der titulierten Ansprüche.

Mit Beschluss vom 23.4.2010 hat das LG die Entscheidung für vollstreckbar erklärt. Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde ist erfolglos geblieben. Mit Beschluss vom 12.1.2012 hat der Senat auf die Rechtsbeschwerde des AGg. den Beschluss des BeschwG aufgehoben und die Sache zurückverwiesen. Mit Beschluss vom 12.1.2016 hat das BeschwG nach Durchführung einer Beweisaufnahme die sofortige Beschwerde erneut zurückgewiesen. Mit seiner Rechtsbeschwerde verfolgt der AGg. den Antrag auf Abweisung des Antrags auf Vollstreckbarerklärung weiter.

Aus den Entscheidungsgründen:

[3] II. Die gemäß Art. 44 EuGVO, §§ 15 I AVAG, 574 I 1 Nr. 1 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist unzulässig. Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung und weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts (§ 574 II ZPO).

[4] 1. Das BeschwG hat u.a. ausgeführt: Die Vollstreckbarerklärung sei nicht nach Art. 45 I, 35 I EuGVO zu versagen. Die vor den finnischen Gerichten geltend gemachten Ansprüche seien keine Verbrauchersache im Sinne der Art. 15 ff. EuGVO. Auch wenn der Vertrag in erster Linie dem privaten Bereich des AGg. zuzuordnen sein möge, weil er der Schaffung von Wohnraum für seine Familie diene, habe der AGg. mit ihm aber auch einen für das Unternehmen erkennbaren gewerblichen Zweck verfolgt, welchem nach den Umständen bei einer Gesamtbetrachtung eine nicht nur ganz untergeordnete Bedeutung zukomme. Maßgebend sei, dass nach den der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs Finnlands zugrunde liegenden Tatsachenfeststellungen, die für das BeschwG unabhängig von den Darlegungen des AGg. im vorliegenden Verfahren gemäß Art. 35 II EuGVO bindend seien, ein enger Zusammenhang zwischen dem Vertrag über die Lieferung des Hauses und dem Agenturvertrag bestanden habe.

[5] 2. Die Rechtsbeschwerde zeigt nicht auf, dass ein Zulässigkeitsgrund nach § 574 II ZPO gegeben ist. Insbesondere hat das BeschwG bei seiner Entscheidung über die internationale Zuständigkeit der finnischen Gerichte das Grundrecht des AGg. auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 I GG) nicht dadurch verletzt, dass es dessen Vortrag unberücksichtigt gelassen hat ...

[6] a) Es spricht viel dafür, dass das BeschwG an der Berücksichtigung dieser Umstände gehindert war, weil Art. 35 II EuGVO eine Bindung des Zweitgerichts an die tatsächlichen Feststellungen des Erstgerichts anordnet, aufgrund deren dieses seine internationale Zuständigkeit angenommen hat.

[7] b) Dies kann im Streitfall aber dahinstehen. Beide Umstände wirken sich nicht dahingehend aus, dass der Vertrag über den Holzhausbausatz vom 18.2.2000 im Hinblick auf den AGg. als Verbrauchersache anzusehen und die Vollstreckbarerklärung der Entscheidung des LG vom 14.3.2007 wegen Verletzung der Vorschriften über die internationale Zuständigkeit in Verbrauchersachen gemäß Art. 45 I 1, 35 I, 15 I lit. c, 16 II EuGVO zu versagen gewesen wäre.

[8] aa) Der Verbraucherbegriff des Art. 15 I lit. c EuGVO ist unter Beachtung der Systematik und der mit der Verordnung verfolgten Ziele autonom auszulegen. Die vom EuGH für die Vorgängerregelung des Art. 13 I EuGVÜ aufgestellten Auslegungsgrundsätze gelten auch für die Auslegung des Art. 15 EuGVO (EuGH, Urt. vom 14.3.2013 – Cesk


{a} sporitelna ./. Gerald Feichter, Rs C-419/11, ECLI:EU:C: 2013:165 Rz. 28 und 31; vom 28.1.2015 – Harald Kolassa ./. Barclays Bank, Rs C-375/13, NJW 2015, 1581 Rz. 21). Danach betreffen beide Vorschriften den nicht berufs- oder gewerbebezogen handelnden privaten Endverbraucher. Erfasst sind deshalb nur Verträge, die eine Einzelperson zur Deckung ihres Eigenbedarfs beim privaten Verbrauch schließt und die keinen Bezug zu einer gegenwärtigen oder zukünftigen beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit dieser Person haben ... Die Einordnung des Vertrags obliegt dem angerufenen Gericht und ist aufgrund einer Gesamtbewertung vorzunehmen, in die Inhalt, Art und Zweck des Vertrags sowie die objektiven Umstände bei Vertragsschluss einzubeziehen sind ... Ist der Gegenstand des Vertrags für einen Zweck bestimmt, der sich teilweise der beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit der betreffenden Person zurechnen lässt, greift der besondere Schutz der Art. 15 ff EuGVO unabhängig von der Gewichtung zwischen privatem und beruflich-gewerblichem Zweck nicht ein, solange der beruflich-gewerbliche Zweck nicht derart nebensächlich ist, dass er im Gesamtzusammenhang des betreffenden Geschäfts nur eine ganz untergeordnete Rolle spielt (für Art. 13 EuGVÜ EuGH, Urt. vom 20.1.2005 – Johann Gruber ./. BayWa AG, Rs C-464/01, Slg. 2005 I-439 Rz. 39 ff.).

[9] bb) Das BeschwG hat in Anwendung dieser Grundsätze v.a. die beabsichtigte Nutzung des mit dem Vertrag erworbenen Holzhauses als Musterhaus im Rahmen der künftigen Vertretertätigkeit des AGg., die vorgesehene Nutzung eines Raums für diese Tätigkeit sowie die zeitgleiche Verhandlung und Unterzeichnung beider Verträge als ausschlaggebend dafür angesehen, dass der AGg. mit dem Erwerb auch eine beruflich-gewerbliche Zweckrichtung verfolgte, die mehr als nur untergeordnete Bedeutung hat. Dies ist zulassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

[10] cc) Den von der Rechtsbeschwerde angesprochenen Umstand, dass im Vertragsformular ein Musterhausrabatt vorgesehen war, hat das BeschwG in diese Bewertung nicht einbezogen. Deshalb wirkt es sich nicht zum Nachteil des AGg. aus, wenn das BeschwG – wie die Rechtsbeschwerde rügt – den Vortrag des AGg. zu einer tatsächlich nicht erfolgten Rabattgewährung nicht berücksichtigt hat, weil dieser Vortrag nur etwaige nachteilige Wirkungen des genannten Umstands ausräumen sollte. Die Rechtsbeschwerde zeigt nicht auf, dass eine Berücksichtigung dieses Vortrags die Bewertung des BeschwG zugunsten des AGg. hätte beeinflussen können.

[11] dd) Der vom BeschwG ebenfalls nicht berücksichtigte weitere Umstand, dass auch die Ehefrau des AGg. Partei des Vertrags über das Holzhaus ist, führt nicht dazu, dass der Vertrag in dem Rechtsstreit zwischen dem AGg. und dem Unternehmer als Verbrauchervertrag im Sinne der Art. 15 ff. EuGVO einzuordnen wäre.

[12] (1) Die besondere – ausschließliche – Zuständigkeitsregelung des Art. 16 EuGVO in Verbrauchersachen soll nach ihrer Zielrichtung dem Verbraucher einen besonderen Schutz verschaffen, indem sie ihm die Führung des Rechtsstreits mit dem Unternehmer vor den Gerichten seines Wohnsitzorts ermöglicht (Art. 16 I EuGVO) und sichert (Art. 16 II EuGVO; vgl. Erwgr. 13 und EuGH, Urt. vom 3.7.1997 aaO Rz. 13 f.). Diese Ausnahmeregelung wird mit der Erwägung gerechtfertigt, dass der Verbraucher gegenüber dem beruflich oder gewerblich handelnden Vertragspartner als wirtschaftlich schwächer und rechtlich weniger erfahren anzusehen ist (EuGH, Urt. vom 20.1.2005 aaO Rz. 34 m.w.N.). Zugleich hat der EuGH stets betont, dass der Verbraucherbegriff wegen des Ausnahmecharakters der besonderen Schutzregelung eng auszulegen ist und nicht auf Personen ausgedehnt werden darf, die dieses Schutzes nicht bedürfen (EuGH, Urt. vom 14.3.2013 aaO Rz. 33; vom 28.1.2015 aaO Rz. 28). Deshalb ist es nicht gerechtfertigt, einem Beklagten, der von einem Unternehmer aus einem auch beruflich-gewerblichen Zwecken dienenden Vertrag gerichtlich in Anspruch genommen wird und der insoweit nach der Rspr. als auf gleicher Stufe mit dem Unternehmer stehend zu gelten hat (vgl. EuGH, Urt. vom 20.1.2005 aaO Rz. 40), die Berufung auf die Zuständigkeitsregelung in Verbrauchersachen nur deshalb zu ermöglichen, weil aus dem Vertrag auch eine nicht am Prozess beteiligte weitere Person als Vertragspartner verpflichtet und berechtigt ist, die bei Vertragsschluss ihrerseits nicht berufs- oder gewerbebezogen gehandelt hat. Die Einbindung eines Verbrauchers in den Vertrag macht den auch beruflich-gewerblich handelnden Vertragspartner des Unternehmers im Hinblick auf seine gerichtliche Inanspruchnahme nicht schutzbedürftig. Eine zu seinen Gunsten wirkende Zurechnung der Verbrauchereigenschaft des nicht am Prozess beteiligten Mitverpflichteten ist nicht gerechtfertigt.

[13] (2) Dieses Auslegungsergebnis steht im Einklang mit der Systematik der EuGVO. Nach dem Willen des Verordnungsgebers sollen die Zuständigkeitsvorschriften der EuGVO in hohem Maße vorhersehbar sein (Erwgr. 11 Satz 1). Um dieses Regelungsziel zu gewährleisten, legt die Verordnung selbst die Anknüpfungskriterien genau fest (vgl. Erwgr. 11 Satz 1 und 2) und stellt hierbei, weil es um die Bestimmung der Zuständigkeit für ein konkretes Prozessrechtsverhältnis geht, auf die Person der Prozessparteien oder auf den Gegenstand dieses Prozessrechtsverhältnisses ab, wie etwa auf den (Wohn-)Sitz der Parteien, auf den betreffenden Streitgegenstand, auf etwaige Vereinbarungen der am Prozess beteiligten Parteien über die Zuständigkeit, auf eine enge Verbindung zwischen dem Gericht und dem konkreten Rechtsstreit oder auf das Interesse an einer geordneten Rechtspflege (vgl. Erwgr. 11 f.). Diese Regelungssystematik legt es nahe, auch für die Zweckbestimmung des Vertrags im Sinne des Art. 15 I EuGVO nur auf die am Prozessverhältnis beteiligten Personen abzustellen. Wäre hingegen der herangezogene Umstand zu berücksichtigen, dass ein zwischen den Prozessparteien bestehender Vertrag als Gegenstand des Verfahrens zugleich auch materiell-rechtliche Bedeutung für eine nicht am Prozess beteiligte Person haben kann, liefe dies der Vorhersehbarkeit der Zuständigkeitsvorschriften zuwider.

[14] (3) Die Notwendigkeit einer Auslegung der Art. 15 I lit. c, 16 II EuGVO verpflichtet den Senat nicht zu einer Vorlage an den EuGH gemäß Art. 267 I Nr. 2, III AEUV. Die Auslegungsfrage ist zwar noch nicht Gegenstand einer Entscheidung des Gerichtshofs gewesen. Eine Vorlage kann jedoch unterbleiben, wenn die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel kein Raum bleibt. [...] Die Auslegung der Art. 15 I lit. c, 16 II EuGVO mit dem vorstehend genannten Ergebnis ist im Sinne dieser Grundsätze nicht zweifelhaft. Der Senat ist ferner davon überzeugt, dass die gleiche Gewissheit auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und für den EuGH besteht.

Fundstellen

Aufsatz

Köhler, IPRax, 2017, 570

LS und Gründe

IPRax, 2017, 617

Permalink

https://iprspr.mpipriv.de/2016-40

Lizenz

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